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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 26.09.2001
Aktenzeichen: BVerwG 11 C 16.00
Rechtsgebiete: BauGB


Vorschriften:

BauGB § 125 Abs. 3
BauGB § 127
Eine Stichstraße ist nicht ohne weiteres schon deshalb als erschließungsbeitragsrechtlich unselbständig zu qualifizieren, weil sie - bei geradem Verlauf - lediglich eine Länge von 75 m aufweist. Werden im allgemeinen Wohngebiet auf der überwiegenden Länge einer solchen Stichstraße zu beiden Seiten zwei- bis dreigeschossige Gebäude in geschlossener Bauweise errichtet und dient sie zusätzlich der Erschließung einer an ihren Wendehammer anschließenden drei- bis viergeschossigen Bebauung, so muss sie wegen dieser "Bebauungsmassierung" als selbständig angesehen werden.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 11 C 16.00

Verkündet am 26. September 2001

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2001 durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hien und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost, Kipp, Vallendar und Prof. Dr. Rubel

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für die Herstellung der Entwässerung der Straße Engelsberg in Solingen-Ohligs. Sie ist Miteigentümerin eines an dieser Straße gelegenen, 2 818 m² großen Grundstücks, das mit einem etwa 1900 errichteten zweigeschossigen Wohnhaus sowie mehreren Nebengebäuden bebaut ist. Es liegt im Geltungsbereich des seit dem 30. Oktober 1975 rechtsverbindlichen Bebauungsplans O 246 der Stadt Solingen, der dort ein allgemeines Wohngebiet ausweist. Der Bebauungsplan sieht u.a. im Bereich des klägerischen Grundstücks eine ca. 75 m lange und 9 m breite Stichstraße mit Wendehammer vor, die gegenüber dem Haus Nr. 47 in westlicher Richtung von der 10 m breiten Straße Engelsberg abzweigen soll und für die 631 m2 des Grundstücks der Klägerin sowie weitere Flächen der Nachbargrundstücke in Anspruch genommen werden sollen. Dadurch sollen weite Teile des Hinterlands der an die Weyerstraße angrenzenden Grundstücke einer Bebauung zugänglich gemacht werden. Vorgesehen ist auf beiden Seiten der Stichstraße die Errichtung von zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden in geschlossener Bauweise auf nördlich 57,5 m und südlich 42,5 m Länge. Westlich an den Wendehammer anschließend weist der Plan weitere, drei- bis viergeschossige Bebauung aus. Die Stichstraße ist jedoch bisher nicht angelegt worden; die für sie ausgewiesene Fläche ist vielmehr im alten Nutzungszustand als Teil der privaten Grundstücke verblieben.

Die Straße Engelsberg erstreckt sich in nord-südlicher Richtung von der Weyerstraße bis zur Deusberger Straße und ist ca. 350 m lang. Im Jahre 1966 begann der Beklagte mit dem Einbau eines Mischkanalsystems im Zuge der Straße, das zunächst in einem Teilstück vom nordöstlich des Grundstücks der Klägerin gelegenen Hochpunkt (Haus Nr. 47) in nördlicher Richtung bis zur Weyerstraße hergestellt wurde. Das südlich anschließende Teilstück von Haus Nr. 47 bis zur Deusberger Straße wurde in den Jahren 1989 und 1990 hergestellt.

Am 25. August 1994 beschloss der Rat der Stadt Solingen eine Abrechnungssatzung für die Erschließungsanlage Engelsberg, wonach Erschließungsbeiträge für die erstmalige endgültige Herstellung der Teileinrichtung Straßenentwässerung dieser Erschließungsanlage entsprechend § 127 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 8 der Erschließungsbeitragssatzung selbständig erhoben werden. Auf einer der Abrechnungssatzung beigegebenen Karte war der vorhandene Straßenzug schwarz markiert.

