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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 12.06.2003
Aktenzeichen: BVerwG 3 C 19.02
Rechtsgebiete: EV, VZOG, VwGO


Vorschriften:

EV Art. 22 Abs. 4
VZOG § 1 a Abs. 4
VwGO § 137 Abs. 2
Die Zuordnung ehemaligen Volkseigentums nach Maßgabe der überwiegenden Nutzung (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EV; § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG) setzt eine Nutzung des beanspruchten Vermögensgegenstandes zu mindestens zwei Zwecken voraus. Diese Voraussetzung trifft nicht zu auf ein Gebäude, das zu mehr als der Hälfte unbenutzbar war und im Übrigen Wohnzwecken diente. Das Gebäude gehört insgesamt zu dem zur Wohnungsversorgung genutzten volkseigenen Vermögen (Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV).
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 3 C 19.02

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 12. Juni 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Dr. Brunn und Dr. Graulich

ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 28. Januar 2002 und der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 1999 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass das Eigentum am Flurstück mit der Nummer 385 a der Gemarkung Beierfeld, Grundbuchblatt 208, am 3. Oktober 1990 auf die Klägerin übergegangen ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob das in der Gemarkung Beierfeld gelegene Flurstück 385 a am 3. Oktober 1990 der klagenden Gemeinde oder dem beigeladenen Freistaat Sachsen zustand.

Das Grundstück stand nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst in Privateigentum. Das darauf befindliche Gebäude diente als Lichtspieltheater. Aufgrund des Sächsischen Gesetzes zur Übernahme der Lichtspieltheater durch das Land Sachsen vom 10. Dezember 1948 (GVBl S. 651) wurde das Anwesen enteignet und ging in das Eigentum des Landes Sachsen über. Rechtsträger des 1953 in Volkseigentum überführten Grundstücks war zunächst der VEB Kreislichtspielbetrieb Schwarzenberg, später - ausweislich des Grundbuchs und des angefochtenen Bescheides - der VEB Gebäudewirtschaft Schwarzenberg.

Nach der Wiedervereinigung machten sowohl die Klägerin wie der Beigeladene Ansprüche auf das Grundstück geltend. Dabei berief sich der Beigeladene auf sein durch die Enteignung erlangtes Eigentumsrecht, das einen Restitutionsanspruch nach Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 Satz 7 EV begründe. Die Klägerin stützte ihr Begehren auf Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV i.V.m. § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG. Das Anwesen sei in der maßgeblichen Zeit zu 40 v.H. zu Wohnzwecken genutzt worden; im Übrigen sei es wegen Baufälligkeit unbewohnbar gewesen.

Mit Bescheid vom 10. Dezember 1999 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und stellte fest, dass der durch die zwischenzeitliche Veräußerung des Grundstücks erzielte Erlös dem Beigeladenen zustehe. Dabei ging sie davon aus, dass der Beigeladene einen Restitutionsanspruch habe, dem die Klägerin keine Ausschlussgründe entgegenzusetzen vermöge.

Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Januar 2002 mit folgender Begründung abgewiesen: Das streitgegenständliche Grundstück gehöre nicht zu dem im Sinne von Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV zur Wohnungsversorgung genutzten volkseigenen Vermögen. Das Anwesen habe sich weder in der Rechtsträgerschaft eines volkseigenen Betriebes der Wohnungswirtschaft befunden, noch lägen die Voraussetzungen des § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG vor. Da das Hausgrundstück nur zu 40 % zu Wohnzwecken genutzt worden sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass es für diesen Zweck "überwiegend" bestimmt war und genutzt wurde. Hingegen stehe dem Beigeladenen ein Restitutionsanspruch aufgrund des durch die Enteignung erlangten Eigentums an dem streitgegenständlichen Grundstück zu.

Die Klägerin begründet ihre gegen dieses Urteil eingelegte Revision wie folgt: Das streitgegenständliche Gebäude habe entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts insgesamt der Wohnungsversorgung im Gebiet der Klägerin gedient. Bei fehlender Nutzbarkeit eines Gebäudeteiles komme es nämlich für die Gesamtbewertung auf die tatsächliche Nutzung des anderen Gebäudeteiles an.

Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts dient ein teilweise bewohntes Gebäude auch dann "überwiegend" Wohnzwecken (Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV i.V.m. § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG), wenn es zu einem größeren Teil unbewohnbar war.

