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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 11.11.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1527/02
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 16a Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 1527/02 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden- Württemberg vom 27. August 2002 - A 12 S 412/02 und A 12 S 411/02 -,

b) die Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. November 2001 - A 7 K 11246/99 und A 7 K 11245/99 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Broß, Di Fabio, Gerhardt gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 11. November 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. November 2001 - A 7 K 11245/99 und A 7 K 11246/99 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben, soweit sie die Beschwerdeführer betreffen.

Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27. August 2002 - A 12 S 411/02 und A 12 S 412/02 - sind insoweit gegenstandslos.

Das Land Baden-Württemberg hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen der fachgerichtlichen Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Asylsuchenden hinsichtlich der behaupteten politischen Verfolgung.

I.

Die Beschwerdeführer, türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die ihrem Vortrag zufolge im Februar 1999 mit ihren drei Kindern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, begehren u.a. die Gewährung von Abschiebungsschutz.

1. a) Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge machte der Beschwerdeführer zu 1. im Wesentlichen geltend, er sei aufgrund seiner Aktivitäten für die HADEP mehrfach festgenommen worden. Polizisten hätten ihn bei einer Demonstration in Gaziosmanpasa geschlagen und ihm die Nase gebrochen. Seine Wohnung sei mehrfach durchsucht worden. Er habe sich Ende 1997 von seiner Ehefrau, der Beschwerdeführerin zu 2., scheiden lassen, um seine Familie vor weiteren Repressalien zu bewahren. Seine Frau sei dennoch weiter bedroht und misshandelt worden, weil die Polizei von ihr seinen Aufenthaltsort habe erfahren wollen, wobei er sich sicher sei, dass sie ihm nicht alles erzählt habe, was ihr angetan worden sei. Er selbst habe sich versteckt gehalten.

Das Bundesamt lehnte den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, weil es sich bei dem vorgetragenen Geschehen nicht um eine gezielte, gegen die Person des Beschwerdeführers zu 1. gerichtete Verfolgung handele. Er habe sich zwar politisch betätigt und sei Repressalien ausgesetzt gewesen. Dies habe jedoch nicht zu einer ausweglosen Lage geführt. Außerdem habe sich der Beschwerdeführer zu 1. in zahlreiche Widersprüche verstrickt. Seine Antworten hätten teilweise mehrfach angemahnt werden müssen.

b) Die Beschwerdeführerin zu 2. gab bei ihrer Anhörung an, sie habe im Frauenkomitee der HADEP gearbeitet und Geld und Kleidung für Häftlinge gesammelt. Außerdem habe sie an Demonstrationen teilgenommen. Die Sicherheitskräfte hätten auf der Suche nach ihrem Ehemann mehrfach ihre Wohnung durchsucht. Ihr Mann sei in Anwesenheit der Familie geschlagen worden. Sie selbst sei von den Sicherheitskräften als Frau schlecht behandelt und mit dem Schlagstock auf verschiedene Körperteile geschlagen worden. Bei einer der Durchsuchungen sei sie gerade im Unterhemd gewesen. Sie habe sich umziehen wollen, aber die Sicherheitskräfte hätten sie daran gehindert und sie belästigt. Als sie den Polizisten mitgeteilt habe, dass sie mit ihrem Mann nichts mehr zu tun habe und von ihm geschieden sei, hätten diese gesagt, dass sie bestimmte Bedürfnisse habe, und sie ins Schlafzimmer gezerrt. Sie wisse nicht, was ihr passiert sei. Sie sei ohnmächtig geworden, als die Kinder geschrien hätten. Ihre Kinder hätten ihr erzählt, dass man sie mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen habe. Als sie aufgewacht sei, habe sie sich im Krankenhaus befunden und Infusionen bekommen. Sie habe am Kopf und im Gesicht drei Wunden gehabt. Ihre Kopfhaut sei genäht worden. Die Sicherheitskräfte hätten sie vergewaltigen wollen. Sie habe für die HADEP Propaganda gemacht. Man habe ihnen vorgeworfen, mit der PKK zusammenzuarbeiten. Nach der Festnahme von Nachbarn Ende 1998 habe sie die Kinder nicht mehr in die Schule geschickt. Dann hätten sie die Türkei verlassen.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag ab. Die geschilderten Repressalien seien asylrechtlich unerheblich. Es handele sich nicht um eine gezielte Verfolgung der Beschwerdeführerin zu 2., weil die Maßnahmen ihrem geschiedenen Ehemann gegolten hätten.

