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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 07.05.2009
Aktenzeichen: 2 BVR 2367/07
Rechtsgebiete: GG, AufenthG, FGG, Nds. SOG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 2
GG Art. 103 Abs. 1
GG Art. 104 Abs. 2
AufenthG § 50 Abs. 7
AufenthG § 95 Abs. 1
FGG § 29a Abs. 1
Nds. SOG § 18
Nds. SOG § 19 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Verfahren

...

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts

durch

die Richterin Osterloh und

die Richter Mellinghoff, Gerhardt

am 7. Mai 2009

einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 4. September 2007 - 28 T 29/07 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu ersetzen.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen an die richterliche Kontrolle einer Freiheitsentziehung durch die Polizei.

1.

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste 1997 in das Bundesgebiet ein und betrieb in Berlin lebend erfolglos ein Asylverfahren. Er war seit März 2004 vollziehbar ausreisepflichtig und tauchte im Juli 2006 unter. Am 6. September 2006 sprach er mit seiner Verlobten beim Standesamt in Hameln vor, um seine Eheschließung anzumelden. Nach seinen Angaben wurde er gebeten, am 7. September 2006 erneut vorzusprechen. Am Nachmittag des 6. September 2006 wurde er in der Wohnung seiner Verlobten durch die Polizei festgenommen, ohne dass zuvor ein richterlicher Beschluss ergangen wäre. Unmittelbar zuvor hatte die Stadt Hameln die Polizei gebeten, den Beschwerdeführer in Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen. Sie wies die Polizei auch auf den vermutlichen Aufenthaltsort hin.

2.

Am 6. September 2006, 15.53 Uhr, beantragte die Ausländerbehörde des Landes Berlin beim Amtsgericht die Anordnung von Abschiebungshaft: Der Beschwerdeführer habe bisher nicht abgeschoben werden können, weil er kein Passdokument besitze. Bei einer Wohnungskontrolle sei der Beschwerdeführer im Besitz eines Reisepasses gewesen. Er sei festgenommen worden. Er habe heute bei der Ausländerbehörde Hameln vorgesprochen und Heiratsabsichten geäußert. Mit Beschluss vom 7. September 2006 ordnete das Amtsgericht die Haft antragsgemäß an.

3.

Der Beschwerdeführer beantragte am 26. September 2006 die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Ingewahrsamnahme bis zum Erlass der Haftanordnung durch das Amtsgericht: Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG erfordere grundsätzlich eine richterliche Entscheidung vor der Festnahme. Es habe hier eine geplante Festnahme vorgelegen. Jedenfalls sei er nicht unverzüglich nach seiner in den Mittagstunden erfolgten Festnahme einem Richter vorgeführt worden. Bis 21.00 Uhr müsse ein Richter erreichbar sein.

4.

Das Amtsgericht wies den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme mit Beschluss vom 26. Februar 2007 zurück: Die Ausländerbehörde und die Polizei dürften einen Ausländer ausnahmsweise dann vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn bei einer richterlichen Entscheidung der Zweck der Freiheitsentziehung nicht erreicht werden könne oder der Ausländer nach § 50 Abs. 7 AufenthG zur Festnahme ausgeschrieben sei und ergriffen werde. Der Beschwerdeführer habe sich in Berlin durch Untertauchen den dortigen Behörden entzogen; in einem derartigen Fall bedürfe es keiner weiteren richterlichen Entscheidung für die Festnahme.

5.

Mit seiner sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG geltend: Es gebe keine Ermächtigungsgrundlage für die behördliche Ingewahrsamnahme von Ausländern zum Zwecke der Vorführung vor den Haftrichter. Wenn die Zeit für eine Ausschreibung eines Ausländers zur Festnahme vorhanden sei, sei auch die Zeit dafür vorhanden, einen gerichtlichen Haftbeschluss zu erwirken. Das Amtsgericht gehe auch nicht darauf ein, dass die Vorführung des Beschwerdeführers erst am Tag nach der Ingewahrsamnahme erfolgt sei.

6.

Das Landgericht wies die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 26. April 2007 zurück: Die vorläufige Ingewahrsamnahme sei nach § 18 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) in der Fassung vom 19. Januar 2005 (Nds. GVBl S. 9) rechtmäßig gewesen, da sie unerlässlich gewesen sei, um die unmittelbar bevorstehende Begehung und Fortsetzung einer Straftat zu verhindern. Der Beschwerdeführer sei seit dem rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens verpflichtet, das Bundesgebiet zu verlassen. Er habe vor dem Amtsgericht eingeräumt, illegal in Deutschland verblieben zu sein. Die dadurch verübten Verstöße gegen Strafvorschriften hätten die Strafverfolgungsbehörden durch die Ingewahrsamnahme des Betroffenen beendet. Was an dieser Vorgehensweise - vorläufige Festnahme wegen Begehung einer Straftat - nicht rechtmäßig sein solle, sei nicht ersichtlich. Eine weitere sofortige Beschwerde sei nicht statthaft, da keine Fragen grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden seien.

7.

