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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 03.07.2003
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 11.02
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 9 Abs. 2 Satz 1
1. Die Gewährung der pauschalen Eingliederungshilfe nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG "zum Ausgleich für den erlittenen Gewahrsam" setzt voraus, dass der Spätaussiedler selbst in Gewahrsam gestanden hat. Die bis zum Stichtag geborenen Kinder teilen den Gewahrsam ihrer Eltern.

2. Für die Beendigung der Kommandanturaufsicht über deutsche Volkszugehörige ist nicht allein auf den Inhalt der hierfür maßgeblichen Verordnungen und Erlasse (Verordnung des Ministerrats vom 13. August 1954 betreffend die Aufhebung der Kommandanturaufsicht über so genannte Sondersiedler; Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 betreffend die generelle Beendigung der Kommandanturaufsicht für Deutsche) oder auf das Vorliegen behördlicher Aktenvermerke über das Ende der Kommandanturaufsicht abzustellen; die für den Gewahrsam kennzeichnenden Beschränkungen müssen tatsächlich beendet gewesen sein.


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 11.02

Verkündet am 3. Juli 2003

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 4. Mai 2001 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Der am 11. September 1955 geborene Kläger ist Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion. Sein Vater war im Krieg in die Trud-Armee einberufen worden und stand bis 1954 oder - der Zeitpunkt des Gewahrsamsendes ist streitig - 1956 in "Sondersiedlung" unter Kommandanturaufsicht. In einer vom Kläger vorgelegten Archivbescheinigung der regionalen inneren Verwaltung des Gebietes Perm vom 5. November 1997 wird bescheinigt, dass der Vater des Klägers bis zum 18. Oktober 1954 als "Sondersiedler" (spezposelenez) registriert gewesen sei; nach vom Kläger weiter vorgelegten Erklärungen von zwei Privatpersonen stand sein Vater bis einschließlich 1956 unter Kommandanturaufsicht.