Mit Bescheid vom 26. September 1994 zog der Beklagte die Klägerin für die erstmalige endgültige Herstellung der Straßen-entwässerung zu einem Erschließungsbeitrag von 22 929,82 DM heran, wobei er eine anrechenbare Grundstücksfläche von 2 187 m2 zugrunde legte. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 1995 zurück. Der Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 26. September 1994 und des hierzu ergangenen Widerspruchsbescheids hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf mit Urteil vom 12. November 1996 stattgegeben.

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Beklagten gegen diese Entscheidung mit Urteil vom 10. November 2000 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Das Entstehen einer sachlichen Teilbeitragspflicht nach Kostenspaltung setze gemäß § 125 BauGB eine erschließungs- wie auch planungsrechtlich rechtmäßige Herstellung der betreffenden Anlage voraus. Dabei sei eine Planunterschreitung im Sinne des § 125 Abs. 3 Nr. 1 BauGB auch bei einem längenmäßigen Ausbaudefizit gegeben. Der im Bebauungsplan ausgewiesene Hauptzug der Straße Engelsberg und die im Bereich des klägerischen Grundstücks abzweigende Stichstraße würden in ihrem vorgesehenen Endzustand eine Erschließungsanlage bilden. Denn die Stichstraße weise - bei geradem Verlauf - lediglich eine Länge von ca. 75 m auf. Sie erscheine deshalb als unselbständige abzweigende Verlängerung des Hauptzuges. Der mithin (auch) durch die Ausweisung der Stichstraße planungsrechtlich vorgegebenen Längsausdehnung dieser Erschließungsanlage entspreche die abgerechnete Teileinrichtung nicht. Sie lasse nämlich keine räumlich-funktionale Zuordnung, die auch die geplante Stichstraße umfasse, erkennen. Die mithin gegebene Planunterschreitung im Sinne des § 125 Abs. 3 Nr. 1 BauGB sei mit den Grundzügen der Planung nicht vereinbar, weil die erkennbare Konzeption des Plangebers, nämlich weite Teile des Hinterlands der an die Weyerstraße angrenzenden Grundstücke einer Bebauung zugänglich zu machen, ohne den Ausbau der für den Stichweg erforderlichen Teileinrichtungen nicht verwirklicht werden könne. In der Abrechnungssatzung könne auch keine konkludente, den gesetzlichen Anforderungen genügende Abschnittsbildung gesehen werden.

Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision gegen dieses Urteil macht der Beklagte geltend, das Urteil verkenne den Regelungsgehalt von § 125 Abs. 3 Nr. 1 und § 130 Abs. 2 Satz 2 BauGB. Er beantragt,

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2000 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. November 1996 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision, gegen deren Zulässigkeit keine Bedenken bestehen, ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Aufhebung des Erschließungsbeitragsbescheids des Beklagten vom 26. September 1994 und des hierzu ergangenen Widerspruchsbescheids durch das Verwaltungsgericht mit der Begründung bestätigt, dass die mit jenen Bescheiden geltend gemachte Teilbeitragspflicht für die Teileinrichtung Straßenentwässerung der in Rede stehenden Erschließungsanlage mangels rechtmäßiger Herstellung noch nicht entstanden sei. Insoweit ist es zutreffend davon ausgegangen, dass das Entstehen einer sachlichen Teilbeitragspflicht nach Kostenspaltung sowohl eine erschließungsrechtlich als auch eine planungsrechtlich rechtmäßige Herstellung der Teile einer beitragsfähigen Erschließungsanlage voraussetzt, deren Kosten Gegenstand der Teilbeitragserhebung sind (vgl. BVerwGE 87, 288 <291>; 88, 53 <57>; 95, 176 <186>). Zutreffend ist auch die Feststellung der Vorinstanzen, die Teileinrichtung Straßenentwässerung, deren Kosten Gegenstand des angefochtenen Beitragsbescheids sind, sei nach den dafür maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen Teil einer selbständigen Erschließungsanlage, die allein aus dem Hauptzug der Straße Engelsberg ohne die im Bebauungsplan vorgesehene Stichstraße besteht. Bundesrecht verletzt jedoch die Annahme, bei dem nach § 125 BauGB gebotenen Vergleich der tatsächlich angelegten Einrichtung mit der im Bebauungsplan festgesetzten Anlage weiche die vorhandene Einrichtung von den Festsetzungen des Bebauungsplans ab, weil dieser zusätzlich noch eine Stichstraße vorsieht. Denn die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, der im Bebauungsplan ausgewiesene Hauptzug der Straße Engelsberg und die im Bereich des klägerischen Grundstücks nach Westen abzweigende Stichstraße würden in ihrem vorgesehenen Endzustand eine Erschließungsanlage bilden, steht mit den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Kriterien zur Frage der Selbständigkeit oder Unselbständigkeit von Stichstraßen nicht in Einklang.

