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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 01.03.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1570/03
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG


Vorschriften:

GG Art. 1
GG Art. 3
GG Art. 6
BVerfGG § 93d Abs. 1 Satz 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1570/03 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. August 2003 - 18 B 1503/03 -,

b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 15. Juli 2003 - 24 L 1977/03 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Broß, Di Fabio und Gerhardt gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 1. März 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:

I.

1. a) Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Ausweisung in die Türkei.

Er ist 1983 in Deutschland geboren und aufgewachsen, wo auch seine Eltern und Geschwister leben. Seit Dezember 1999 besitzt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Seit dem Jahr 2000 ist der Beschwerdeführer mehrmals strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zuletzt wurde er am 22. Juli 2002 wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Bedrohung, räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, Bedrohung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und Nötigung, Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung, Bedrohung in zwei Fällen in Tateinheit mit räuberischem Diebstahl, Nötigung und Diebstahl sowie wegen Erpressung unter Einbeziehung der beiden letzten Verurteilungen zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Die letztgenannte Verurteilung zum Anlass nehmend wies die Ausländerbehörde ihn mit Bescheid vom 9. Mai 2003 aus, ordnete die sofortige Vollziehung dieser Ausweisung an und kündigte ihm die Abschiebung aus der Haft in die Türkei an. Gemäß § 47 Abs. 3 Satz 3 AuslG könne hier über die Ausweisung nur nach Ermessen entschieden werden. Die Ausweisung sei auf Grund von spezialpräventiven Gründen auch unter Berücksichtigung der familiären und sonstigen persönlichen Umstände des Beschwerdeführers notwendig.

b) Seinen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht ab. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht zurück.

2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 1, Art. 3 und Art. 6 GG in Verbindung mit Art. 3 und Art. 8 EMRK. Eine Person, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sei und hier einen unbefristeten legalen Aufenthalt habe, müsse als faktischer Inländer behandelt werden, bei dem Straftaten mittlerer und schwerer Art, insbesondere Jugendstraftaten grundsätzlich hinzunehmen und nur mit den Mitteln des Strafrechts zu ahnden seien, nicht jedoch mit Ausweisung und Abschiebung. Er - der Beschwerdeführer - habe auch keine tragfähige Beziehung zur Türkei, wo er nie gelebt, sondern sich nur wie ein Tourist jedes zweite Jahr für etwa vier Wochen aufgehalten habe. Auch wenn er im Elternhaus türkisch gelernt habe, spreche er die Sprache schlecht. Er nimmt hierbei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Bezug. Ferner verweist er auf Art. 14 ARB Nr. 1/80 sowie darauf, dass die Europäische Kommission Deutschland wegen wiederkehrender Verletzung der Richtlinie 64/221/EWG eine "begründete Stellungnahme" zugeleitet habe, und auf die darin enthaltene Kritik an Ausweisungsverfügungen deutscher Verwaltungsbehörden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt sind. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil die aufgeworfenen Fragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt sind oder sich ohne weiteres anhand der bisherigen Rechtsprechung lösen lassen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370> zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR; vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93 ff.> zu den von Art. 6 Abs. 1 GG vermittelten aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt; sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

1. Der Begründung der Verfassungsbeschwerde lässt sich nichts für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG entnehmen. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet Ausländerbehörde und Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung des Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Dem tragen die angegriffenen Entscheidungen hinreichend Rechnung.

Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich in seinen Erwägungen berücksichtigt, dass die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers in Deutschland leben und er bis kurz vor seiner Inhaftierung bei diesen gelebt hat. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es bei seiner Abwägung hinsichtlich des Zusammenlebens von Eltern mit ihren volljährigen Kindern differenziert zwischen einer bloßen Hausgemeinschaft und einer Beistandsgemeinschaft, die weitergehende aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen begründet (vgl. BVerfGE 80, 81 <90 ff.>). Hierbei begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass es trotz der bisher dem Beschwerdeführer von seiner Familie erbrachten Unterhaltsleistungen den familiären Bindungen gegenüber den Interessen der öffentlichen Sicherheit im Hinblick auf den Schutz vor erheblichen Straftaten keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat. Volljährige Kinder benötigen in der Regel die familiäre Lebenshilfe nicht mehr, auch wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen noch mit ihren Eltern zusammenwohnen; eine lediglich wirtschaftliche Unterstützung ist den im Bundesgebiet lebenden Eltern auch durch Geldüberweisungen möglich. Der Beschwerdeführer ist weder mit der Beschwerde im fachgerichtlichen Verfahren noch mit der Begründung seiner Verfassungsbeschwerde den genannten Erwägungen des Verwaltungsgerichts entgegengetreten.