Den Antrag des Klägers auf Gewährung einer pauschalen Eingliederungshilfe lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger sei erst nach der Beendigung der Kommandanturaufsicht geboren und habe deshalb keinen Gewahrsam erlitten (Bescheid vom 25. Februar 1998). Mit der nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 4. August 1998) erhobenen Klage begehrte der Kläger die Verpflichtung der Beklagten, ihm eine pauschale Eingliederungshilfe nach § 9 Abs. 2 BVFG in Höhe von 4 000 DM zu gewähren. Er machte geltend, die Kommandanturaufsicht sei erst nach dem 31. März 1956 aufgehoben worden; bis dahin habe eine verschärfte Umzugssperre und eine Meldepflicht bestanden.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen, weil ausweislich der Archivbescheinigung die Eltern des Klägers als Sondersiedler bereits im Oktober 1954 aus der Kommandanturaufsicht entlassen worden seien (Urteil vom 25. Oktober 2000). Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils verpflichtet, dem Kläger die beantragte Eingliederungshilfe zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Das Schicksal der Eltern des Klägers weiche nicht vom allgemeinen Schicksal der in "Sondersiedlung" festgehaltenen Russlanddeutschen ab. Es komme nicht darauf an, ob sie aus der Sondersiedlung bereits im Herbst 1954 oder erst mit deren allgemeiner administrativen Beendigung zum Jahreswechsel 1955/56 entlassen worden seien. Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 BVFG sei nach ihrem Wortlaut nicht dahin zu verstehen, dass Personen, die am Geburtsstichtag des 1. April 1956 noch Kleinstkinder gewesen seien, sich selbst in einem Gewahrsam befunden haben müssten. Das Gesetz nenne den "erlittenen Gewahrsam" nicht als tatbestandliche Voraussetzung des Anspruchs. Die Formulierung "für den erlittenen Gewahrsam" weise nicht auf einen individuellen, sondern auf einen kollektiven, als feststehend angesehenen Sachverhalt hin und könne als mitgeteiltes Motiv für die pauschale Regelung verstanden werden, darüber hinaus wohl auch als Ausschlussmerkmal für Ausnahmesachverhalte, die sich von dem durch die Worte "den Gewahrsam" gekennzeichneten Regelsachverhalt wesentlich unterschieden. Der Lebenssachverhalt, an den § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG anknüpfe, könne mit einer Kumulation der Voraussetzungen "vor dem 01.04.1956 geboren" und "Gewahrsam selbst erlitten" nicht sinnvoll erfasst werden. Der mit dem Begriff "Sondersiedlung" verbundene Gewahrsam, der nach sowjetischem Sprachgebrauch Zwangsumsiedler und Gebietsansässige unterschiedslos betroffen habe, sei mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955, der allerdings geheim gehalten worden sei, administrativ beendet worden. Der drei Monate später liegende Stichtag wäre funktionslos, wenn der einzelne Aussiedler selbst administrativen Beschränkungen unterlegen haben müsste. In jedem Fall setze das unterstellte Kriterium, persönlich in Gewahrsam gestanden zu haben, ein früheres Geburtsdatum voraus. Es sei auch schwerlich anzunehmen, der Gesetzgeber habe darauf abstellen wollen, dass Kinder im Säuglingsalter selbst Adressaten der administrativen Beschränkungen gewesen seien, oder dass die ihre Eltern betreffende Beschränkung jedenfalls nicht früher als drei Monate vor der Geburt des Kindes geendet hätten. Eine solche Differenzierung entspreche nicht der Lebenswirklichkeit, denn Kinder im Säuglingsalter empfänden den Gewahrsam nicht, vielmehr werde ihre weitere Entwicklung durch den Gewahrsam der Eltern und dessen soziale Folgewirkungen beeinträchtigt. Im diesem Sinne hätten die Kinder Gewahrsam erlitten, ohne Adressaten behördlicher Beschränkungen gewesen zu sein. Für diesen durch kollektives Schicksal gekennzeichneten, individuell aber mutmaßlich unterschiedlich verlaufenen Übergangssachverhalt habe der Gesetzgeber eine Stichtagsregelung getroffen, die auf das Geburtsdatum abstelle und damit eine Pauschalregelung enthalte, welche von der Gesamtbetroffenheit der Russlanddeutschen ausgehe und das Gebot der Praktikabilität beachte, individuelle Besonderheiten aber zurückstelle. Die Gesetzesbegründung unterstütze dieses Auslegungsergebnis. Es komme auf den Gewahrsam der Eltern und deren fortdauernde reale Diskriminierung, nicht aber auf den Gewahrsam der Kinder und darauf an, ob die Eltern des Klägers nicht erst Ende 1955, sondern schon im Herbst 1954 aus der Sondersiedlung entlassen worden seien.

Unter Hinweis auf eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahre 1996 (Eisfeld/Herdt, Deportationen, Sondersiedlung, Arbeitsarmee) hat die Vorinstanz weiter ausgeführt, es lasse sich nicht feststellen, dass mit einer (frühzeitigen) Entlassung aus der "Sondersiedlung" gemäß der innerhalb von 3 Monaten auszuführenden Verordnung des Ministerrats vom 13. August 1954 betreffend die Aufhebung der Kommandanturaufsicht über so genannte Sondersiedler Chancen zu einer realisierbaren Verbesserung der Lebensverhältnisse verbunden gewesen seien. Die UdSSR sei interessiert gewesen, die Bevölkerung an ihren (Sonder-) Siedlungsorten festzuhalten; deshalb sei auch der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955, der die Sondersiedlungen für Deutsche generell beendet habe, geheim gehalten worden. Vermutlich sei die "Entlassung" so abgelaufen, dass die Überwachung der betreffenden Personen eingestellt worden sei und die Akten einen entsprechenden Vermerk erhalten hätten, eine Bekanntmachung aber vermieden worden sei. Möglicherweise hätten die Eltern des Klägers erst mit den später durchsickernden Informationen über die Gesamtregelung vom 13. Dezember 1955 etwas davon erfahren, so dass die Befreiung nur theoretischer Natur gewesen sei. Es gebe Hinweise, dass die Verordnung vom 13. August 1954 nur wenige Personen erfasst habe. Dem Gesetzgeber, dem bei der Stichtagsregelung Einzelheiten der in der Sowjetunion getroffenen Maßnahmen nicht zugänglich gewesen seien, sei es bei der generalisierenden und das Gebot der Praktikabilität beachtenden gesetzlichen Abschlussregelung im Jahre 1992 nicht verwehrt gewesen, das Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen einheitlich zu bewerten, zumal angesichts der allgemeinen Fortdauer der Sondersiedlungen bis Ende 1955 kein Anhaltspunkt für eine generelle Wandlung der Verhältnisse bis zu diesem Zeitpunkt bestehe.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung. Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt den Rechtsstandpunkt der Beklagten.

