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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 09.08.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1766/03
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 1766/03 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 27. August 2003 - VAs 784/03 -,

b) mittelbar Art. 1 § 8 Nr. 1 RBerG

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 9. August 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 27. August 2003 - VAs 784/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Zulässigkeit eines unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustande gekommenen Antrags auf eine gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG in Verbindung mit § 456a StPO.

1. Der Beschwerdeführer ist albanischer Staatsangehöriger. Am 3. Mai 2001 verurteilte ihn das Landgericht Weiden - unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung - wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und 6 Monaten. Das zuständige Landratsamt verfügte sodann die Ausweisung des Beschwerdeführers und ordnete dessen sofortige Abschiebung mit der Entlassung aus der Strafhaft an.

2. Die Staatsanwaltschaft Weiden lehnte mit Bescheid vom 17. April 2003 den Antrag des Beschwerdeführers ab, nach § 456a StPO von der weiteren Vollstreckung abzusehen. Der Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht Nürnberg wies dagegen erhobene Einwendungen des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 30. Juni 2003 zurück. Der Beschwerdeführer beantragte sodann eine gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 EGGVG. Der Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht Nürnberg beantragte, den Antrag als unbegründet zurückzuweisen.

3. Das Oberlandesgericht verwarf den Antrag mit Beschluss vom 27. August 2003 als unzulässig. Der Antrag sei mit Wissen des Beschwerdeführers von einem dem Gericht auch aus anderen Verfahren bekannten Strafgefangenen unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz gefertigt worden. Eine unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustande gekommene Antragsschrift könne nicht Gegenstand einer oberlandesgerichtlichen Prüfung sein. Es könne nicht angehen, dass ein Gericht gezwungen werde, gegen Recht und Gesetz verstoßende Anträge in sachlicher Hinsicht beurteilen zu müssen. Dies würde einer unzulässigen Beihilfe zu gesetzwidrigen Handlungen gleichkommen. Ohne Bedeutung sei dabei, dass der Urkundsbeamte die als Entwurf deklarierte vorgefertigte Antragsschrift unverändert entgegengenommen habe. Ergänzend führte das Oberlandesgericht Nürnberg aus, dass die auf Dauer angelegte rechtsberatende Tätigkeit eines Strafgefangenen geeignet sei, Abhängigkeiten und Autoritätsstrukturen entstehen zu lassen, die den Vollzugszweck und die Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt gefährden könnten.

II.

1. Der Beschwerdeführer rügt vor allem eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG und wendet sich mittelbar gegen das Rechtsberatungsgesetz. Ein - noch nicht einmal rechtskräftig festgestellter - Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz dürfe die Unzulässigkeit eines Antrags nicht zur Folge haben. Das Oberlandesgericht Nürnberg habe den Antrag auf gerichtliche Entscheidung willkürlich als unzulässig verworfen und dadurch die Rechtsweggarantie suspendiert.

2. Das Bayerische Staatsministerium hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat von einer Stellungnahme abgesehen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebenden Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 19 Abs. 4 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet.

1. Die vorliegenden verfassungsrechtlichen Fragen waren - bezogen auf einen im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt - bereits Gegenstand einer weiteren Verfassungsbeschwerde (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Dezember 2003 - 2 BvR 917/03 -, NJW 2004, S. 1373 f.). Auch im dort angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 9. Mai 2003 - Ws 220/03 - war eine Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der Strafvollstreckungskammer - mit einer der vorliegenden Entscheidung entsprechenden Begründung und unter Bezugnahme eines weiteren im Wesentlichen gleich lautenden Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 27. Juli 2001 - Ws 452/01 -, NStZ 2002, S. 55) - wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz als unzulässig verworfen worden.

2. Auch die im jetzigen Verfassungsbeschwerde-Verfahren angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Die Voraussetzungen und Bedingungen des Zugangs zu gerichtlichem Rechtsschutz werden durch das einfache Recht ausgestaltet. Dabei darf der Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 40, 237 <256>; 77, 275 <284>; stRspr). Dasselbe gilt für die gerichtliche Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts (vgl. BVerfGE 50, 16 <30>; 74, 228 <234>; 77, 275 <284>). Art. 19 Abs. 4 GG ist daher verletzt, wenn eine gerichtliche Sachentscheidung ohne nachvollziehbaren Grund versagt wird (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. März 2002 - 2 BvR 261/01 -, ZfStrVo 2002, S. 178). Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts vor allem auch darauf zu achten, dass der Zugang zu den Gerichten allen Bürgern auf möglichst gleichmäßige Weise eröffnet wird (BVerfGE 74, 228 <234>).

b) Hieran gemessen hält die Auffassung des Oberlandesgerichts, ein Antrag sei als unzulässig zu verwerfen, wenn bei seiner Erstellung ein Mitgefangener unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz tätig geworden ist, verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand.