2. a) Der Kern der Beschwerdebegründung besteht vielmehr darin, dass ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Ausländer mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis bei Begehung von Straftaten grundsätzlich nicht ausgewiesen werden könne. Es ist fraglich, ob der Beschwerdeführer damit ebenfalls eine Verletzung des durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutzes von Ehe und Familie rügt. Dagegen spricht, dass er mit dieser Begründung nicht das Gewicht seiner familiären Bindungen, sondern sonstige private Bindungen im Bundesgebiet, mit anderen Worten seine Verwurzelung in den Lebensverhältnissen in Deutschland geltend macht. Es dürfte sich vielmehr der Sache nach um die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit handeln (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, NVwZ 2001, S. 67 <69>). Dies kann indes im vorliegenden Fall letztlich dahinstehen, weil sich an der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung des Beschwerdeführers im Ergebnis nichts änderte, wenn dieser Gesichtspunkt auch im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 6 GG berücksichtigt würde.

Soweit der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen eine Verletzung von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend macht, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde auf eine behauptete Verletzung der EMRK als solcher nicht gestützt werden (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Auslegung und Anwendung der EMRK zunächst nur auf Verstöße gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 64, 135 <157>; 74, 102 <128>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, NVwZ 2001, S. 67; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245). Dafür ist hier nichts ersichtlich.

b) Auch wenn die Menschenrechte der EMRK in der deutschen Rechtsordnung kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab sind, so haben sie doch in der Auslegung durch den EGMR Einfluss auf die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes. Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich, fördert die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit und darf deshalb regelmäßig nicht so ausgelegt werden, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsteht. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu - in Bezug auf die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Unschuldsvermutung und ihre Normierung in Art. 6 Abs. 2 EMRK - ausgeführt (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>), dass bei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK in Betracht zu ziehen seien, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe. Deshalb diene insoweit auch die Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Diese Grundsätze hat es auch in Bezug auf das Verbot der Zwangsarbeit in Art. 12 Abs. 2 und 3 GG und in Art. 4 Abs. 2 und 3 EMRK (vgl. BVerfGE 83, 119 <128>) sowie auf das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und aus Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245) angewandt.

In Fortführung dieser Rechtsprechung ist demnach die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK auch hinsichtlich der vorliegenden Frage der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung und Abschiebung eines in Deutschland geborenen und aufgewachsenen, straffällig gewordenen Ausländers (sog. Ausländer der zweiten Generation) nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen. Heranziehung als Auslegungshilfe bedeutet dabei in den hier in Rede stehenden Fällen der Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation, die vom EGMR in seiner diesbezüglichen Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen und sich mit den vom EGMR gefundenen Abwägungsergebnissen auseinander zu setzen.

c) Der Rechtsprechung des EGMR ist nicht zu entnehmen, dass eine Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation, die bereits als Kinder in den Vertragsstaat eingereist oder dort geboren und aufgewachsen sind, regelmäßig gegen Art. 8 EMRK verstößt. Der EGMR hat zwar in einigen Fällen dieser Art eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt, aber in einem beachtlichen Teil dieser Fälle eine solche Verletzung verneint. Die Rechtsprechung des EGMR zur Frage, ob die Ausweisung von Ausländern der zweiten Generation nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, insbesondere "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft", d.h. verhältnismäßig ist, hängt vielmehr von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.

Eine Durchsicht der Fälle ergibt, dass die Rechtsprechung des EGMR stark kasuistische Züge aufweist (zutreffend Hailbronner, AuslG, Kommentar, Stand Mai 2003, § 45 Rn. 38), sodass ihrer Heranziehung als Auslegungshilfe insofern Grenzen gesetzt sind. Dennoch lassen sich ihr verallgemeinerungsfähige allgemeine Grundlinien hinsichtlich der für die Verhältnismäßigkeitsprüfung heranzuziehenden Umstände für Fälle der vorliegenden Art entnehmen.