II.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Auslegung des § 9 Abs. 2 BVFG durch das Berufungsgericht, der Anspruch auf die pauschale Eingliederungshilfe setze für bis zum Stichtag geborene Kinder einen persönlich "erlittenen Gewahrsam" nicht voraus, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das führt zur Aufhebung der Entscheidung und mangels Entscheidungsreife zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG erhalten Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 1. April 1956 geboren sind, "zum Ausgleich für den erlittenen Gewahrsam" auf Antrag eine pauschale Eingliederungshilfe in Höhe von 4 000 DM. Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht den Worten "zum Ausgleich für den erlittenen Gewahrsam" die normative Bedeutung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abgesprochen und sie als bloßes "mitgeteiltes Motiv" gewertet. Wortlaut, Systematik, Zweck und Entstehungsgeschichte der Bestimmung stützen vielmehr ein Verständnis der genannten Worte als verbindlicher Regelungsbestandteil des Gesetzes.

Der Wortlaut der Bestimmung, wonach die vor dem 1. April 1956 geborenen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion die pauschale Eingliederungshilfe "zum Ausgleich für den erlittenen Gewahrsam" erhalten, spricht prima facie dafür, dass die Berechtigten den Gewahrsam persönlich erlitten haben müssen, denn ein "Ausgleich" kann nur da erfolgen, wo es etwas auszugleichen gibt, in diesem Fall den im Gesetz genannten erlittenen Gewahrsam. Für die bis zum Stichtag geborenen Kinder bedeutet dies, dass sie noch unter Gewahrsamsbedingungen geboren sein müssen, so dass es entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanz darauf ankommt, ob der Gewahrsam der Eltern im Zeitpunkt der Geburt des Klägers noch oder nicht mehr bestand. Etwas anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass der erlittene Gewahrsam in § 9 Abs. 2 BVFG nicht als objektives Tatbestandsmerkmal formuliert ist, sondern als Zweck der Ausgleichsleistung genannt ist; die Verwendung des bestimmten Artikels (für "den" erlittenen Gewahrsam) statt einer Fassung ohne Artikel ("für erlittenen Gewahrsam") oder mit unbestimmtem Artikel (für "einen" erlittenen Gewahrsam) zwingt nicht zu der Annahme, das Gesetz knüpfe nicht an ein individuell "erlittenes" Schicksal, sondern an ein generell unterstelltes Gruppenschicksal an, dessen Voraussetzungen beim einzelnen Spätaussiedler nicht mehr zu überprüfen seien.

