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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 11.11.2001
Aktenzeichen: 2 BvR 2348/00
Rechtsgebiete: StVollzG, StPO


Vorschriften:

StVollzG § 118 Abs. 2 Satz 2
StPO § 244 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 2348/00 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 24. November 2000 - 3 Ws 330/00 (StrVollz) -,

b) den Beschluss des Landgerichts Lüneburg vom 22. August 2000 - 17 StVK 55/00 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach und die Richter Hassemer, Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 11. November 2001 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Lockerungen beim Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

1. Der Beschwerdeführer leidet an einer Persönlichkeitsstörung mit einem Borderline-Syndrom. Er war im Heim aufgewachsen und danach in der DDR in den Jahren 1953 und 1955 u.a. wegen Landstreicherei, Autodiebstahls und unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt worden. In der Bundesrepublik kamen in den Jahren 1958/59 Verurteilungen wegen eines Passvergehens, wegen Diebstahls und wegen versuchter schwerer Gefangenenmeuterei hinzu. Am 15. Dezember 1969 wurde er wegen eines Mordes, den er aus niedrigen Beweggründen und auf grausame Weise begangen hatte, wegen versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen und wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu lebenslangem Zuchthaus als Gesamtstrafe verurteilt, die später in eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe umgewandelt wurde. Der Beschwerdeführer befand sich auf Grund dieser Verurteilung zunächst rund 20 Jahre lang in Haft. Er wurde durch Beschluss vom 25. Februar 1988 bedingt entlassen.

Am 2. August 1990 wurde der Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Er hatte nach der Haftentlassung mit einer Frau zusammengelebt, die ihn aber wegen seines Alkoholmissbrauchs und Streitigkeiten aufforderte, ihre Wohnung zu verlassen. Er geriet darüber in Wut und ergriff einen Hammer. Das Gericht führte aus, dass er höchstwahrscheinlich die Frau mit dem Hammer schlagen wollte, um sie für ihr Verhalten zu bestrafen. Es spreche einiges dafür, dass er sie töten wollte. Letztlich blieb dies im Strafurteil aber offen. Der Beschwerdeführer schlug die Frau, die ihm den Hammer abnehmen konnte, mit Fäusten und verursachte einen Durchriss ihrer Wange, als er sie daran hindern wollte, Hilfe herbeizurufen. Helfer mussten ihn gewaltsam von seinem Opfer trennen. Wegen dieser neuen Straftat wurde der Widerruf der Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung beantragt. Der Sachverständige betonte im Bewährungswiderrufsverfahren, der Beschwerdeführer habe bei Testaufgaben zu praktischen Vorkommnissen versagt. Seine intensive Abwehr habe ihm die Möglichkeit zu vernünftiger Betrachtung der Gegebenheiten verstellt. Sein Verhalten sei von einem Mangel an Selbstkritik und von Selbsttäuschung geprägt. Ein weiterer Sachverständiger erklärte ergänzend, es sei bei dem Beschwerdeführer in der Haft keine Nachreifung eingetreten. Er verfüge nicht über die Fähigkeit, mit seinen früheren Taten umzugehen, und wisse keinen Rat bei Beziehungsproblemen. Außerdem habe seit 1967 ständiger Alkoholmissbrauch vorgelegen, der nur in der Haftzeit nicht aufgefallen sei. Beim Beschwerdeführer seien Realitätsverzerrungen sowie eine Verleugnung des chronischen Alkoholmissbrauchs festzustellen. Seine problematische Persönlichkeitsstruktur habe sich im Laufe der Zeit nicht gebessert, sondern eher verschlechtert. Eine positive Sozialprognose könne deshalb nicht gestellt werden. Ansätze für eine Erfolg versprechende Therapie seien nicht zu erkennen. Der Beschwerdeführer meinte hingegen, er habe nichts schwer Wiegendes getan.

Das Landgericht Bremen widerrief die Strafaussetzung zur Bewährung am 10. Oktober 1989. Im Rahmen der Vollzugsplanung wurde ein am 8. Oktober 1993 erstelltes psychiatrisches Gutachten eines weiteren Sachverständigen eingeholt. Dieser Sachverständige ging vom Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aus. Er fand keine Gesichtspunkte, die eine günstige Prognose für den Beschwerdeführer begründen könnten. Aus der erkennbaren Gespanntheit und Aggressivität des Beschwerdeführers ergebe sich eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass er sich künftig erneut in gefährdende Konstellationen begeben werde.