Die Klägerin kann die begehrte Feststellung verlangen, weil sie die Voraussetzungen des Art. 22 Abs. 4 EV erfüllt und deshalb Vorrang genießt vor einem etwaigen Restitutionsanspruch des Beigeladenen.

Gemäß Art. 22 Abs. 4 Sätze 1 und 3 EV ist das zur Wohnungsversorgung genutzte volkseigene Vermögen, das sich in Rechtsträgerschaft der volkseigenen Betriebe der Wohnungswirtschaft befand, mit Wirksamwerden des Beitritts in das Eigentum der Kommunen übergegangen. Diese Kriterien treffen zu Gunsten der Klägerin auf das streitgegenständliche Gebäude zu.

Allerdings ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, das Gebäude habe nicht in der Rechtsträgerschaft eines volkseigenen Betriebes der Wohnungswirtschaft gestanden, so dass der Klägerin ein Anspruch jedenfalls nach dieser Vorschrift nicht zustehen könne. An diese Feststellung ist der erkennende Senat indes nicht gebunden.

Freilich kann die Frage der Rechtsträgerschaft nicht etwa deshalb dahingestellt bleiben, weil den Kommunen das Eigentum an solchem Vermögen gemäß § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG auch dann zusteht, wenn es sich nicht in der Rechtsträgerschaft eines derartigen VEB befunden hat, diesem oder der Kommune aber zur Nutzung sowie zur selbständigen Bewirtschaftung übertragen worden war. Die Gleichwertigkeit dieser Voraussetzungen gilt nämlich nicht im Verhältnis zu entgegenstehenden Restitutionsansprüchen. Das von Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV unmittelbar erfasste Vermögen ist restitutionsfest, denn der die Restituierbarkeit von Finanzvermögen begründende Absatz 1 (Satz 7 i.V.m. Art. 21 Abs. 3 EV) dieses Artikels gilt bestimmungsgemäß nicht. Abweichend davon weist § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG den Kommunen das Wohnungsvermögen "nach Maßgabe des Artikels 22 Abs. 1 des Einigungsvertrages" zu. Dadurch wird der den Restitutionsvorbehalt enthaltende Art. 22 Abs. 1 Satz 7 EV i.V.m. Art. 21 Abs. 3 EV für anwendbar erklärt (vgl. Urteile vom 30. Januar 1997 - BVerwG 3 C 6.96 - Buchholz 428.2 § 2 VZOG Nr. 7 S. 17 sowie vom 28. September 1995 - BVerwG 7 C 84.94 - Buchholz 111 Art. 22 EV Nr. 15 S. 46). Unter der sich aufdrängenden Annahme eines begründeten Restitutionsanspruchs des Beigeladenen setzt der Klageerfolg somit die Rechtsträgerschaft eines VEB der Wohnungswirtschaft voraus.

Die von der Vorinstanz getroffene Feststellung zur Rechtsträgerschaft ist aber aktenwidrig und bindet deshalb das Revisionsgericht nicht. Ausweislich des Grundbuchs, des Zuordnungsbescheides der Beklagten sowie zahlreicher anderer Belege in den vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Gerichts- und Verwaltungsakten stand das Grundstück am 3. Oktober 1990 in der Rechtsträgerschaft des VEB Gebäudewirtschaft Schwarzenberg und somit eines Betriebes der Wohnungswirtschaft. Hierin sind sich alle Beteiligten einig. Offenbar hat sich das Verwaltungsgericht bei seiner nicht weiter begründeten Feststellung von der auf Seite 3 des Urteilsabdrucks erwähnten ursprünglichen Rechtsträgerschaft des VEB Kreislichtspielbetrieb Schwarzenberg im Jahre 1953 irreführen lassen und den späteren Rechtsträgerwechsel übersehen.

Ein solcher offensichtlicher Widerspruch zwischen einer tatsächlichen Feststellung im Urteil des Tatsachengerichts und der Aktenlage darf vom Revisionsgericht jedenfalls dann auch ohne Verfahrensrüge von Amts wegen berücksichtigt werden, wenn die Verwaltungsvorgänge, aus denen sich ein solcher offensichtlicher Widerspruch ergibt, - wie hier - zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts gemacht und im Urteil verwertet worden sind (vgl. Urteil vom 29. April 1988 - BVerwG 9 C 54.87 - BVerwGE 79, 291).

