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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 23.08.2006
Aktenzeichen: 1 BvR 476/04
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 6 Abs. 2
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 476/04 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 19. Dezember 2003 - 11 UF 373/02 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 23. August 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 19. Dezember 2003 - 11 UF 373/02 - wurde der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt. Die Kostenentscheidung dieses Beschlusses wird aufgehoben und das Verfahren insoweit zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt (§ 61 Abs. 1 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO).

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Verbleibensanordnung für seine Tochter.

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und Vater einer 1992 geborenen Tochter. Er lebt in Afghanistan, etwa eine Tagesreise von Kabul entfernt. Das Kind wurde im September 1999 auf Vermittlung des Hammer Forum e.V., einer humanitären ärztlichen Vereinigung, wegen einer Verletzung und Folgeerkrankungen zu Behandlungszwecken nach Deutschland geflogen und befand sich von Januar 2000 bis zum 20. Februar 2005 in der Obhut von Gasteltern. Seit dem 21. Februar 2005 ist das Kind in der Obhut des Jugendamts.

a) Mit Beschluss vom 28. September 1999 ordnete das Amtsgericht Hamm gemäß § 1674 BGB das Ruhen der elterlichen Sorge der Kindeseltern an und bestellte den Hammer Forum e.V. zum Vormund der Tochter.

b) Auf Antrag der Gasteltern ordnete das Amtsgericht Sonneberg mit Beschluss vom 10. April 2002 ohne Anhörung der Beteiligten an, dass das Kind vorläufig bei den Gasteltern verbleibe. Anschließend gab es das Verfahren an das Amtsgericht Hamm ab.

c) Mit Beschluss vom 10. Oktober 2002 wies das Amtsgericht Hamm den Antrag der Gasteltern auf Erlass einer Verbleibensanordnung zurück. Zwar sei die Tochter in vollem Umfang in die Familie der Pflegeeltern integriert. Sie besuche die Schule, spreche akzentfrei und richtig Deutsch. Erinnerungen an Afghanistan würden nicht wach gehalten. Das Kind habe keine Rückkehrwünsche nach Afghanistan geäußert. Indes habe sich der Beschwerdeführer während der Zeit bis April 2002 dreimal in dem für die Behandlung des Kindes ursprünglich zuständigen Kabuler Krankenhaus nach seiner Tochter erkundigt und dazu eine beschwerliche Reise auf sich genommen. Eine Verbleibensanordnung sei abzulehnen, da eine Gefährdung des Kindes bei einer Herausgabe nicht erkennbar sei, wenn die Tochter zu ihrer Ursprungsfamilie zurückkehren sollte. Einzelne Gefechtshandlungen in Afghanistan änderten nichts an dem Recht des Kindes, in seiner Ursprungsfamilie aufzuwachsen. Eine Herausnahme zur Unzeit liege nicht vor, da der Hammer Forum e.V. den Gasteltern ausreichend Zeit lasse, die Tochter auf die Rückkehr nach Afghanistan vorzubereiten. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kindeseltern ein das Kindeswohl gefährdendes Verhalten zeigten. Sie hätten sich um das Kind gekümmert und die für es bestmögliche Behandlungsmethode gewählt.