Der Beschwerdeführer beantragte am 30. Dezember 1999 Vollzugslockerungen, zunächst in Form von Tagesausgängen in die Innenstadt von Celle. Dies lehnte die Justizvollzugsanstalt ab. Sie nahm auf die bisherigen, in anderem Zusammenhang erhobenen Befunde und Sachverständigenäußerungen Bezug und verwies darauf, dass der Beschwerdeführer ihrer Empfehlung, am sozialen Training und an der Suchtberatung in der Anstalt teilzunehmen, nicht gefolgt sei. Er habe bisher kaum Bereitschaft zur Mitwirkung an einer Behandlung gezeigt. Auch wenn er sich in der Justizvollzugsanstalt tadelfrei verhalte und Lockerungen in der Zeit seines Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt Bremen nicht missbraucht habe, könne dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich mit den gegen ihn ergangenen Urteilen und den Äußerungen der Sachverständigen zu seiner Persönlichkeitsstruktur nicht auseinander gesetzt habe. Hinweise auf eine positive Entwicklung seien nicht festzustellen. Die Aussagen in dem psychiatrischen Gutachten von 1993 sprächen nach wie vor gegen jede Gewährung von Vollzugslockerungen. Im Blick auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung sei ein Missbrauch von Ausgängen nicht mit ausreichender Sicherheit auszuschließen.

Der Beschwerdeführer beantragte die gerichtliche Entscheidung. Dem trat die Justizvollzugsanstalt entgegen. Im gerichtlichen Verfahren wurden Stellungnahmen der Anstaltspsychologin vorgelegt, die eine Bestätigung und Ergänzung der bisherigen Befunde ergaben. Insbesondere stellte der gegenüber der Psychologin angespannt, autoritär-bestimmend und belehrend auftretende Beschwerdeführer das Gutachten des Sachverständigen von 1993 insgesamt als falsch dar.

Das Landgericht lehnte den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab. Die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt nach § 11 Abs. 2 StVollzG sei auf der genannten Beweisgrundlage ermessensfehlerfrei ergangen.

Das Oberlandesgericht verwarf die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Rechtsbeschwerde als unzulässig im Sinne des § 116 Abs. 1 StVollzG.

2. Der Beschwerdeführer sieht sich in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG, ferner aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Die Fachgerichte hätten verkannt, dass nach 31 Jahren Haft der Freiheitsanspruch erheblich an Bedeutung gewinne. Vor diesem Hintergrund bestünden besondere Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärung. Der Rückgriff auf ein sieben Jahre altes Sachverständigengutachten reiche nicht aus. Es bestehe die Gefahr, dass sich die Justizvollzugsanstalt künftig immer wieder auf das Gutachten des Sachverständigen aus dem Jahre 1993 zurückziehe und keine Bemühungen mehr unternehme, seine Resozialisierung zu erreichen. Die Annahme des Landgerichts, ein weiteres Gutachten werde keine wesentlichen neuen Erkenntnisse erbringen, sei eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung. Die Stellungnahme der Anstaltspsychologin enthalte nachgeschobene Feststellungen der Justizvollzugsanstalt und hätte daher vom Landgericht nicht berücksichtigt werden dürfen. Erfahrungen mit seinem Verhalten bei selbst gestalteten Vollzugslockerungen in den Jahren 1981 bis 1988 seien zu Unrecht nicht in die Entscheidungen einbezogen worden. Ein Rückfall in Beziehungstaten könne allein im Rahmen von Vollzugslockerungen nicht erfolgen. Die Maßstäbe für Prognosen nach § 11 Abs. 2 StVollzG und §§ 57a, 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB seien vermengt worden. Eine Missbrauchsgefahr sei nicht im Sinne des § 11 Abs. 2 StVollzG konkret geprüft worden. Mangelnde Mitwirkungsbereitschaft am Behandlungsvollzug sei kein Grund, ihm Vollzugslockerungen zu versagen. Die mit seiner Persönlichkeitsstörung zusammenhängenden Einschränkungen seiner Mitwirkungsbereitschaft dürften ihm nicht vorgeworfen werden.

3. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie zum Teil unzulässig, im Übrigen jedenfalls unbegründet ist.

a) Die Begründung der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts geht an der indiziellen Bedeutung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (vgl. dazu Kröber, NStZ 1998, S. 80 <81>) und der darauf beruhenden Straftaten gegen Leib und Leben anderer für die Missbrauchsprognose im Sinne des § 11 Abs. 2 StVollzG vorbei. Dass die Justizvollzugsanstalt und die Fachgerichte die unterschiedliche Zielrichtung der verschiedenen einfach-rechtlichen Rechtsinstitute und zugleich des Freiheitsrechts und des Resozialisierungsanspruchs des Beschwerdeführers verkannt hätten, ist aus der Anknüpfung an Befunde, die für beide Prognoseentscheidungen relevant sein können, noch nicht abzuleiten. Der Bescheid der Justizvollzugsanstalt und die landgerichtliche Entscheidung entnahmen der Art der Begehung früherer Straftaten und dem bei dem Beschwerdeführer festgestellten Borderline-Syndrom die Gefahr der Begehung von Straftaten auch bereits beim Ausgang in die Innenstadt von Celle. Diese vertretbare Tatsachenbewertung hat das Bundesverfassungsgericht nicht im Einzelnen nachzuprüfen (vgl. BVerfGE 95, 96 <128>).

