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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 30.09.2005
Aktenzeichen: 2 BvR 1656/03
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 103 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1656/03 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 12. August 2003 - 22 Ss 86/03 -,

b) das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 19. Februar 2003 - 29 Ns 95/02 -,

c) das Urteil des Amtsgerichts Lüneburg vom 22. Mai 2002 - 15/13 Ds 502 Js 10134/01 (133/01) -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 30. September 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des Straftatbestands der Störung öffentlicher Betriebe (§ 316 b Abs. 1 Nr. 1 StGB) auf eine Gleisblockade.

I.

1. Die Fachgerichte haben die Beschwerdeführer wegen gemeinschaftlicher Störung öffentlicher Betriebe nach § 316 b Abs. 1 Nr. 1 StGB jeweils zu Geldstrafen verurteilt. Die Beschwerdeführer hatten sich, um einen auf der Strecke herannahenden so genannten Castor-Transport zumindest aufzuhalten, auf der hierfür benutzten Eisenbahnstrecke festgekettet. Der Beschwerdeführer zu 2. hatte einen Arm unter eines der beiden Gleise hindurchgeführt und beide Hände in eine von ihm mitgeführte Eisenröhre gesteckt, um sich im Inneren der Röhre zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt anzuketten; die weiteren Beschwerdeführer hatten einen Betonblock mit aufrecht stehenden Stahlröhren und einem an dessen unterem Ende eingeschweißten Steg benutzt, der bereits vor längerer Zeit in das Gleisbett eingebracht und mit Schotter abgedeckt worden war. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt vor Eintreffen der von ihnen telefonisch informierten Polizei und möglicherweise erst nach dem Anhalten des Castor-Transports arretierten sich die Beschwerdeführer an den genannten Vorrichtungen mit einem Vorhängeschloss. Ihre Befreiung, welche u.a. die Lösung der Schienenstränge und die Beseitigung des Schotterbettes auf einer Strecke von zehn Metern erforderte, gelang erst annähernd fünfzehn Stunden später.

2. Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1 und 2 GG, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ihrer Auffassung nach verstößt die Auslegung der Fachgerichte gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, weil in mehrfacher Hinsicht eine über den erkennbaren Wortsinn der Norm hinausgehende Interpretation vorliege. Zudem verletze die Anwendung der Strafvorschrift das Übermaßverbot, weil es mangels ausreichender Sozialschädlichkeit an der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für die Verhängung einer Kriminalstrafe fehle. Schließlich habe das Oberlandesgericht durch willkürlich angestellte eigene Sachverhaltsfeststellungen die Beschwerdeführer ihrem gesetzlichen Richter entzogen sowie ihre Ansprüche auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren verletzt.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Sie hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen vom Bundesverfassungsgericht schon entschieden sind (vgl. BVerfGE 23, 191 <202>; 45, 434 <435>; 56, 22 <27 ff.>). Ihre Annahme zur Entscheidung ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist mangels Beschwer unzulässig, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Amtsgerichts richtet, weil dieses Urteil durch die Entscheidung des Landgerichts prozessual überholt ist. Im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen Art. 103 Abs. 2 GG nicht.

a) Diese Verfassungsnorm verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass sich der Anwendungsbereich und die Tragweite der Straftatbestände aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 71, 108 <114 ff.>; 73, 206 <234 ff.>; 92, 1 <11 ff.>). Diese Verpflichtung soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist; andererseits soll sie gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im Voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird.

Das schließt freilich eine Verwendung von Begriffen nicht aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch wenn der Gesetzgeber im Strafrecht der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen hat, muss der Normadressat jedenfalls im Regelfall anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist "Analogie" nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Wortlaut einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen (vgl. BVerfGE 92, 1 <12>). Diese Grenze gilt nicht nur für eine tatbestandsergänzende, sondern auch für eine tatbestandsausweitende Interpretation (vgl. BVerfGE 92, 1 <16>).