d) Mit - angegriffenem - Beschluss vom 19. Dezember 2003 ordnete das Oberlandesgericht Hamm nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Kindeseltern, des Kindes, des Vorsitzenden des Hammer Forum e.V., der Gastmutter, des Vormunds und der Sachverständigen an, dass die Tochter bis zum 31. Dezember 2006 in der Familienpflege der Pflegeeltern verbleibe. Mit zumindest konkludenter Billigung des sorgeberechtigten Vormunds sei eine dauerhafte Unterbringung des Kindes in der Familie der Gasteltern erfolgt. Sie sei damit einer Familienpflege nach § 1632 Abs. 4 BGB gleichzusetzen. Das über Jahre hinweg bestehende Pflegeverhältnis habe sich zu einer einem Eltern-Kind-Verhältnis entsprechenden Beziehung entwickelt. Deshalb führe der Versuch des Sorgeberechtigten, das Kind zur Unzeit unvermittelt aus dem Pflegeverhältnis und der gewohnten Umgebung herauszunehmen, um es in die dem Kind entfremdete eigene Familie zurückzuführen, zu einer Kindeswohlgefährdung. Den fundiert begründeten und in seinen Aussagen überzeugenden Feststellungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen zufolge würde eine Herausnahme des Kindes aus der Gastfamilie in der Absicht seiner Rückführung in die Herkunftsfamilie das Kind auf absehbare Zeit in eine psychologische Belastungssituation bringen, die es völlig überfordern und der ernsthaften Gefahr weit reichender psychischer Schäden aussetzen würde. Das Kind "ruhe" vor dem Hintergrund einer gemeinsam erlebten und durchlittenen Extremsituation im Zuge seiner langwierigen Krankenhausbehandlung mit vielfachen Operationen und schmerzhaften Behandlungen seiner Beinverletzung in einer sicheren sozialen Beziehung zu den Gasteltern, zu deren Familie es sich inzwischen zähle. Gerade diese Beziehung habe dem Kind in der Vergangenheit den nötigen Rückhalt und die Unterstützung gegeben, um sich mit den veränderten Lebensbedingungen in Deutschland zurechtzufinden und sich zu der stark bindungsorientierten, gefühlsoffenen und flexiblen Persönlichkeit zu entwickeln, als die es sich heute präsentiere. Sei die Umstellung von den afghanischen auf die deutschen Lebensverhältnisse ein erster Kulturschock gewesen, so würde die beabsichtigte Rückführung des Kindes nach Afghanistan in seine Herkunftsfamilie den Feststellungen der Sachverständigen zufolge zu einem weiteren, für das Kind ungleich belastenderen und in seinen Auswirkungen derzeit kaum abzuschätzenden Kulturschock führen. Dabei sei von einem guten Verlauf des bisherigen Heilungsprozesses auszugehen. Auch die Überlegungen der Sachverständigen zu den voraussichtlich eher mäßigen oder gar schlechten Zukunftsperspektiven des Kindes in seinem Herkunftsland erschienen vordergründig zwar wenig entscheidungsrelevant, bedeuteten für das Kind jedoch eine zusätzliche Belastung, die zu einer weiteren Traumatisierung führen kann.

Die hiergegen gerichtete Gegenvorstellung des Beschwerdeführers blieb erfolglos.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Kindeseltern seien in dem familiengerichtlichen Verfahren anwaltlich nicht vertreten gewesen. Der Aufenthalt des Kindes in Deutschland sei von vornherein einzig und allein zum Zweck der medizinischen Behandlung erfolgt. Das Kind sei ohne Zustimmung des Vormunds spätestens seit Januar 2000 in den Haushalt der Gasteltern aufgenommen worden. Der Vormund habe erst im März 2001 Kenntnis davon erhalten, dass die Gasteltern das Kind betreuten. Ob dieser Betreuung widersprochen worden sei, sei dem Beschwerdeführer nicht bekannt. Jedenfalls habe der Vormund die Notwendigkeit einer weiteren medizinischen Behandlung in einer speziellen Klinik in Bochum klären lassen wollen, was von der Gastfamilie verweigert worden sei. Noch bei ihrer Anhörung vor dem Amtsgericht Sonneberg vom 22. August 2002 habe die Tochter des Beschwerdeführers über ihr Leben in Afghanistan berichtet, dass sie dort gut gelebt habe. Der lapidare Hinweis des Oberlandesgerichts, dass die Verbleibensanordnung den leiblichen Eltern des Kindes ein außergewöhnliches Opfer abverlange, werde dem hohen Rang des Elternrechts und dem Recht des Kindes, mit seiner eigenen Familie zusammenleben zu dürfen und mit ihr aufzuwachsen, nicht gerecht. Das Oberlandesgericht habe auch nicht die nach Art. 6 Abs. 2 GG erforderlichen Ermittlungen vorgenommen. Angesichts der Chronologie der Ereignisse hätte es sich förmlich aufgedrängt, die Kindeseltern zu der persönlichen Perspektive des Kindes in Afghanistan und den Lebensverhältnissen ihrer Herkunftsfamilie zu befragen, was nicht geschehen sei. Im Rahmen der Aufklärungspflicht hätte es sich auch aufgedrängt, das gerichtlich bestellte Gutachten zu erweitern oder aber den Umgang zwischen Eltern und Tochter durch die Gutachterin zu begleiten, zumal die Kindeseltern sich - wie vom Vormund angekündigt - schon mehrere Tage vor dem Termin der mündlichen Verhandlung in Deutschland befunden hätten. Das Gutachten weise erhebliche Mängel auf und sei auch deshalb ungeeignet, weil es sich bezüglich der Lebensverhältnisse des Kindes in Afghanistan offensichtlich auf ein von Vorurteilen geprägtes Bild stütze. Das Gutachten sei parteilich, weil es ignoriere, dass die Kindeseltern bisher alles getan hätten, um eine medizinische Versorgung des Kindes zu gewährleisten. Auch dies sei vom Oberlandesgericht nicht hinterfragt worden. Bei Ankunft des Kindes in Deutschland sei gegenüber dem behandelnden Chefarzt eine schriftliche Vereinbarung abverlangt worden, die etwaige regelmäßige Kontakte des Kindes zu Dritten unter Vorbehalt der Genehmigung des Vormunds gestellt habe und überdies die Rücküberführung des Kindes nach vollzogener medizinischer Behandlung vorgesehen habe. Ein Treffen der Kindeseltern mit dem Kind am 24. Januar 2004 sei zufrieden stellend verlaufen. Beim folgenden Treffen hingegen sei das Kind bedrückt gewesen. Auch eine Einladung an das Kind, ein Fest des afghanischen Kulturvereins zu besuchen, um so wieder Kontakt mit der afghanischen Kultur aufzunehmen, sei unbeantwortet geblieben. Dies weise darauf hin, dass die Pflegeeltern einzig und allein das Interesse hätten, das Kind für immer an sich zu binden.