Der Einwand des Beschwerdeführers gegen die landgerichtliche Entscheidung, langjährige Erfahrungen mit seinem Verhalten bei Vollzugslockerungen in den Jahren 1981 bis 1988 seien nicht berücksichtigt worden, trifft nicht zu. Diese Aspekte wurden in dem Bescheid der Justizvollzugsanstalt, den das Landgericht gebilligt hat, ausdrücklich erwähnt. Sie wurden durch die später begangene Straftat, die dem Urteil vom 2. August 1990 zugrunde lag, auch so in den Hintergrund gedrängt, dass sie in der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen landgerichtlichen Entscheidung nicht mehr hervorgehoben werden mussten.

b) Die Vollziehung der lebenslangen Freiheitsstrafe - auch unter Versagung von entlassungsvorbereitenden Vollzugslockerungen (vgl. BVerfGE 86, 288 <327 f.>) auf der Grundlage der dafür maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen - verstößt nicht generell gegen das Freiheitsrecht und die Menschenwürde eines Verurteilten (vgl. BVerfGE 45, 187 <223 ff., 253 ff.>; 64, 261 <270 ff.>). Dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten muss grundsätzlich die Chance erhalten bleiben, jemals die Freiheit wieder zu erlangen (BVerfGE 45, 187 <239, 245 ff.>). Mit welchem genauen Inhalt diese verfassungsrechtliche Vorgabe auch nach einem Bewährungswiderruf wegen neuer Straftaten für den bereits bedingt aus der lebenslangen Haft entlassenen und an einer kaum therapierbaren Persönlichkeitsstörung leidenden Verurteilten gilt, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Jedenfalls wird gerade in solchen Fällen eine Mitwirkung des Verurteilten am Behandlungsvollzug vorausgesetzt werden können, um das Vollzugsziel der Resozialisierung doch noch zu erreichen; denn ein sinnvoller Behandlungsvollzug, der die notwendige Ergänzung der Vollziehung der lebenslangen Freiheitsstrafe ist (BVerfGE 64, 261 <272>), kommt ohne die Mitwirkung des Gefangenen nicht aus. Darauf haben die Justizvollzugsanstalt und das Landgericht verwiesen, ohne Grundrechte des Beschwerdeführers zu verletzen. Ein unbedingter Anspruch auf bestimmte Vollzugslockerungen, wie Ausgang, als Maßnahmen im Behandlungsvollzug besteht nicht.

c) Soweit der Beschwerdeführer einen Verfahrensmangel der landgerichtlichen Entscheidung geltend macht, hat er den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht beachtet, weil er im Rechtsbeschwerdeverfahren keine formgerechte Verfahrensrüge (§ 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 244 Abs. 2 StPO) angebracht hatte.

Im Übrigen wäre diese Rüge im Verfassungsbeschwerde-Verfahren auch unbegründet. Ein Aufklärungsmangel (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>) liegt nicht vor. Der Beschwerdeführer ist im Verlaufe des Strafvollstreckungsverfahrens von vier Sachverständigen begutachtet worden, deren Ergebnisse eindeutig sind und im Blick auf die Dauerhaftigkeit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (vgl. Kröber, NStZ 1998, S. 80) auch fortgelten. Die zeitnahen Stellungnahmen der Anstaltspsychologin vom 28. März 2000 und vom 16. Juni 2000 kamen hinzu. Diese konnten vom Landgericht im Freibeweisverfahren für die Beurteilung der prozessualen Frage herangezogen werden, ob weiterer Aufklärungsbedarf bestand. Dies war nach den Auskünften der Anstaltspsychologin nicht der Fall. Der Beschwerdeführer geht darauf inhaltlich nicht ein. Nachträglich getroffene "Feststellungen der Justizvollzugsanstalt", die dem zur Nachprüfung gestellten Behördenbescheid nicht zu Grunde gelegen hatten, enthalten die Stellungnahmen entgegen seiner Ansicht nicht; es ging nur um die Klärung der Frage, ob jüngere Anknüpfungstatsachen ein zeitnahes Sachverständigengutachten erforderten.

d) Warum die auf § 116 Abs. 1 StVollzG gestützte Prozessentscheidung des Oberlandesgerichts Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzen soll, hat der Beschwerdeführer nicht ausgeführt (vgl. BVerfGE 89, 315 <321>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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