Bei dem streitgegenständlichen Anwesen handelt es sich trotz des 60-prozentigen Leerstandes um "zur Wohnungsversorgung genutzte(s) volkseigene(s) Vermögen" i.S. von Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV. Es diente nämlich "ganz oder überwiegend Wohnzwecken" und erfüllte somit die maßgeblichen Kriterien der in § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG enthaltenen Legaldefinition.

Das Verwaltungsgericht hat die Anwendbarkeit dieser Tatbestandsvoraussetzung auf ein zu 40 % zu Wohnzwecken und zu 60 % nicht genutztes Hausgrundstück allerdings mit der Begründung verneint, der Wohnzweck sei hier nicht der überwiegende. Diese Bewertung greift die Revision zu Recht an.

Richtig ist, dass bei einem nur zu 40 % genutzten Gebäude die Nichtnutzung die Nutzung überwiegt. Eine 40-prozentige Nutzung für Wohnzwecke kann also nur überwiegen, wenn die 60-prozentige Nichtnutzung unberücksichtigt zu bleiben hat. Hiervon ist aus folgenden Gründen auszugehen:

Dem Zuordnungsmerkmal "überwiegende Nutzung" liegt die Vorstellung einer Mehrzwecknutzung zugrunde, d.h. einer Nutzung zu verschiedenen Zwecken und regelmäßig durch verschiedene Zuordnungsprätendenten. Unter mehreren Nutzungsbeteiligten soll derjenige mit dem höchsten Nutzungsanteil zuordnungsberechtigt sein. Das Entscheidungsmerkmal "überwiegende Nutzung" dient also der Auflösung einer aus der Nutzung desselben Gegenstandes resultierenden Anspruchskonkurrenz. Eine solche ist nicht gegeben, wenn - wie im vorliegenden Fall - nur ein Nutzer bzw. Nutzungszweck vorhanden ist. Die vollständige oder partielle Nichtnutzung ist weder Nutzungszweck noch anspruchsbegründendes Zuordnungskriterium und hat daher außer Betracht zu bleiben. Sie ist das Gegenteil von Nutzung, so dass die Rechtsprechung des Senats zur gemischten Nutzung auf einen Fall wie den vorliegenden nicht übertragbar ist.

Für die alleinige Relevanz der genutzten Anteile spricht auch der das Zuordnungsrecht beherrschende generelle Vorrang des von einer stichtagsbezogenen Nutzung ausgehenden Funktionalprinzips gegenüber anderen Verteilungsschlüsseln. Er dient der Kontinuität der Aufgabenerfüllung, soll also die unterbrechungsfreie Fortführung der öffentlichen Aufgabe durch Belassung des beanspruchten Vermögensgegenstandes bei dem bisherigen Aufgabenträger ermöglichen (vgl. Urteil des Senats vom 24. Oktober 2002 - BVerwG 3 C 42.01 - BVerwGE 117, 125; ZOV 2003, 116; VIZ 2003, 182). Dies gilt in besonderer Weise für den Erhalt und die Ausweitung des ehemals volkseigenen Wohnungsbestandes. Dieses gesetzgeberische Anliegen findet seinen Ausdruck sowohl in dem bereits erwähnten Restitutionsausschluss in Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV wie auch in der Erstreckung dieser Privilegierung auf (nur) geplante Objekte der Wohnungsversorgung (Art. 22 Abs. 4 Satz 2 EV) sowie auf Wohngebäude, die am 3. Oktober 1990 - z.B. wegen Baufälligkeit - leer standen, jedoch der Wohnnutzung ganz oder teilweise wieder zugeführt werden sollen (§ 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG). Mit dieser Intention stünde es im Widerspruch, wenn eine aktuelle - nicht nur geplante - 40-prozentige Wohnnutzung trotz Fehlens einer anderweitigen Nutzung in Wegfall geraten dürfte.

Der Anspruch der Klägerin erweist sich somit als begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, ein zu 60 % wegen Baufälligkeit leer stehendes und zu 40 % Wohnzwecken dienendes Gebäude erfülle nicht die Voraussetzungen des Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV i.V.m. § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG. Wie bereits dargelegt, setzt sich der Anspruch aus Art. 22 Abs. 4 EV auch gegenüber Restitutionsansprüchen durch. Ob der beigeladene Freistaat restitutionsberechtigt ist oder nicht, braucht daher nicht entschieden zu werden.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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