3. Mit Beschluss vom 1. Februar 2006 hob das Amtsgericht Hamm die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung nach Einholung dreier Sachverständigengutachten auf, entzog dem Beschwerdeführer die elterliche Sorge für das Kind und übertrug diese einem neuen Vormund. Das Gericht ordnete an, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes bis zu seinem 18. Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland bestehe. Derzeit läuft beim Oberlandesgericht Hamm das Beschwerdeverfahren.

4. Den Anhörungsberechtigten wurde gemäß § 94 BVerfGG Gelegenheit zur Stellungnahme - auch zum Gegenstandswert - gegeben.

Sowohl der neu bestellte als auch der vorherige Vormund des Kindes haben unter Bezugnahme auf den sorgerechtlichen Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 die Auffassung vertreten, die Verfassungsbeschwerde sei erledigt. Hiergegen hat der Beschwerdeführer eingewendet, die Situation der Kindeseltern habe sich durch den Sorgerechtsentzug noch weiter verschlechtert.

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat vorgetragen, derzeit sei aus ausländerrechtlicher Sicht nicht ersichtlich, auf welcher Rechtsgrundlage der weitere Aufenthalt des Kindes nach Vollendung des 18. Lebensjahres weiter gesichert werden könnte.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist trotz der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung durch Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 1. Februar 2006 zulässig, weil der Beschwerdeführer weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis hat. Denn der gerügte Grundrechtseingriff wiegt vorliegend besonders schwer (vgl. BVerfGE 104, 220 <232 f.>; 105, 239 <246>) und es besteht eine relevante Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs (vgl. BVerfGE 91, 125 <133>; 103, 44 <58>).

2. Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geboten ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Durchsetzungsannahme setzt voraus, dass die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung unter anderem dann, wenn sie wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>).

Das ist vorliegend der Fall. Von der angegriffenen Entscheidung geht eine abschreckende Wirkung (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. April 1999 - 1 BvR 1498/92 -, JURIS; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. August 2003 - 1 BvR 2194/02 -, BVerfGK 1, 343 <348>) aus. Hätte die angegriffene Entscheidung Bestand, so könnten Dritte vom Gebrauch ihres Elternrechts abgehalten werden. Es stünde zu besorgen, dass im Ausland lebende Eltern ihre Kinder jedenfalls deutlich seltener im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen zu Behandlungszwecken nach Deutschland einreisen lassen, weil sie befürchten müssten, dass ihnen ihr Kind selbst bei verantwortungsvollem eigenen Erziehungsverhalten entzogen wird.

3. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet, weil die angefochtene fachgerichtliche Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

a) Grundsätzlich ist im Rahmen der Prüfung der Verletzung eines Grundrechts die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereiches beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92>; 42, 143 <147 ff.>; 49, 304 <314>; 72, 122 <138>). Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeit des Bundesverfassungsgerichts aber nicht starr und gleich bleibend ziehen. Sie hängt namentlich von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab (vgl. BVerfGE 42, 163 <168>; 72, 122 <138>).

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die Verantwortung der Eltern gelegt, wobei dieses "natürliche Recht" den Eltern nicht vom Staate verliehen worden ist, sondern von diesem als vorgegebenes Recht anerkannt wird. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (vgl. BVerfGE 60, 79 <88>). Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet (vgl. BVerfGE 34, 165 <184>). In der Beziehung zum Kind muss das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein (vgl. BVerfGE 60, 79 <88> m.w.N.).