Ein wesentlicher Umstand für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist nach Auffassung des EGMR die Schwere der von dem Ausgewiesenen begangenen Straftaten. Dabei wird deren Schwere in erster Linie durch die Höhe der verhängten Strafen gekennzeichnet (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi; Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 - Fall Boujlifa, InfAuslR 1998, S. 1; Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582), daneben aber auch bestimmt durch die Art der Straftat, wobei beispielsweise Drogendelikten eine besondere Schwere zugemessen wird (vgl. EGMR, Urteil vom 26. September 1997 - 123/1996/742/941 - Fall El Boujaidi; aber auch Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 - Fall Mehemi, InfAuslR 1997, S. 430, wo gleichwohl die Ausweisung auf Grund sonstiger Umstände für unverhältnismäßig angesehen wurde). Von Bedeutung kann auch das Alter des Betroffenen bei Begehung der Straftaten sein: Minderjährigkeit bei Begehung der Straftaten allein führt jedoch nicht zur Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung (vgl. EGMR, Urteil vom 29. Januar 1997 - 112/1995/618/708 - Fall Bouchelkia; Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582).

Neben der Schwere der Straftaten untersucht der EGMR die familiäre Situation des Ausgewiesenen. Dabei wird insbesondere berücksichtigt, ob der im Inland aufgewachsene Ausländer inzwischen mit einer Person verheiratet ist, die die Staatsangehörigkeit seines Aufenthaltslandes besitzt, und ob er Kinder hat. Unverheiratete und kinderlose Ausländer genießen einen schwächeren aufenthaltsrechtlichen Schutz (vgl. einerseits EGMR, Urteil vom 29. Januar 1997 - 112/1995/618/708 - Fall Bouchelkia; Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582; andererseits Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 - Fall Mehemi, InfAuslR 1997, S. 430; Urteil vom 17. April 2003 - 52853/99 - Fall Yilmaz). Daneben werden zwar auch die Bindungen zu den im Inland lebenden Eltern und Geschwistern berücksichtigt, diese sind aber von geringerem Gewicht, wenn der erwachsene Ausländer nicht auf Grund besonderer Umstände auf deren Unterstützung und Hilfe angewiesen ist (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Juli 1995 - 18/1994/465/564 - Fall Nasri, InfAuslR 1996, S. 1; Urteil vom 17. April 2003 - 52853/99 - Fall Yilmaz). Die Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation, der verheiratet oder Vater eines im Inland lebenden Kindes ist, ist nicht generell und unabhängig von den weiteren Umständen des Falles - insbesondere der Schwere der von ihm begangenen Straftaten - unverhältnismäßig (vgl. EGMR, Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi).

Weiter berücksichtigt der EGMR, inwieweit noch ein Bezug des Ausländers zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit besteht. Dabei wird oftmals die Kenntnis der Sprache des Herkunftsstaates als ein bedeutsamer Umstand - im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Integration in die dortigen Lebensverhältnisse - betont (vgl. EGMR, Urteil vom 26. März 1992 - 55/1990/246/317 - Fall Beldjoudi, EuGRZ 1993, S. 556; Urteil vom 13. Juli 1995 - 18/1994/465/564 - Fall Nasri, InfAuslR 1996, S. 1; Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi; Urteil vom 29. Januar 1997 - 112/1995/618/708 - Fall Bouchelkia; Urteil vom 26. September 1997 - 123/1996/742/941 - Fall El Boujaidi; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - Fall Baghli, NVwZ 2000, S. 1401; Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582), wenngleich der EGMR in einem Fall die Ausweisung nicht als unverhältnismäßig angesehen hat, obwohl der Beschwerdeführer fehlende Sprachkenntnisse geltend gemacht hatte (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 - Fall Boujlifa, InfAuslR 1998, S. 1). Daneben hat der EGMR mehrfach auch berücksichtigt, dass der Ausländer die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes behalten und nicht den Wunsch kundgetan hatte, die Staatsangehörigkeit seines Aufenthaltslandes zu erwerben (vgl. EGMR, Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi; Urteil vom 29. Januar 1997 - 112/1995/618/708 - Fall Bouchelkia; Urteil vom 26. September 1997 - 123/1996/742/941 - Fall El Boujaidi; Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 - Fall Boujlifa, InfAuslR 1998, S. 1; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - Fall Baghli, NVwZ 2000, S. 1401).