Der Beschwerdeführer legte weitere sofortige Beschwerde ein und stellte hilfsweise einen Antrag nach § 29a FGG, da das Landgericht sich mit der Frage der Erreichbarkeit eines Richters nach der Festnahme des Beschwerdeführers nicht auseinandergesetzt habe. Das Oberlandesgericht verwarf die weitere sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 20. Juni 2007 als unzulässig. Die Berechtigung zur Freiheitsentziehung könne in Fällen der vorliegenden Art aus § 18 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Nds. SOG stammen, um die Fortsetzung einer Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zu verhindern. Die Zulassung der weiteren sofortigen Beschwerde sei zu Recht unterblieben, die sich stellenden Rechtsfragen seien geklärt.

Das Landgericht beschloss am 4. September 2007, dem Verfahren gemäß § 29a Abs. 1 Satz 1 FGG Fortgang zu geben. Es stellte fest, dass die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers bis zum Erlass des Haftbeschlusses am 7. September 2006 nicht rechtswidrig gewesen sei: Dem Antrag nach § 29a FGG sei stattzugeben, weil bei der Entscheidung vom 26. April 2007 das Vorbringen zur Frage der unverzüglichen Vorführung nicht gewürdigt worden sei. Die Ingewahrsamnahme sei nicht rechtswidrig gewesen. Der Antrag der Ausländerbehörde des Landes Berlin sei am 6. September 2006 um 15.53 Uhr beim Amtsgericht eingegangen. Die für die Entscheidung erforderlichen Unterlagen seien am 7. September 2006 in Amtshilfe durch die Stadt Hameln an das Amtsgericht weitergeleitet worden. Eine Vorführung des Betroffenen vor dem 7. September 2006 sei daher nicht möglich gewesen.

Der Beschwerdeführer legte gegen diesen Beschluss entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung sofortige weitere Beschwerde ein, die mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 18. Oktober 2007 als unzulässig verworfen wurde. Die Unzulässigkeit ergebe sich aus § 19 Abs. 2 Satz 4 Nds. SOG.

8.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung in seinen Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 104 Abs. 2 GG: Amts- und Landgericht setzten sich nicht mit der Pflicht zur unverzüglichen Richtervorführung auseinander, was einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darstelle. Die Entscheidungen verletzten Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Ingewahrsamnahme des Betroffenen sei geplant erfolgt, was sich aus der Bitte der Stadt Hameln an die Polizei um Amtshilfe ergebe. Eine geplante Festnahme bedürfe der vorherigen richterlichen Entscheidung. Es sei unerheblich, ob die Freiheitsentziehung auf Gefahrenabwehrrecht gestützt werde oder ob sie zum Zwecke der Vorführung vor den Abschiebungshaftrichter erfolge. Gegen die Garantien des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG sei verstoßen worden, weil der Beschwerdeführer nicht am Tag seiner Festnahme, sondern erst am darauffolgenden Tag einem Richter vorgeführt worden sei.

9.

Dem Niedersächsischen Justizministerium und der Senatsverwaltung für Inneres von Berlin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts vom 4. September 2007, der den Beschluss vom 26. April 2007 hat gegenstandslos werden lassen, richtet, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Richtervorbehalt bei freiheitsentziehenden Maßnahmen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Beschluss des Landgerichts vom 4. September 2007 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

1.

Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26> ; 94, 166 <198> ; 96, 10 <21> ). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220> ). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f. >; 58, 208 <220>).

Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 <317> ). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 10, 302 <321>). "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerfGE 105, 239 <249> ). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. BVerfGE 103, 142 <156> ; 105, 239 <249>).

Mit Blick auf die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts sind alle an der freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligten staatlichen Organe verpflichtet, ihr Vorgehen so zu gestalten, dass dieser als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <248> ; BVerfGK 7, 87 <98>).

2.

Der angegriffene Beschluss des Landgerichts vom 4. September 2007 hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung an diesen Maßstäben nicht stand.

Die durch das Landgericht vorgenommene Prüfung der behördlichen Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers verkennt Bedeutung und Tragweite des in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalts für Freiheitsentziehungen. Weder in den Gründen des Beschlusses vom 26. April 2007 noch in dem in Fortsetzung des Verfahrens ergangenen, sich auf diesen beziehenden Beschluss vom 4. September 2007 hat das Landgericht die Frage geprüft, ob das Herbeiführen einer richterlichen Entscheidung vor der Freiheitsentziehung zur Verfehlung ihres Zwecks geführt hätte. Diese Prüfung drängt sich hier insbesondere vor dem Hintergrund auf, dass die Ausländerbehörde die Polizei vor der Festnahme darum gebeten hatte, den Beschwerdeführer in Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen. Der Beschwerdeführer wurde nicht etwa durch die Polizei zufällig aufgegriffen, vielmehr bezweckte der durch die Ausländerbehörde veranlasste Polizeieinsatz gerade den Aufgriff des Beschwerdeführers. Von Verfassungs wegen war daher zu klären, ob zum Zeitpunkt des Entschlusses der Ausländerbehörde, den Beschwerdeführer in Gewahrsam nehmen zu lassen, Umstände vorlagen, die erwarten ließen, dass die Einholung einer richterlichen Entscheidung die Festnahme des Beschwerdeführers vereiteln würde. Diese Aufklärung ist unterblieben.

3.

Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 104 Abs. 2 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wären. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Landgerichts vom 4. September 2007 auf und verweist die Sache an das Landgericht zurück. Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Grundrechtsverstöße kommt es nicht an.

III.

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 26. Februar 2007 wird nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 93a Abs. 2, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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