Eine gerichtliche Entscheidung, nach der die Trennung des Kindes von seinen Eltern fortdauern kann, ist mit dem in Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG gewährleisteten Elternrecht nur dann vereinbar, wenn ein schwerwiegendes - auch unverschuldetes - Fehlverhalten und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vorliegen. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramtes (vgl. BVerfGE 7, 320 <323>; 59, 360 <376>), jene von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; 60, 79 <91>). Das elterliche Fehlverhalten muss daher ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>).

Die Aufrechterhaltung der Trennung eines Kindes von seinen Eltern darf zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>). Dieser gebietet die Ausrichtung der Art und des Ausmaßes des staatlichen Eingriffs am Grad des Versagens der Eltern und daran, was im Interesse der Kinder geboten ist. Der Staat muss nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl. BVerfGE 60, 79 <93> m.w.N.).

In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht befunden, dass der Gesetzgeber mit § 1666 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1666 a BGB eine Regelung geschaffen hat, um bei Maßnahmen zum Schutze des Kindes auch dem grundgesetzlich verbürgten Elternrecht hinreichend Rechnung tragen zu können (vgl. BVerfGE 60, 79 <90>).

Bei Weggabe eines Kindes in eine Familienpflege kann allerdings ausnahmsweise allein aufgrund der Dauer eines solchen Pflegeverhältnisses auch ohne die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB getroffen werden, wenn bei Herausgabe des Kindes an seine Eltern eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens des Kindes zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 68, 176 <191 f.>). Auch wenn die Trennung von seiner unmittelbaren Bezugsperson für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>), darf dies allerdings allein nicht genügen, um die Herausgabe des Kindes an seine Eltern zu verweigern, weil andernfalls die Zusammenführung von Kind und Eltern immer dann ausgeschlossen wäre, wenn das Kind seine "sozialen Eltern" gefunden hätte (vgl. BVerfGE 75, 201 <219 f.>; BVerfGK 2, 144 <146>).

Aufgrund der Eingriffsintensität der Trennung eines Kindes von seinen Eltern müssen die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3, die auch Pflegeeltern zugute kommen können, im Verhältnis zu dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gesehen werden. Bei Pflegekindschaftsverhältnissen hat die Trennung des Kindes von der Pflegefamilie geringeres Gewicht. Diese sind institutionell auf Zeit angelegt, so dass bei einer Herausnahme des Pflegekindes aus der Familie der Pflegeeltern diesen grundsätzlich zuzumuten ist, den mit der Trennung verbundenen Verlust zu ertragen. Ein Verstoß gegen die Grundrechte der Pflegeeltern aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 GG wird nur in Ausnahmefällen angenommen werden können, wenn etwa Pflegeeltern während einer jahrelangen Dauerpflege das Kind betreut haben oder andere ins Gewicht fallende Umstände von Verfassungs wegen eine Auflösung der Pflegefamilie mit der damit verbundenen Trennung des Pflegekindes von den Pflegeeltern verbieten (vgl. BVerfGE 79, 51 <60>).

Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch weitgehend die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts. Das gerichtliche Verfahren muss daher in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>) und damit der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. BVerfGE 84, 34 <49>). Die Gerichte müssen sich daher im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. Februar 1993 - 1 BvR 692/92 -, NJW 1993, S. 2671).

Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalles auseinandersetzen, die Interessen der Inhaber des Elternrechts sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. BVerfGE 31, 194 <210>).

Wird ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen getrennt, so ist dies der stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der in gleicher Intensität auch das Kind selbst betrifft. Bei dieser Sachlage können auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 72, 122 <138>; 75, 201 <222>).

b) An diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben gemessen ist festzustellen, dass der angegriffene Beschluss verfassungswidrig gewesen ist. Das Oberlandesgericht hat die Bedeutung des Elternrechts des Beschwerdeführers im Rahmen seiner Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB und bei seiner Gestaltung des Verfahrens grundlegend verkannt.

aa) Schon die Annahme des Oberlandesgerichts, das Kind sei "mit zumindest konkludenter Billigung" des sorgeberechtigten Hammer Forum e.V. dauerhaft bei der Gastfamilie untergebracht worden, weshalb die Unterbringung einer Familienpflege nach § 1632 Abs. 4 BGB gleichzustellen sei, hält verfassungsgerichtlicher Prüfung nicht stand.