2. a) Mit seiner vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe erhobenen Klage machte der Beschwerdeführer zu 1. u.a. geltend, dass es ihm schwer falle, zeitlich zuverlässige Angaben zu machen. Er habe Gedächtnisprobleme, weil er psychisch erkrankt sei.

b) Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab und führte im Wesentlichen aus: Der Beschwerdeführer zu 1. sei in seiner Heimat angesichts der geringen Bedeutung seines politischen Engagements, das zudem in das Jahr 1997 falle, nicht in eine ausweglose Lage geraten. Zu den von seiner geschiedenen Ehefrau angegebenen Hausdurchsuchungen könne er aus eigenem Erleben nicht berichten, weil er sich nach der Ende 1997 erfolgten Scheidung nicht mehr in der Familienwohnung aufgehalten habe. Der Vortrag zum Ausreiseentschluss sei widersprüchlich. Die psychische Erkrankung erkläre dies nicht. Bei Anlegung asylrechtlicher Glaubwürdigkeitsregeln seien seine Angaben als Steigerung des Vorbringens gegenüber der zeitnah zur Ausreise durchgeführten Anhörung vor dem Bundesamt zu qualifizieren. Sachverständige Hilfe sei für diese Feststellung nicht erforderlich.

c) Die Beschwerdeführerin zu 2. legte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein psychiatrisches Gutachten vor, wonach ihr während eines Überfalls durch die Sicherheitskräfte in ihrer Wohnung "das Schlimmste, was man einer Frau antun könne", passiert sei. Sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach sexueller Gewalt.

d) Das Verwaltungsgericht wies auch diese Klage ab. Die Beschwerdeführerin zu 2. habe in sehr allgemeiner Art und Weise auf ihre politischen Aktivitäten in der Türkei hingewiesen. Ob dies für eine Annahme politischer Verfolgung ausreiche, könne letztlich offen bleiben. Selbst wenn sich die Beschwerdeführerin zu 2. in der Türkei in irgendeiner Form politisch betätigt habe und deshalb allein oder überwiegend wegen ihres von ihr seit Dezember 1997 geschiedenen und spätestens ab diesem Zeitpunkt offiziell von ihr getrennt lebenden Ehemannes von den Sicherheitsbehörden noch 1998 mehrfach aufgesucht und ihre Wohnung durchsucht worden sei, habe sie das Gericht nicht davon überzeugen können, dass das nunmehr den Schwerpunkt ihrer Verfolgung bildende Ereignis, die im Februar 1998 erfolgte Vergewaltigung durch Polizisten, den Tatsachen entspreche. Die Beschwerdeführerin zu 2. habe sich insoweit weder bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt noch mit der Klagebegründung geäußert, die nur Schläge auf den Kopf erwähne. Bei der Anhörung durch das Bundesamt sei von einer vollendeten oder versuchten Vergewaltigung nicht die Rede gewesen, sondern von einer Wohnungsdurchsuchung, bei der der Beschwerdeführerin zu 2. drei Wunden am Kopf und im Gesicht zugefügt worden seien, was zu ihrer Ohnmacht geführt habe.

3. Die gegen die Urteile gerichteten Anträge auf Zulassung der Berufung, die die Beschwerdeführer auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3 AsylVfG stützten, lehnte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ab.

4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Sie machen im Wesentlichen geltend, dass das Verwaltungsgericht ihr Vorbringen im Anhörungsverfahren zu Einzelheiten der erfolgten Übergriffe teilweise nicht zur Kenntnis genommen habe. Ferner tragen die Beschwerdeführer zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 16a Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG vor.

II.

Das Justizministerium Baden-Württemberg und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

III.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung durch die Kammer ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die hier maßgeblichen Fragen zu Art. 103 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. In diesem - die Kompetenz der Kammer begründenden - Sinne ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 <220>; 83, 24 <35>; 86, 133 <146>). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Fachgericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Auf eine Nichtberücksichtigung des Vortrags kann aber geschlossen werden, wenn das Gericht die wesentlichen der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Gründen nicht verarbeitet, sofern der Vortrag nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 47, 182 <189>; 86, 133 <146>).

