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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 29.07.2003
Aktenzeichen: 2 BvR 1720/01
Rechtsgebiete: BVerfGG, StPO, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 32
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93b
StPO § 458 Abs. 1
StPO § 462 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1720/01 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 28. Juni 2002 - 3 Ws 201-207/02 -,

b) den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. Mai 2002 - 3 Ws 136-137 und 186-188/02 -,

c) den Beschluss des Landgerichts Wuppertal vom 1. Oktober 2001 - 1 StVK 668 und 749/01 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 29. Juli 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Strafzeitberechnung und ihre gerichtliche Kontrolle.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nicht vorliegt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Ihr kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 20 <24 ff.>).

1. a) Entscheidungen über die Berechnung der Strafzeit betreffen ebenso wie die Anrechnung von Untersuchungshaft und anderen Freiheitsentziehungen den Umfang der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Sie berühren damit grundsätzlich die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 86, 288 <311>). Dieses Freiheitsrecht beeinflusst als objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>) auch die Auslegung und Anwendung von Vorschriften, die auf die rechtstechnische Umsetzung und die Kontrolle der Rechtmäßigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen gerichtet sind.

Angesichts der unmittelbaren Auswirkungen der Strafzeitberechnung auf das Freiheitsrecht sind alle beteiligten staatlichen Gewalten verpflichtet, bei der Strafzeitberechnung besonders sorgfältig zu prüfen, um Fehler soweit möglich zu vermeiden. Ist gleichwohl ein Fehler unterlaufen, ist dieser soweit möglich auszugleichen. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet notfalls auch eine verfahrensübergreifende Anrechnung erlittener Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 29, 312 <316 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. September 1998 - 2 BvR 2232/94 -, NStZ 1999, S. 24; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 1998 - 2 BvR 2535/95 u.a. -, NStZ 1999, S. 125; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 1999 - 2 BvR 1368/98 -, NStZ 1999, S. 570).

b) Ob die Entscheidung des Landgerichts diesem Maßstab gerecht wird, ist hier nicht zu entscheiden, weil eine mögliche Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG im Beschwerdeverfahren geheilt worden ist.

Für die richtige Berechnung der Strafzeit sind zuvörderst die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde (§ 451 Abs. 1 StPO) und daneben die Justizvollzugsanstalten als Vollzugsbehörden (§ 36 Abs. 1 Satz 2 StVollstrO) verantwortlich. Bestehen Zweifel an der Berechnung der erkannten Strafe, kann der Verurteilte seine Einwendungen im Verfahren nach § 458 Abs. 1 StPO geltend machen und so eine gerichtliche Kontrolle der Strafvollstreckung herbeiführen.

Im Verfahren über die Kontrolle der Strafzeitberechnung ist die Strafvollstreckungskammer nach § 462 Abs. 2 Satz 1 StPO verpflichtet, die beteiligten Staatsanwaltschaften zu hören. Gerade beim Zusammentreffen mehrerer, durch verschiedene Staatsanwaltschaften zu vollstreckender Freiheitsstrafen muss sich das Gericht eine das gesamte Vollstreckungsverfahren umfassende Entscheidungsgrundlage verschaffen, wenn der Vortrag des Verurteilten hierfür hinreichenden Anlass gibt. Das kontrollierende Gericht muss sich in die Lage versetzen, den Gegenstand seiner Prüfung aus eigener Anschauung zu kennen, um die erhobenen Einwendungen beurteilen zu können. Es darf sich hierbei der besonderen Sachkunde der Strafvollstreckungsbehörde bedienen, muss im Zweifel aber an ihrer Stelle die Strafzeit berechnen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 458 Rn. 3).

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts genügt diesen Anforderungen. Im Beschwerdeverfahren wurde die Anhörung der Staatsanwaltschaft Wuppertal nachgeholt und wurden alle Strafzeiten des Beschwerdeführers neu berechnet. Die Neuberechnung ergab, dass die zuvor durchgeführte Strafzeitberechnung fehlerhaft war, weil Sicherungshaft bei der Berechnung der weiteren Haftzeiten unberücksichtigt geblieben war. Gleiches gilt für eine teilweise nicht angerechnete Untersuchungshaft im späteren Vollstreckungsverlauf. Beide Fehler beruhten auf einem Versehen der Vollstreckungsbehörden. Anders als in den Fällen der Anrechnung verfahrensfremder Haftzeiten ging es daher im gerichtlichen Verfahren nicht um eine bewusst versagte Anrechnung bekannter Freiheitsentziehungen, sondern um die Aufdeckung eines Rechenfehlers. Dass eine Anrechnung der Sicherungs- und Untersuchungshaft erfolgen musste, stand außer Frage (vgl. § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB, §§ 450 Abs. 1, 453c Abs. 2 Satz 1 StPO). Der Mangel wurde im Beschwerdeverfahren geheilt. Das Oberlandesgericht hat die verfahrensrechtlich und sachlich ungenügende Entscheidung das Landgerichts aufgehoben.

Soweit der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerde-Verfahren rügt, seine Strafzeitberechnung sei entgegen der eingehenden Prüfung durch die Generalstaatsanwaltschaft und das Oberlandesgericht weiterhin unzutreffend, betrifft dies in erster Linie die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Eine ins Einzelne gehende Nachprüfung ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 95, 96 <141>).

2. a) Eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers liegt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung vor. Aus dem Freiheitsrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ergibt sich ein Beschleunigungsgebot für gerichtliche Entscheidungen (vgl. BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 21, 184 <187>; 21, 220 <222>; 21, 223 <225 f.>; 36, 264 <273>; 46, 194 <195>). Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen Anspruch auf angemessene Beschleunigung gerichtlicher Verfahren, in denen über die Rechtmäßigkeit der Fortdauer einer Freiheitsentziehung entschieden wird.

Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden (vgl. BVerfGE 46, 17 <28>; 55, 349 <368 f.>). Insbesondere sind der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens ihrer gerichtlichen Kontrolle, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten zu berücksichtigen. Dabei ist auch das Prozessverhalten des Verurteilten angemessen zu bewerten.

b) Die Verfahrensbehandlung durch das Landgericht wird in zeitlicher Hinsicht diesem Maßstab noch gerecht. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Landgericht einen komplexen Sachverhalt zu ermitteln hatte, um auf die Einwendungen des Beschwerdeführers dessen Strafzeitberechnung kontrollierend nachzuvollziehen. Gegen den Beschwerdeführer wurden von drei Staatsanwaltschaften fünf Freiheitsstrafen vollstreckt. Daneben befand sich der Beschwerdeführer aus verschieden deutbaren Gründen in Sicherungshaft, später in Untersuchungshaft. Während seiner Haftzeit wurde er zu einer weiteren Freiheitsstrafe verurteilt. Ohne Anhörung der Staatsanwaltschaften und Beiziehung der Akten war eine sachgerechte Entscheidung des Landgerichts nicht möglich. Es lag daher nicht neben der Sache, wenn das Landgericht den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 27. September 2001 darauf hinwies, dass noch Stellungnahmen der beteiligten Staatsanwaltschaften ausstanden, die nach § 462 Abs. 2 Satz 1 StPO vom Gericht gehört werden mussten. Deren Stellungnahmen waren wiederum von der Übersendung der Strafvollstreckungsakten der anderen Staatsanwaltschaften abhängig.

3. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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