Diese Auslegung des Begriffs der Familienpflege lässt eine Auseinandersetzung damit vermissen, dass die Kindeseltern das Kind erkennbar nur zu dem Zweck der Heilbehandlung in die Obhut des Hammer Forum e.V. - und nicht in die der Gastfamilie - gegeben haben. Die Gasteltern hätten bereits für eine regelmäßige Kontaktaufnahme zu dem Kind gemäß einer Vereinbarung des Hammer Forum e.V. mit der behandelnden Klinik einer schriftlichen Ermächtigung des Hammer Forum e.V. bedurft, die zu keiner Zeit vorlag. Diese Vereinbarung war den Gasteltern auch bekannt; der Gastvater hat sie selbst seinem Antrag auf Erlass einer Verbleibensanordnung beigefügt. Trotzdem haben die Gasteltern das Kind einfach zu sich genommen. Es ist nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht die Auswirkungen der Vereinbarung in seine Erwägungen eingestellt hat.

Im selben Zusammenhang hat das Oberlandesgericht die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB bejaht, weil der "Sorgeberechtigte das Kind [...] zunächst zumindest de facto anderen zur Pflege anvertraut" habe, sich "ein solches über Jahre bestehendes Pflegeverhältnis zu einer einem Eltern-Kind-Verhältnis entsprechenden Beziehung entwickelt und der Sorgeberechtigte dann versucht" habe, "das Kind zur Unzeit unvermittelt aus dem Pflegeverhältnis und der gewohnten Umgebung herauszunehmen, um es in die dem Kind entfremdete eigene Familie zurückzuführen". Eine solche Herausnahme aus den gewachsenen Beziehungen und Bindungen bringe "im Normalfall eine erhebliche psychische Belastung für das Kind mit sich".

Aus dieser Begründung erhellt sich nicht, dass sich das Gericht in Bezug auf die Wahrnehmung der Pflege des Kindes des grundsätzlichen, verfassungsrechtlich gewährleisteten Vorrangs der leiblichen Eltern gegenüber der - von ihm als Pflegeeltern angesehenen - Gasteltern bewusst war. Jedenfalls lässt die Bezugnahme des Oberlandesgerichts auf den Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Oktober 1994 - 1 BvR 1799/94 - (FamRZ 1995, S. 24 ff.) außer Betracht, dass - anders als hier - dort bereits sehr zweifelhaft war, ob die Kindeseltern in Afghanistan überhaupt noch lebten und damit das Kind bei sich aufzunehmen im Stande waren.

bb) Das Oberlandesgericht hat auch die Anforderungen verkannt, die das Elternrecht an die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens stellt.

Es hat den afghanischen, mit dem deutschen Rechtssystem offensichtlich nicht vertrauten und nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer weder zu den Lebensverhältnissen der Herkunftsfamilie und zu den persönlichen Lebensperspektiven des Kindes in seinem Heimatland befragt noch anderweitig hierzu Ermittlungen veranlasst. Insoweit wäre die Einholung eines Berichts über die konkreten Lebensumstände der Familie in Afghanistan in Betracht gekommen, etwa über den Internationalen Sozialdienst, der im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge organisiert ist. Auch hat das Oberlandesgericht keine Eltern-Kind-Exploration durch die Sachverständige veranlasst, obwohl die Möglichkeit hierzu bestanden hätte. Zu beiden Fragestellungen war jedoch eine Sachverhaltsermittlung erforderlich, um zu überprüfen, ob und inwieweit das Kind einem unzumutbaren "Kulturschock" ausgesetzt würde, wie es das Gericht im Ergebnis angenommen hat.

Das Oberlandesgericht ist ferner - im Ansatzpunkt aus seiner Sicht zutreffend - in Bezug auf die Wahrnehmung der von ihm angenommenen Familienpflege davon ausgegangen, dass der Umstand, dass das Kind bei seiner Rückführung in die Herkunftsfamilie völlig überfordert und deshalb einer ernsthaften Gefahr weit reichender psychischer Schäden ausgesetzt wäre, grundsätzlich geeignet sei, ausnahmsweise eine Verbleibensanordnung auch ohne die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB zu begründen. Allein die Dauer des Pflegeverhältnisses könne zu einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB führen, wenn eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens des Kindes bei seiner Herausgabe an die Eltern zu erwarten sei.