Soweit die Vorinstanz ihre Auslegung auf das Argument stützt, der Lebenssachverhalt, an den § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG anknüpfe, könne mit einer Kumulation der Voraussetzungen "vor dem 1. April 1956 geboren" und "Gewahrsam selbst erlitten" nicht sinnvoll erfasst werden, da der Gewahrsam bereits Ende 1955 administrativ beendet worden sei, lässt sie unberücksichtigt, dass die Festsetzung des Geburtsstichtages auf einen späteren Zeitpunkt als den der Jahreswende 1955/56 dem Umstand Rechnung tragen sollte, dass der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 mangels allgemeiner Bekanntgabe nicht sofort und überall umgesetzt worden ist. Auf die Geheimhaltung dieses Erlasses mit dem Zweck, die Umsetzung administrativ steuern zu können, hat die Vorinstanz selbst unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der Forschung (Eisfeld/Herdt, Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee, Köln 1996) hingewiesen. Dem Gesetzgeber waren, wie die Vorinstanz festgestellt hat, bei der Einführung der Stichtagsregelung die von den sowjetischen Behörden zur Umsetzung des Erlasses konkret getroffenen Maßnahmen sowie ersichtlich auch die vorangegangene Verordnung des Ministerrats vom 13. August 1954, welche primär die einheimische Bevölkerung betroffen zu haben scheint, nicht bekannt. Bei der Wahl des Stichtages ging es darum, durch eine in zeitlicher Hinsicht relativ großzügige Regelung den Berechtigtenkreis der Eingliederungshilfe auf die noch innerhalb einer Auslauffrist geborenen Personen zu erstrecken; zugleich wird der Geltungsbereich der Stichtagsregelung, die auch Personen, die damals noch Säuglinge und Kleinkinder waren, als Ausgleichsberechtigte einschließt, dadurch eingeschränkt, dass diese - noch - vom Gewahrsam betroffen gewesen sein müssen. Der Hinweis der Vorinstanz, die Lebenswirklichkeit von Säuglingen mache es schwer, sie selbst als Gewahrsamsbetroffene anzusehen, berücksichtigt nicht, dass im Häftlingshilfe- und im Kriegsgefangenenentschädigungsrecht der Grundsatz gilt, dass der in Gewahrsam Geborene das rechtliche Schicksal dessen teilt, in dessen Obhut er sich befindet (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 3. September 1980 - BVerwG 8 C 8.78 - <BVerwGE 60, 343, 353> m.w.N.). Dass dieser Grundsatz auch § 9 Abs. 2 BVFG zugrunde liegt, kommt in dem Hinweis der Gesetzesbegründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz - KfbG) zum Ausdruck, die vor dem 1. April 1956 noch im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Gewahrsam der Eltern geborenen Kinder hätten diesen Gewahrsam "erlitten" (BTDrucks 12/3212, S. 25).

Die tatbestandliche Funktion des Gewahrsamskriteriums wird durch die Gesetzesbegründung auch insofern nahe gelegt, als dort mehrfach die Regelung in § 9 Abs. 2 BVFG als Anschlussregelung für wegfallende Eingliederungshilfen auf der Grundlage der §§ 9 a bis 9 c Häftlingshilfegesetz und § 3 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz erklärt wird, welche Bestimmungen jeweils einen Gewahrsam im Sinne eines Festgehaltenwerdens auf eng begrenztem Raum unter dauernder Bewachung voraussetzen (vgl. Art. 5 und 6 Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, BGBl I 1992 S. 2094). Mit Blick auf die Neuregelung in § 9 Abs. 2 BVFG heißt es im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung unter der Überschrift "Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz - Heimkehrerstiftung" (BTDrucks 12/3212 S. 21):

"Den Hauptanteil der noch entschädigungsberechtigten Aussiedler machen heute die sog. Geltungskriegsgefangenen ... aus, die als Zivilpersonen interniert oder verschleppt worden sind. Sie kommen überwiegend aus der Sowjetunion ...

Diese Entschädigungsregelungen sind heute nicht mehr zeitgerecht und werden daher abgeschlossen. Eine Anschlussregelung für die betroffenen Russlanddeutschen ist im Bundesvertriebenengesetz vorgesehen."

Entsprechend heißt es zum Häftlingshilfegesetz (a.a.O. S. 21 f.):

"Der Personenkreis der Spätaussiedler - insbesondere der Russlanddeutschen - gehört zwar weiter zum Kreis der nach dem HHG Begünstigten. Er erhält aber künftig nicht mehr Eingliederungshilfen nach §§ 9a bis 9c HHG. Für Spätaussiedler aus der UdSSR, deren Lebensgrundlage auch nahezu fünfzig Jahre nach Kriegsende infolge des erlittenen Gewahrsams beeinträchtigt ist, ist nunmehr im Bundesvertriebenengesetz eine pauschale Eingliederungshilfe vorgesehen, die in einem schnellen und einfachen Verfahren gewährt werden kann."

