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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 23.02.2001
Aktenzeichen: 1 BvR 4/01
Rechtsgebiete: ArbGG, BVerfGG, GG


Vorschriften:

ArbGG §§ 80 ff.
BVerfGG § 93 b
BVerfGG § 93 a
BVerfGG § 93 a Abs. 2
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe a
BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 92
BVerfGG § 93 d Abs. 1 Satz 3
GG Art. 9 Abs. 3
GG Art. 20 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 4/01 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

der C...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Klaus Hümmerich und Koll., Lievelingsweg 125, 53119 Bonn -

gegen

a) den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 6. Juni 2000 - 1 ABR 21/99 -,

b) den Zwischen-Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 19. Februar 1998 - 15 BV 250/96 -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Bryde gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 23. Februar 2001 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

I.

1. Im Rahmen eines Beschlussverfahrens nach den §§ 80 ff. ArbGG stellte ein Arbeitsgericht 1972 die Gewerkschaftseigenschaft der Beschwerdeführerin fest. Sie erfülle alle dafür erforderlichen Voraussetzungen. Dazu gehöre aber nicht das Kriterium einer gewissen Durchsetzungskraft oder Verbandsstärke. Dieses werde zwar von der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gefordert. Das damals erkennende Arbeitsgericht lehnte dies aber als Beurteilungsmaßstab ausdrücklich ab. Dieser Beschluss wurde rechtskräftig. Im Jahr 1996 beantragte die Industriegewerkschaft Metall (künftig: IG Metall), die auch schon bei dem vorangegangenen Verfahren beteiligt war, festzustellen, dass die Beschwerdeführerin keine Gewerkschaft im arbeitsrechtlichen Sinne sei. Dem war der Abschluss eines Vergütungstarifvertrages durch die Beschwerdeführerin vorausgegangen, über den ursprünglich die IG Metall ergebnislos mit dem entsprechenden Arbeitgeberverband verhandelt hatte.

2. Im Rahmen eines Zwischenbeschlusses erklärte das Arbeitsgericht den Antrag der IG Metall für zulässig. Ihm stehe nicht die Rechtskraft des Beschlusses aus dem Jahre 1972 entgegen, da sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert hätten. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin änderte das Landesarbeitsgericht den Beschluss des Arbeitsgerichts ab und wies den Antrag der IG Metall zurück. Er sei unzulässig, da ihm die Rechtskraft des Beschlusses aus dem Jahre 1972 entgegenstehe. Die für die Frage der Gewerkschaftseigenschaft maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert. Auf die Rechtsbeschwerde der IG Metall hob das Bundesarbeitsgericht den Beschluss des Landesarbeitsgerichts auf und wies die Beschwerde gegen den Zwischenbeschluss des Arbeitsgerichts zurück. Dem Antrag der IG Metall stehe die Rechtskraft des Beschlusses von 1972 nicht entgegen. Zwar sei mit dem Landesarbeitsgericht davon auszugehen, dass sich die maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert hätten. Anderes gelte aber hinsichtlich der maßgeblichen rechtlichen Verhältnisse. Die Wirkung der materiellen Rechtskraft des Beschlusses von 1972 sei durch die Änderung der rechtlichen Grundlagen zur Beurteilung der Gewerkschaftseigenschaft im Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 und dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze, A III Nr. 2, in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestages vom 25. Juni 1990 (BGBl II S. 518) weggefallen. In dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze werde für die Gewerkschaftseigenschaft eine gewisse Mächtigkeit und Durchsetzungsfähigkeit gefordert. Dies bestätige inhaltlich zwar im Wesentlichen nur die von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelten Kriterien. Formal sei damit aber eine andere Qualität der Prüfungskriterien erreicht, da sie durch das Zustimmungsgesetz des Bundestages in den Willen des Gesetzgebers aufgenommen worden seien und nicht mehr nur für andere Gerichte unverbindliches Richterrecht darstellten.

3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG und gegen Art. 20 Abs. 3 GG durch den Zwischenbeschluss des Arbeitsgerichts und den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts. Es sei nicht zulässig, einen Wegfall der Rechtskraft des Beschlusses von 1972 aufgrund einer lediglich bestätigenden Äußerung des Gesetzgebers anzunehmen.

II.

Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne von § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind (BVerfGE 90, 22 <24>). Dies betrifft insbesondere Fragen zu Art. 9 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 18, 18 <27 f.>; 57, 29 <37>; 58, 233 <248>; 64, 208 <213>; 84, 212 <224 f., 229>; 92, 365 <394 ff.>; 93, 352 <357 ff.>; 100, 214 <223>), und auch solche hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfGE 3, 225 <237 f.>; 7, 89 <92>; 15, 313 <319 f.>; 47, 146 <161>; 53, 115 <127 f.>; 70, 297 <308 f.>).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

a) Soweit mit der Verfassungsbeschwerde der Zwischenbeschluss des Arbeitsgerichts angegriffen wird, ist sie mangels hinreichender Substantiierung im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG unzulässig. Es fehlt jede inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Zwischenbeschluss. Eine solche findet nur mit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts statt, der aber gerade anders als die arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht auf eine wesentliche Änderung der tatsächlichen, sondern der rechtlichen Verhältnisse abstellt.

b) Ferner ist kein Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG anzunehmen. Insoweit ist durch die angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts schon der Schutzbereich der Norm nicht berührt. Der Beschwerdeführerin bleibt es trotz des vom Bundesarbeitsgericht verneinten Fortbestehens der Rechtskraftwirkung der Entscheidung von 1972 unbenommen, die aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Rechte wahrzunehmen. Durch die Entscheidung über die Rechtskraft des Beschlusses von 1972 wird der Bestand der Beschwerdeführerin oder ihre Betätigungsmöglichkeit nicht in Frage gestellt. Allein die Gefahr, dass in einem nunmehr möglichen neuen Verfahren festgestellt wird, dass die Koalition die arbeitsrechtlichen Anforderungen des Gewerkschaftsbegriffs nicht (mehr) erfüllt, stellt keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin dar. Soweit die Beschwerdeführerin vorträgt, durch die Aberkennung der Rechtskraft des alten feststellenden Beschlusses verliere sie den durch diese Entscheidung vermittelten Schutz hinsichtlich der Frage ihrer Gewerkschaftseigenschaft, betrifft dies nicht den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG, sondern das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Rechtssicherheit. Dass es potentiellen Gegenspielern der Beschwerdeführerin nunmehr wieder prozessual möglich ist, deren Gewerkschaftseigenschaft anzuzweifeln, ist ein Umstand, vor dem Art. 9 Abs. 3 GG nicht schützt.

c) Auch ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht zu erkennen.

aa) Allerdings ist die Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ein Element der Rechtssicherheit, die ebenso wie die materielle Gerechtigkeit wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist (vgl. BVerfGE 7, 194 <196>). Funktion der Rechtskraft ist es, durch die Maßgeblichkeit und Beständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß dieser Rechtslage auszurichten (vgl. BVerfGE 47, 146 <161>). Das Prinzip der Rechtssicherheit kann mit der Forderung nach materieller Gerechtigkeit in Widerstreit liegen, wobei es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, einen solchen Widerstreit nach der einen oder anderen Seite zu entscheiden. Geschieht dies ohne Willkür, ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfGE 3, 225 <237 f.>; vgl. auch BVerfGE 15, 313 <319 f.>). Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen und sonstiger in Rechtskraft erwachsener Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 15, 313 <319>).

Der Gesetzgeber hat Fragen der Rechtskraft meist nur punktuell angesprochen (vgl. §§ 322, 705 ZPO). Gerade die Frage der Reichweite der Rechtskraft und ihrer Grenzen hat der Gesetzgeber für den hier interessierenden Bereich nicht geregelt, sondern im Ergebnis der Rechtsprechung und Lehre zur Lösung überlassen. Damit ist die Bestimmung der Grenzen der Rechtskraft in erster Linie ein einfachrechtliches Problem, zu dessen Klärung gerade auch die obersten Gerichte des Bundes aufgerufen sind. Eine von ihnen gefundene Lösung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die aus dem Prinzip der Rechtssicherheit sich ergebenden Grenzen - die ihrerseits mit dem auch aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 <92>; 21, 378 <388>; 95, 96 <130>) und der Rechtsweggarantie (vgl. BVerfGE 53, 115 <127>; 54, 277 <291>; 101, 275 <294 f.>) in Einklang zu bringen sind - ausreichend Beachtung gefunden haben. Die Auslegung einfachen Rechts ist so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen, wie nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Eine Grundrechtswidrigkeit liegt noch nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den hierzu zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über das sich streiten lässt (stRspr; BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 91, 346 <366>).

bb) Nach diesem Maßstab kann in der angegriffenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip gesehen werden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu beurteilen, ob das Bundesarbeitsgericht insoweit die überzeugendste Lösung dieser Frage gefunden hat. Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit diesem Problem jedenfalls in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auseinander gesetzt und unter Berücksichtigung des hohen Rangs der Rechtssicherheit ein nachvollziehbar begründetes Ergebnis gefunden, welches unter dem Gesichtspunkt des Art. 20 Abs. 3 GG umso weniger zu beanstanden ist, als das Rechtsstaatsprinzip neben dem Gebot der Rechtssicherheit auch noch andere Elemente enthält.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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