b) An diesem Maßstab gemessen, begründet die Auslegung der Fachgerichte keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

aa) Verfassungsrechtlich waren die Fachgerichte nicht an der Annahme gehindert, die Deutsche Bahn AG sei ein öffentliches Verkehrsunternehmen und die betroffenen Gleisanlagen hätten zur Tatzeit dem öffentlichen Verkehr gedient, so dass ein taugliches Schutzobjekt der Strafnorm des § 316 b StGB vorliege. Diese Auslegung überschreitet nicht den Wortlaut der Strafnorm. Die von der Aktion der Beschwerdeführer betroffenen Gleisanlagen gehören zum allgemeinen Netz der von Unternehmen der Deutschen Bahn benutzten Eisenbahnstrecken. Dass sie hier in einem Einzelfall zeitweise ausschließlich dem Castor-Transport zur Verfügung standen, durften die Fachgerichte als lediglich vorübergehende besondere Nutzung verstehen, wodurch die allgemeine Zweckbestimmung der Betriebseinrichtungen nicht entfallen ist, zumal nach Abschluss des Sondertransports die Gleise wieder für den öffentlichen Bahnverkehr bereit standen. Soweit die Beschwerdeführer anführen, dass sich § 316 b StGB nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung nicht auf Werkbahnen erstreckt, sprechen sie eine andere Fallgestaltung an. Denn in jenem Fall geht es um eine ausschließlich privat genutzte Anlage, die zu keinem Zeitpunkt auch öffentlichen Zwecken und damit der Allgemeinheit dienen soll.

bb) Die Fachgerichte haben das in Art. 103 Abs. 2 GG geschützte Analogieverbot nicht durch die Annahme einer tatbestandsmäßigen Handlung im Sinne des § 316 b StGB verletzt.

Ihre Ansicht, die Beschwerdeführer hätten auf der betroffenen Bahnstrecke den Betriebsablauf beeinträchtigt und dadurch eine Betriebsstörung im Sinne des § 316 b StGB ausgelöst, indem sie schon dem äußeren Erscheinungsbild nach den Zustand der Gleisanlagen - ohne in deren Sachsubstanz einzugreifen - verändert hätten, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Beschwerdeführer bestreiten nicht, dass - wegen der weiteren tatbestandlichen Alternativen des "Zerstörens" und "Beschädigens" - das Vorliegen eines "Veränderns" nicht zwingend eine Substanzverletzung voraussetzt. Der Wortsinn des Merkmals "Verändern" schließt es jedenfalls nicht aus, die hier betroffene Verhaltensweise unter die Strafnorm zu subsumieren. Andererseits reicht der mögliche Bedeutungsgehalt dieser Tatalternative nicht derart weit, dass die Tragweite des Straftatbestands nicht mehr hinreichend begrenzt und damit nicht im Voraus durch den Gesetzgeber, sondern erst nachträglich durch die Rechtsprechung bestimmt würde.

Soweit die Beschwerdeführer meinen, die maßgebliche Ursache für das Anhalten des Zuges liege nicht in der unterhalb der Gleise angebrachten Betonkonstruktion, sondern in ihrem Verhalten im Zusammenspiel mit dieser Vorrichtung und gründe damit nicht auf eine "statische Lage", sondern eine "dynamische Aktion von Menschen", war den Fachgerichten eine andere Auslegung verfassungsrechtlich nicht verwehrt. Denn abgesehen von den daraus folgenden Abgrenzungsfragen spaltet die Auffassung der Beschwerdeführer das tatsächliche Geschehen in unnatürlicher Weise auf. Anders als im Falle eines bloßen Aufenthalts von Personen auf den Gleisen (vgl. OLG Celle, NStZ 2005, S. 217) lässt sich hier das Betreten der Bahnschienen nicht von der unmittelbar anschließenden Arretierung am Gleiskörper trennen. Das Verhalten der Beschwerdeführer war gerade darauf angelegt, die Funktionsfähigkeit der Gleisanlage durch eine Manipulation an der Sache selbst, nämlich durch die Nutzung einer Eisenröhre und der zu einem früheren Zeitpunkt eingelassenen Betonkonstruktion, für möglichst lange Dauer einzuschränken. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass im Tatbestand des § 316 b StGB im Unterschied zu anderen Delikten die Tatmodalität des "Hindernisbereitens" nicht ausdrücklich genannt ist.

cc) Schließlich waren die Fachgerichte nicht gehindert, das Vorliegen einer von den Beschwerdeführern verursachten Betriebsstörung im Sinne des § 316 b StGB zu bejahen.