Darüber hinaus lässt sich bei der Rechtsprechung des EGMR feststellen, dass der Gerichtshof seit dem Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi - mehrheitlich zu größerer Strenge zu neigen scheint und häufiger die Ausweisung straffälliger Ausländer der zweiten Generation als verhältnismäßig ansieht (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 45 Rn. 38). Dies zeigt sich nicht nur bei Ausländern, die Drogendelikte begangen haben (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 26. September 1997 - 123/1996/742/941 - Fall El Boujaidi; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - Fall Baghli, NVwZ 2000, S. 1401), sondern auch generell bei unverheirateten und kinderlosen Ausländern, die zu mehrjährigen Freiheits- oder Jugendstrafen verurteilt wurden und die Sprache ihres Herkunftsstaates verstehen (vgl. EGMR, Urteil vom 29. Januar 1997 - 112/1995/618/708 - Fall Bouchelkia; Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582; vgl. auch Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 - Fall Boujlifa, InfAuslR 1998, S. 1, wo der Gerichtshof die Abschiebung für verhältnismäßig ansah, obwohl der Beschwerdeführer seinen Angaben zufolge die Sprache seines Herkunftsstaates nicht verstand, und Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi, wo der Beschwerdeführer mit einer Inländerin ein Kind hatte).

d) Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zur Ausweisung von straffälligen Ausländern der zweiten Generation kann nicht festgestellt werden, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers unverhältnismäßig ist, unabhängig davon, ob sie an Art. 6 Abs. 1 GG, an Art. 2 Abs. 1 GG oder an beiden Grundrechtsnormen zu messen ist.

Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass den in der Rechtsprechung des EGMR bedeutsamen Gesichtspunkten der Schwere der von dem Ausgewiesenen begangenen Straftaten und seines Alters bereits durch die Abstufungen des Ausländergesetzes in Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung (vgl. §§ 45, 47, 48 AuslG) sowie durch den besonderen Ausweisungsschutz für Ausländer, die im Bundesgebiet geboren oder als Minderjährige in das Bundesgebiet eingereist sind (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG), in grundsätzlich ausreichender Weise Rechnung getragen wird. Wie dargelegt, ist die Ausweisung von Ausländern der zweiten Generation nach Maßgabe des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht generell unverhältnismäßig. Der Geburt des Beschwerdeführers in Deutschland wird somit bereits durch die Gewährung des besonderen Ausweisungsschutzes gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG Rechnung getragen.

Bei der ergänzend gebotenen konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu Gunsten des Beschwerdeführers neben dem Umstand, dass seine Eltern und Geschwister hier leben, vor allem zu würdigen, dass er bei Begehung der Straftaten, die zu seiner Ausweisung geführt haben, noch jung war, nämlich bei einer Tat Jugendlicher und damit Minderjähriger und ansonsten Heranwachsender (zwischen 18 und 21 Jahre alt), auf den noch Jugendstrafrecht angewendet wurde. Dieser Umstand allein macht eine Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation nicht unverhältnismäßig. Vielmehr sind des Weiteren insbesondere die Schwere der vom Ausgewiesenen begangenen Straftaten, seine familiäre Situation und sein Bezug zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit sowie gegebenenfalls weitere Besonderheiten des Einzelfalles in die Abwägung mit einzubeziehen.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Fall Moustaquim (vgl. Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 -, EuGRZ 1993, S. 552), bei dem der EGMR die Ausweisung eines Ausländers, der wegen mehrerer als Jugendlicher begangener Raubüberfälle und einer Vielzahl von Fällen qualifizierten und versuchten qualifizierten Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt worden war, als Verstoß gegen Art. 8 EMRK gewertet hat. Denn zum einen weist dieser Fall die vom EGMR angeführte Besonderheit auf, dass zwischen dem letzten dem Ausgewiesenen vorgeworfenen Delikt und der Ausweisungsverfügung eine relativ lange Zeitspanne von mehr als drei Jahren lag, während der er fast 23 Monate lang nicht in Haft war (vgl. Ziff. 44 der Entscheidung). Dies findet hier keine Entsprechung. Zum anderen unterscheidet sich der vorliegende Fall von jenem auch durch die Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten und der gegen ihn verhängten Strafe. Während im Fall Moustaquim der Ausgewiesene zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde, wurde hier der Beschwerdeführer zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Jener ist zwar in einer Vielzahl von Fällen (22) wegen Raubes, qualifizierten Diebstahls und versuchten qualifizierten Diebstahls verurteilt worden, im vorliegenden Fall kommen jedoch noch Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und gegen die Freiheit der persönlichen Willensentschließung hinzu, wobei das Amtsgericht in seinem der Ausweisung zu Grunde liegenden Urteil festgestellt hat, dass der Beschwerdeführer bei der Verwirklichung der Taten in massiver Weise brutal und rücksichtslos auf andere eingewirkt und diese Brutalität gegenüber anderen auch schon bei den vorherigen Verurteilungen festgestellt wurde. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht im Einzelnen dargelegt, weshalb es die vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten trotz seiner Jugend nicht als jugendspezifische, sondern als wesensgetragene Verhaltensweisen bewertet hat, sodass auch insofern Unterschiede zum Fall Moustaquim bestehen. Darüber hinaus ist zweifelhaft, inwieweit die Entscheidung des EGMR im Fall Moustaquim aus dem Jahre 1991 durch Entscheidungen aus jüngerer Zeit überholt und als Auslegungshilfe nicht mehr heranzuziehen ist. Denn nach der jüngeren Rechtsprechung des EGMR ist die Ausweisung und Abschiebung eines unverheirateten und kinderlosen Ausländers der zweiten Generation, der über Kenntnisse der Sprache seines Herkunftsstaates verfügt und zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von drei bis vier Jahren verurteilt worden ist, nicht als unverhältnismäßig angesehen worden. Dies gilt nicht nur in Fällen der Drogenkriminalität (vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - Fall Baghli, NVwZ 2000, S. 1401), sondern auch bei sonstigen schwereren Straftaten (vgl. EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582; vgl. auch Urteil vom 24. April 1996 - 15/1995/522/608 - Fall Boughanemi, wo der Beschwerdeführer sogar Vater eines Kleinkindes war).