Zur Begründung dieser Annahme bezieht sich das Oberlandesgericht indes auf das eingeholte Sachverständigengutachten, das es für "fundiert" begründet und "in seinen Aussagen überzeugend" hält. Das Gericht setzt sich jedoch in keiner Weise kritisch mit den Feststellungen des Gutachtens auseinander, obwohl es sich hierzu offensichtlich hätte veranlasst sehen müssen. Das Oberlandesgericht geht etwa davon aus, dass die "gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland" und "die erkennbare Perspektivenarmut" des Kindes zu einer zusätzlichen Belastung und damit zu einer weiteren Traumatisierung führen würden. Dies steht in Übereinstimmung mit den Feststellungen der Sachverständigen, wonach die Tochter des Beschwerdeführers bei einer Rückführung in die Herkunftsfamilie "gravierende Veränderungen in nahezu allen Bereichen ihres Lebens" hinnehmen müsste. Diese Feststellungen der Sachverständigen waren jedoch erkennbar mängelbehaftet. Bereits im fachgerichtlichen Verfahren hat der Hammer Forum e.V. darauf hingewiesen, dass die besagten Einschätzungen der Sachverständigen vorurteilsbehaftet seien. Ganz offenkundig beschränkt sich die Sachverständige insoweit auf nicht durch Tatsachenfeststellungen gestützte Vermutungen, als sie Ausführungen über die Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Zukunftsperspektiven des Kindes macht. Problematisch sind auch die Feststellungen der Sachverständigen zur Qualität der Bindungen des Kindes zu seinen Eltern. So führt die Sachverständige aus, man möge "vermuten", dass die Bindungen der Tochter an ihre Herkunftsfamilie nicht eine vergleichbare gute Qualität gehabt hätten wie momentan diejenigen an die Gasteltern. Auch diese "Vermutung" ist jedoch angreifbar, weil sie allein auf den Umstand zurückgeführt wird, dass das Kind nur sehr geringfügig Heimwehreaktionen gezeigt habe. Beispielsweise lässt sie das große Engagement der leiblichen Eltern für das Wohl des Kindes außer Betracht. Dabei hat das Kind noch in seiner Anhörung vom 22. August 2002 ausführlich davon berichtet, dass bei seiner Behandlung in Kabul stets ein Familienmitglied - mal der Vater, mal die Mutter oder die Großmutter - bei ihr gewesen sei. Auch zu diesem Punkt wäre eine Eltern-Kind-Exploration erforderlich gewesen, um die "Vermutung" zu überprüfen.

4. Weil die angegriffene Entscheidung den Beschwerdeführer bereits in seinem Elternrecht verletzte, kann dahinstehen, ob er durch die Übernahme der offensichtlich nur vermutenden Schlussfolgerungen des Sachverständigengutachtens in der angegriffenen Entscheidung und die daraus folgende Nichtberücksichtigung seiner Belange auch in seinem Art. 103 Abs. 1 GG entspringenden Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt wurde, das auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu beachten ist (vgl. BVerfGE 19, 49 <51>; 75, 201 <215>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 1996 - 1 BvR 520/95 -, FamRZ 1997, S. 151 f.).

5. Die Entscheidung beruhte auf der Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei entsprechender Berücksichtigung des Elternrechts des Beschwerdeführers zu einer für diesen weniger belastenden Maßnahme gegriffen hätte.

6. Die auf § 95 Abs. 2 BVerfGG beruhende Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung über die Kosten des Verfahrens gibt dem Oberlandesgericht, das die Kosten "gegeneinander aufgehoben" hatte, Gelegenheit, erneut zu prüfen, ob nicht bezüglich des Beschwerdeführers - dem im Verfassungsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt wurde - von der Erhebung von Kosten abgesehen werden sollte.

Im derzeit bei ihm anhängigen Abänderungsbeschwerdeverfahren wird das Oberlandesgericht auch zu erwägen haben, dass das Kind sich nicht mehr in der Obhut der Gastfamilie befindet, sondern in der des Jugendamts, und wie es unter Kindeswohlgesichtspunkten zu bewerten ist, dass ausweislich der Stellungnahme des Landes Nordrhein-Westfalen ein Verbleiben des Kindes in Deutschland nach Vollendung seines 18. Lebensjahres nicht gesichert ist. Insofern wird es zu prüfen haben, ob es dem Kind bei zeitnaher Rückführung nach Afghanistan leichter fallen könnte, sich sprachlich, kulturell und familiär wieder in Afghanistan zu integrieren und gemeinsam mit seiner Familie Zukunftsperspektiven besser aufzubauen als im Erwachsenenalter.

7. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Verfassungsbeschwerde beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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