Verfassungsrechtlich waren die Fachgerichte nicht gehalten, entscheidend auf den Zeitpunkt der Fixierung der Beschwerdeführer abzustellen, weil sich daraus, auch unter Berücksichtigung des zweistufigen Deliktsaufbaus, keine maßgeblichen Auswirkungen auf den Taterfolg - die abstrakte Gefährdung der Sicherheit des Eisenbahnbetriebs durch das Bewirken einer betrieblichen Störung - ergeben mussten.

Auch dass der Gesetzgeber diesen Tatbestand zugleich in den Katalog möglicher terroristischer Straftaten (§ 129 a StGB) aufgenommen hat, zwingt verfassungsrechtlich nicht zu einer bestimmten einschränkenden Auslegung. Damit hat der Gesetzgeber weniger gravierende Eingriffe nicht von der Strafbarkeit des § 316 b StGB ausgenommen.

2. Ebenso wenig liegt ein Verstoß gegen das Übermaßverbot vor.

Es liegt zuerst einmal in der Beurteilung des Gesetzgebers, die Funktionsfähigkeit wichtiger Einrichtungen der Infrastruktur, die der Allgemeinheit dienen, auch mit Mitteln des Strafrechts zu schützen. Ebenso ist die Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen, den erstrebten Schutz u.a. durch Schaffung eines abstrakten Gefährdungsdelikts gewährleisten zu wollen. Im Übrigen ist der Schwere der Tat im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen, wobei die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB sowie die nach §§ 153, 153 a StPO vorgesehene Einstellung des Verfahrens eine dem Einzelfall angemessene, nicht übermäßige Reaktion ermöglichen. Die Fachgerichte haben die Motivation der Beschwerdeführer strafmildernd berücksichtigt. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch, ihre Handlung gänzlich von der Strafandrohung auszunehmen, ist nicht gegeben.

3. Das Oberlandesgericht hat nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen.

a) Zwar kann diese Verfassungsnorm verletzt sein, wenn ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht zwecks weiterer Sachaufklärung unterlässt. Die Verkennung der dem Revisionsgericht gezogenen Grenzen verstößt jedoch nur dann gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist (vgl. BVerfGE 54, 100 <115 f.>). Dies ist nur dann der Fall, wenn die Entscheidung eines Gerichts sich bei Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist; sie muss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sein (vgl. BVerfGE 29, 45 <49>). Ob die Entscheidung des Revisionsgerichts auf willkürlichen Erwägungen beruht, ist jeweils nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu entscheiden (vgl. BVerfGK 2, 207 <210>).

b) Danach liegt hier keine willkürliche Rechtsanwendung des Oberlandesgerichts vor. Bei der beanstandeten Wendung, es sei - dem gemeinsamen Tatplan entsprechend - zu einer "Unterhöhlung" des Gleisbetts gekommen, handelt es sich ersichtlich um eine Zusammenfassung von Feststellungen des Tatgerichts. Darin liegt keine eigene Tatsachenfeststellung des Revisionsgerichts. Nach den Feststellungen des Tatgerichts hatte der Beschwerdeführer zu 2. im Rahmen des gemeinsamen Vorgehens seinen Arm in einer Eisenröhre unterhalb eines Gleises hindurchgeführt; dies setzt voraus, dass zuvor an der betreffenden Stelle das Schotterbett beseitigt worden war. Es ist jedenfalls nicht willkürlich, wenn das Oberlandesgericht die Feststellungen des Landgerichts zur Tathandlung des Beschwerdeführers zu 2. in lediglich abweichender Wortwahl als "Unterhöhlung" bezeichnet hat. Wie sich aus dem Zusammenhang der Urteilspassage ergibt, hat das Oberlandesgericht diesen Begriff nicht auf die Tathandlungen der weiteren Beschwerdeführer bezogen.

4. Also verletzt die Entscheidung des Oberlandesgerichts auch nicht das Recht der Beschwerdeführer auf ein faires Verfahren und ihren Anspruch auf rechtliches Gehör.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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