Diese Erwägungen, die ein Verständnis des Gewahrsamserfordernisses im Lichte der genannten Vorgängerbestimmungen nahe legen, werden im besonderen Teil der Gesetzesbegründung aufgegriffen und um die Darlegung des besonderen Schicksals der Russlanddeutschen ergänzt, welches den sachlichen Grund für ihre Besserstellung gegenüber Spätaussiedlern aus anderen Ländern bildet, die keine pauschale Eingliederungshilfe erhalten. Zu § 9 Abs. 2 BVFG heißt es dort (a.a.O. S. 25):

"Ehemalige politische Häftlinge im Sinne des Häftlingshilfegesetzes, ehemalige Kriegsgefangene und Personen, die wegen einer Internierung als deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige als ehemalige Kriegsgefangene gelten, erhalten bisher Eingliederungshilfen im Rahmen der §§ 9a bis 9c HHG bzw. Entschädigung nach § 3 KgfEG. Beide Leistungen können Spätaussiedler aus den im allgemeinen Teil dargelegten Gründen nicht erhalten. Anstelle dieser Leistungen sind im Hinblick auf das besondere Schicksal der Russlanddeutschen für diese Personen weitere Eingliederungshilfen vorgesehen; denn im Gegensatz zu anderen deutschen Volksgruppen in den Aussiedlungsgebieten wurde nahezu die gesamte Volksgruppe während oder nach Kriegsende verschleppt. Bis zur Jahreswende 1955/56 stand sie unter Kommandanturaufsicht. Auch danach wurde sie in der UdSSR noch lange im Verhältnis zu anderen Nationalitäten diskriminiert. Jahrzehntelanger Gewahrsam und Benachteiligungen wirken sich bei vielen noch heute aus.

Die Höhe der vorgesehenen Eingliederungshilfen richtet sich aus Gründen der Praktikabilität und wegen des kollektiven Schicksals der ganzen Gruppe nach dem Zeitpunkt der Geburt der Betroffenen. Russlanddeutsche, die vor dem 1. April 1956 geboren sind, sind noch im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Gewahrsam der Eltern geboren, sie haben als Kinder diesen Gewahrsam, auf jeden Fall aber die folgenden Jahre der Diskriminierung erlitten. Ihnen wird eine pauschale Eingliederungshilfe von 4 000 DM gewährt."

Soweit hier das durch Verschleppung, Kommandanturaufsicht und nachfolgende Jahre der Diskriminierung gekennzeichnete "besondere Schicksal der Russlanddeutschen" als Grund für die vorgesehene Ausgleichsleistung angeführt und für die bis zum 1. April 1956 geborenen Kinder auf den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Gewahrsam der Eltern und die späteren Jahre der Diskriminierung hingewiesen wird, ändert dies nichts daran, dass der Gesetzestext als Bezugspunkt für den "Ausgleich" nicht das kollektive Schicksal der Volksgruppe und die erlittenen Diskriminierungen, sondern allein den "erlittenen Gewahrsam" nennt; den Berechtigten werden nicht die Leiden der Volksgruppe, sondern wird der selbst erlittene Gewahrsam ausgeglichen. Infolge der Nichtbeachtung des Gewahrsamserfordernisses verstößt die Auslegung der Vorinstanz daher gegen § 9 Abs. 2 Satz 1 BVFG.