Das Rechtsberatungsgesetz sieht als Mittel der Sanktionierung von Verstößen gegen die Verbote und Gebote des Rechtsberatungsgesetzes die Ahndung als Ordnungswidrigkeit (Art. 1 § 8 RBerG), nicht aber eine Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten des rechtssuchenden Antragstellers vor. Die Ordnungswidrigkeit begeht zudem nicht derjenige, der die unerlaubte Rechtsbesorgung lediglich - sei es auch in Kenntnis des an den Anderen gerichteten Verbots - in Anspruch nimmt und sich in seinen Rechtsangelegenheiten helfen lässt (vgl. Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Oktober 2002, Art. 1 § 8 RBerG, Rn. 18; Rennen/Caliebe, Rechtsberatungsgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 1 § 8 RBerG, Rn. 10 und Chemnitz/Johnigk, Rechtsberatungsgesetz, 11. Aufl. 2003, Art. 1 § 8 RBerG, Rn. 756, jew. m.w.N.). Dahinter steht die Annahme, dass der Rechtssuchende durch die Vorschriften des Rechtsberatungsgesetzes geschützt werden soll. Dieser Schutzrichtung läuft es zuwider, wenn an Verstöße gegen dieses Gesetz die vom Oberlandesgericht gezogenen prozessrechtlichen Folgerungen zulasten desjenigen geknüpft werden, der die untersagte Rechtshilfeleistung in Anspruch genommen hat.

Demgemäß geht für den Fall, dass ein Prozessbevollmächtigter mit seiner rechtsbesorgenden Tätigkeit gegen Art. 1 § 1 Abs. 1 RBerG verstößt, die herrschende Auffassung dahin, dass dieser durch konstitutiv wirkenden Beschluss vom weiteren Verfahren auszuschließen ist, sobald das Gericht von dem Verstoß Kenntnis erlangt (vgl. Rennen/Caliebe, a.a.O., Art. 1 § 1 RBerG, Rn. 199; Chemnitz/Johnigk, a.a.O., Art. 1 § 1 RBerG, Rn. 211 f., jew. m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2003 - 2 BvR 1311/03 -). Hingegen wird nicht angenommen, dass verfahrenseinleitende Anträge und andere Prozesshandlungen, die einem solchen Beschluss vorausgegangen sind, von vornherein unbeachtlich oder unzulässig wären, soweit sie unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen sind (vgl. BGHZ 54, 275 <281>).

Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht die Erwägung des Oberlandesgerichts, dass die rechtsberatende Tätigkeit des Mitinhaftierten geeignet sei, Abhängigkeiten und Autoritätsstrukturen entstehen zu lassen, die in ihren Auswirkungen den Vollzugszweck und die Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt gefährden könnten. Verbotener Rechtsberatung und deren Auswirkungen auf den Strafvollzug kann mit den Instrumenten des Strafvollzugsgesetzes - gegebenenfalls auch mit disziplinarischen Maßnahmen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 1997 - 2 BvR 2334/96 -, NStZ 1998, S. 103) - entgegengetreten werden.

Nicht tragfähig ist die Erwägung des Oberlandesgerichts, dass es möglich sein müsse, eine unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommene Rechtsbeschwerde als unzulässig zu behandeln, weil das Gericht andernfalls genötigt wäre, Beihilfe zu einer gesetzwidrigen Handlung zu leisten. Das Ordnungswidrigkeitenrecht kennt schon den Begriff der Beihilfe nicht; es behandelt jede Form der Beteiligung an einer Ordnungswidrigkeit als täterschaftliche Begehung (vgl. § 14 Abs. 1 OWiG). Die Annahme einer zurechenbaren Beteiligung des Gerichts ist auch deshalb verfehlt, weil die Pflichten des Gerichts im Zusammenhang mit der Gewährung von Rechtsschutz in erster Linie durch das Prozessrecht bestimmt werden. Verpflichtet dieses das Gericht zur rechtlichen Prüfung eines Antrags, so beteiligt sich das Gericht, indem es entsprechend verfährt, nicht an einem Rechtsverstoß, sondern handelt in Erfüllung seiner Rechtspflicht zur Gewährung von Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 103, 111 <137 f.>). Die Rechtfertigung für die Behandlung eines bei Gericht gestellten Antrags als unzulässig kann daher nur dem Prozessrecht entnommen werden.

Das Prozessrecht kennt keinen Grundsatz des Inhalts, dass nur rechtmäßig zustandegekommene Anträge zulässig sind. Auch aus dem ungeschriebenen Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte lässt sich ein solcher Grundsatz nicht ableiten. Ein Missbrauch ist dann anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Verfahrensordnung eingeräumte Möglichkeit zur Wahrung seiner Belange benutzt, um statt des Schutzes seiner Rechte gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. August 2001 - 2 BvR 282/00 sowie 2 BvR 406/00 -, NJW 2001, S. 3770; speziell für das Strafverfahren BGHSt 38, 111 <113>; Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, 1998, S. 21 m.w.N.). So verhält es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht. Der Beschwerdeführer begehrte mit seiner Rechtsbeschwerde die Überprüfung einer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückweisenden Entscheidung des Landgerichts, durch die er sich in seinen Rechten verletzt sah. Mag seine Rechtsbeschwerde auch unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen sein, so verfolgte sie doch ein sachliches, dem Zweck des Verfahrens entsprechendes Anliegen.

3. Die angegriffene Entscheidung beruht auf der nicht hinreichenden Berücksichtigung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte, wenn es seine Rechtsbeschwerde nicht als unzulässig behandelt hätte, weil sie nach seiner Auffassung unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen war. Die angegriffene Entscheidung ist daher wegen des festgestellten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben; auf die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen kommt es nicht an.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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