Nach dieser Rechtsprechung, an der der Senat festhält, ist insoweit ausschlaggebend abzustellen auf den Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter von der zu beurteilenden Anlage vermitteln. Dabei kommt neben der Ausdehnung der Stichstraße und der Zahl der durch sie erschlossenen Grundstücke vor allem dem Maß der Abhängigkeit zwischen ihr und der Straße, in die sie einmündet, Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund sind grundsätzlich alle abzweigenden Straßen als unselbständig zu qualifizieren, die nach den tatsächlichen Verhältnissen den Eindruck einer Zufahrt vermitteln, d.h. (ungefähr) wie eine Zufahrt aussehen. Das ist typischerweise dann der Fall, wenn die Stichstraße bis zu 100 m lang und nicht abgeknickt ist. Diese beiden Kriterien sind jedoch nicht abschließend, sondern lassen Raum für Ausnahmen. Sind z.B. die anliegenden Grundstücke entsprechend geschnitten und werden an beiden Seiten einer etwa 80 m tiefen Sackgasse jeweils 8 m breite Reihenhäuser errichtet, verändert sich angesichts der "Bebauungsmassierung" der Eindruck von der abzweigenden Anlage; eine solche Anlage ähnelt nicht mehr einer unselbständigen Zufahrt, so dass sie ungeachtet ihrer vollständigen Abhängigkeit und ihrer geringen Tiefe von unter 100 m nicht mehr als unselbständig angesehen werden kann (vgl. BVerwGE 99, 23 <25 f.>).

Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Stichstraße erscheine in ihrem im Bebauungsplan vorgesehenen Endzustand allein schon deshalb als unselbständige abzweigende Verlängerung des Hauptzugs der Straße Engelsberg, weil sie - bei geradem Verlauf - lediglich eine Länge von 75 m aufweise, ist mit dieser Rechtsprechung unvereinbar. Vielmehr ist hier entscheidend, dass auf der überwiegenden Länge der Stichstraße zu beiden Seiten zwei- bis dreigeschossige Gebäude in geschlossener Bauweise vorgesehen sind und die Stichstraße zusätzlich der Erschließung einer westlich an den Wendehammer anschließenden drei- bis viergeschossigen Bebauung dienen soll. Die von der Stichstraße zu erschließende Bebauung weist damit ein solches Gewicht auf, dass die Stichstraße wegen dieser Massierung als selbständig angesehen werden muss. Der Ausbau der Straßenentwässerung des Hauptzugs der Straße Engelsberg ohne Berücksichtigung der Stichstraße weicht damit nicht von den Festsetzungen des Bebauungsplans ab.

Da die Klage auch mit Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Erschließungsteilbeitrags begründet worden ist, die bisher in beiden Vorinstanzen nicht geprüft worden sind und für deren Beurteilung in der Sache auch nicht revisibles Satzungsrecht maßgeblich ist, dessen Inhalt sich den vorgelegten Akten nicht entnehmen lässt und dessen Anwendung möglicherweise weitere tatsächliche Feststellungen erfordert, verweist der Senat die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 22 929,82 DM festgesetzt (§ 13 Abs. 2, § 14 GKG).

Ende der Entscheidung

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