Insbesondere im genannten Fall Adam, der vom EGMR sogar einstimmig als offensichtlich unbegründet eingestuft worden ist, sind die vom EGMR als abwägungsrelevant herangezogenen Umstände nach Art und Gewicht weitgehend gleichgelagert mit dem vorliegenden Fall. Beide Ausländer der zweiten Generation sind zu Freiheitsstrafen von insgesamt drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden wegen überwiegend gleichartiger Straftaten (insbesondere räuberische Erpressung, Diebstahl und Bedrohung), die sie teils als Minderjährige, teils als junge Erwachsene begangen hatten. Beide sind im maßgeblichen Zeitpunkt unverheiratet und kinderlos gewesen. Bei beiden ist davon auszugehen, dass sie die Sprache des Staates ihrer Staatsangehörigkeit verstehen, weil sie in ihrer Herkunftsfamilie bis ins Jugendlichenalter gelebt haben (vgl. EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 - Fall Adam, EuGRZ 2002, S. 582 <584>). Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht außerdem darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer die türkische Sprache auch in Schriftform beherrsche, sodass einer Integration in der Türkei - auch auf Grund seines jungen Lebensalters - insofern keine gewichtigen Hindernisse entgegenstünden. Diese fachgerichtlich festgestellte Sprachkenntnis hat der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde nicht substantiiert in Abrede gestellt. Soweit der EGMR im Fall Adam hinsichtlich der familiären Bindung neben der Ehe- und Kinderlosigkeit noch bemerkt hat, dass der dortige Beschwerdeführer nicht mehr bei seiner Familie lebte, seitdem er im Alter von 16 Jahren in ein Jugendheim eingewiesen worden war, vermag dies keinen Unterschied von ausschlaggebendem Gewicht gegenüber dem vorliegenden Fall zu begründen. Denn sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 80, 81 <94 f.>) als auch des EGMR (vgl. Urteil vom 17. April 2003 - 52853/99 - Fall Yilmaz) lassen die Beziehungen zwischen einem erwachsenen Kind und seinen Eltern keinen weitergehenden aufenthaltsrechtlichen Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK angezeigt erscheinen, wenn nicht das erwachsene Kind auf die Hilfe der Eltern angewiesen ist und sich diese Hilfe nur im Inland erbringen lässt.

Es kann nach alledem festgehalten werden, dass auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR bei dem Beschwerdeführer als unverheiratetem und kinderlosem Ausländer der zweiten Generation, der zu einer mehrjährigen Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt worden ist und die Sprache des Staates seiner Staatsangehörigkeit zumindest in Grundzügen versteht, die Ausweisung nicht unverhältnismäßig im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG ist.

3. Soweit der Beschwerdeführer schließlich einen Verstoß gegen europäisches Recht unter Hinweis auf Art. 14 ARB Nr. 1/80 und das gegen die Bundesrepublik Deutschland laufende Verfahren wegen Verletzung der Richtlinie 64/221/EWG rügt, hat er weder diesen Verstoß noch sich eine daraus ergebende Grundrechtsverletzung substantiiert dargelegt.

III.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Von einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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