2. Daraus folgt für die Entscheidung des vorliegenden Falles: Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht die Frage, ob die Eltern des Klägers bereits 1954 oder erst 1956 - vor bzw. nach seiner Geburt - aus dem Gewahrsam entlassen worden sind, als entscheidungsunerheblich angesehen und deshalb keinen Anlass gesehen, nähere tatsächliche Feststellungen hierzu zu treffen. Die Feststellung, die Eltern des Klägers hätten sich jedenfalls bis zum Herbst 1954 in Gewahrsam befunden und für die Zeit bis Ende 1955 bestehe kein Anhaltspunkt für eine "generelle" Wandlung der Verhältnisse, reicht hierzu nicht aus. Erforderlich sind konkret auf die Eltern des Klägers bezogene Feststellungen zu den Gewahrsamsverhältnissen, die der Archivbescheinigung vom 7. November 1997 und dem Umstand Rechnung tragen, dass danach jedenfalls administrativ von einem Ende des Gewahrsams ausgegangen wurde, weshalb das Verwaltungsgericht den Schluss auf eine Entlassung aus der Kommandanturaufsicht bereits im Oktober 1954 als überzeugend angesehen und ausgeführt hat, auch die vom Kläger angegebenen Lebensumstände seiner Eltern ließen deutlich erkennen, dass die Eltern zur Gruppe der Sondersiedler und nicht der Zwangsumgesiedelten gehört hätten. Zwar hat die Vorinstanz insoweit die Vermutung geäußert, eine auf der Grundlage der Verordnung des Ministerrats vom 13. August 1954 erfolgte Befreiung vom Gewahrsam könne möglicherweise nur theoretischer Natur gewesen sein, doch hat sie - von ihrem Standpunkt aus folgerichtig - hierzu abschließende Feststellungen nicht getroffen. Zu solchen Feststellungen sieht das Bundesverwaltungsgericht deshalb Anlass, weil nach Mitteilung der Beteiligten noch eine große Zahl weiterer Verfahren betreffend die Frage der Gewahrsamsverhältnisse im Zeitraum bis zum Stichtag des 1. April 1956 ansteht, was die Annahme nahe legt, dass inzwischen eine über bloße Vermutungen hinausgehende Klärung der Gewahrsamsverhältnisse auch bei den so genannten Sondersiedlern, zu denen die Eltern des Klägers gehört zu haben scheinen, möglich ist. Der Umstand, dass dem Gesetzgeber die Existenz der Verordnung des Ministerrats vom 13. August 1954 und die Umstände der Umsetzung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 nicht bekannt waren, entbindet die Behörden und Gerichte nicht von der Aufklärung der Gewahrsamsverhältnisse unter Einbeziehung der inzwischen vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten. Der Hinweis auf die im Jahre 1996 erschienene Untersuchung von Eisfeld/Herdt zum Thema der Sondersiedlungen reicht nicht aus, da sich die dort noch festgestellten Kenntnislücken (vgl. a.a.O. S. 22) nach eigener prognostischer Einschätzung der Autoren inzwischen weitgehend geschlossen haben dürften und sich nicht zuletzt aus den derzeit nach Mitteilung der Beklagten noch in Prüfung befindlichen Hunderten von Verfahren mit vergleichbaren, ebenfalls die Gewahrsamsverhältnisse der Sondersiedler betreffenden Fragen ein zeitnäheres Bild ergeben dürfte. Soweit es dabei um die Voraussetzungen einer Gewahrsamsbeendigung geht, teilt der Senat die Auffassung der Vorinstanz, dass ein bloßer Akteneintrag ohne entsprechende Kenntnis der Betroffenen vom Wegfall der Beschränkungen zur Gewahrsamsbeendigung nicht ausreichen würde. Mehr als ein Ende der dauernden Bewachung und des Festgehaltenwerdens auf dem eng begrenzten Raum der jeweiligen Ortschaft oder Sondersiedlung ist jedoch nicht erforderlich, und insbesondere setzt das Ende des Gewahrsams keine "generelle", d.h. die Volksgruppe der Russlanddeutschen insgesamt betreffende Besserung der Verhältnisse oder eine in der Sowjetunion zu jener Zeit generell nicht vorhandene Reisefreiheit voraus. Soweit sich allerdings auch unter Berücksichtigung einer verbesserten Erkenntnislage keine klaren, auf den konkreten Einzelfall bezogenen oder übertragbaren Feststellungen zu einem Gewahrsamsende für die betroffenen Sondersiedler bereits vor dem 1. April 1956 treffen lassen, kann dies im Sinne einer begründeten Vermutung der Fortdauer des Gewahrsams bis zum Stichtag des 1. April 1956 zu Lasten der Beklagten gehen.

Ende der Entscheidung

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