2. Hieran gemessen verletzen die angegriffenen Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. November 2001 den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör.

a) Das Verwaltungsgericht hat in Bezug auf die Beschwerdeführerin zu 2. eine politische Verfolgung verneint, weil die Behauptung einer Vergewaltigung als gesteigertes Vorbringen der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu 2. entgegenstehe. Damit hat sich das Verwaltungsgericht über den Vortrag der Beschwerdeführerin zu 2. im Anhörungsverfahren vor dem Bundesamt hinweggesetzt, in dem sie von Anfang an detailliert über körperliche Übergriffe und Misshandlungen berichtet hat, die schon für sich genommen als politische Verfolgung angesehen werden können. Die Beschwerdeführerin zu 2. hat bereits im Anhörungsverfahren gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Einzelnen dargelegt, dass sie von türkischen Sicherheitskräften anlässlich einer Hausdurchsuchung misshandelt worden sei. Sie berichtete, sie sei bei der Hausdurchsuchung im Unterhemd gewesen und von den Soldaten daran gehindert worden, sich umzuziehen. Sie sei als Frau schlecht behandelt worden. Die Soldaten hätten sie ins Schlafzimmer gezerrt und sie geschlagen, weil sie sie hätten vergewaltigen wollen. Ihre Kinder seien in ein anderes Zimmer gebracht worden. Diesen Vortrag ignoriert das Verwaltungsgericht, indem es den behaupteten sexuellen Missbrauch als vom übrigen Vortrag losgelöstes, "den Schwerpunkt der Verfolgung bildendes Ereignis" ansieht, obwohl die erst später gemachte Angabe, wonach ihr das Schlimmste widerfahren sei, was einer Frau passieren könne, an diesen Vortrag anknüpft, und indem es die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu 2. wegen (verspäteten) gesteigerten Vorbringens in Frage stellt, ohne auf die schon ursprünglich angegebenen Misshandlungen einzugehen.

b) Bei der Prüfung eines dem Beschwerdeführer zu 1. zustehenden Anspruchs aus § 51 Abs. 1 AuslG hat das Verwaltungsgericht dessen Vorbringen zu seiner politischen Betätigung als unerheblich angesehen.

Soweit das Verwaltungsgericht die Behauptung des Beschwerdeführers zu 1., er sei der Unterstützung der PKK verdächtigt worden, als gesteigertes Vorbringen ansieht, fehlt es an der gebotenen Auseinandersetzung damit, dass die Beschwerdeführerin zu 2. dies von Anfang an vorgetragen hat. Die Beschwerdeführerin zu 2. hat bereits in ihrer Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ausführlich geschildert, dass die bis zur - zur Vermeidung weiterer Repressalien erfolgten - Ehescheidung gemeinsame Wohnung mehrfach von den Sicherheitskräften durchsucht worden sei, um des Beschwerdeführers zu 1. habhaft zu werden und sie in diesem Zusammenhang erheblichen Übergriffen ausgesetzt gewesen sei. Diesen Vortrag hätte das Verwaltungsgericht insbesondere deshalb einbeziehen müssen, weil es einerseits die vom Beschwerdeführer zu 1. geltend gemachte Gefahr weiterer Repressalien mit der Begründung verneint hat, er könne zu den von der Beschwerdeführerin zu 2. beschriebenen Wohnungsdurchsuchungen seit Ende 1997 aus eigenem Erleben nichts mitteilen, weil er sich nach der Scheidung Ende 1997 nicht mehr in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufgehalten habe, und es andererseits in dem die Klage der Beschwerdeführerin zu 2. abweisenden Urteil ausdrücklich offen gelassen hat, ob die Sicherheitskräfte die Wohnung wegen des getrennt lebenden Ehemannes oder allein wegen der Ehefrau durchsucht hätten.

3. Die Urteile des Verwaltungsgerichts beruhen auf den dargelegten verfassungsrechtlichen Mängeln. Sie sind demnach aufzuheben, ohne dass es auf die weiteren, hiergegen erhobenen Rügen ankommt. Die Sachen sind an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (vgl. § 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

4. Damit sind die ebenfalls angegriffenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg gegenstandslos.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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