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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 29.04.1999
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 12.98
Rechtsgebiete: BSHG, SGB VIII


Vorschriften:

BSHG (F. 1991) § 27 Abs. 3
BSHG (F. 1991) § 100 Abs. 1
SGB VIII § 10 Abs. 2 Satz 2
Leitsatz:

Besucht ein behindertes Kind eine integrative Kindertagesstätte, an deren Kosten sich der überörtliche Träger der Sozialhilfe und Jugendhilfeträger durch Übernahme aller erforderlichen Aufwendungen zur Förderung und Betreuung der behinderten Kinder beteiligt, so besteht kein sozialhilferechtlicher Anspruch auf Übernahme der nach dem maßgeblichen Landesrecht von allen Eltern in gleicher Weise für die verbleibenden Betriebskosten der Einrichtung und Verpflegungskosten erhobenen Elternbeiträge durch den überörtlichen Träger der Sozialhilfe.

Urteil des 5. Senats vom 29. April 1999 - BVerwG 5 C 12.98 -

I. VG Münster vom 25.10.1994 - Az.: VG 5 K 323/92 - II. OVG Münster vom 10.03.1998 - Az.: OVG 24 A 5806/94 -


BVerwG 5 C 12.98 OVG 24 A 5806/94

Verkündet am 29. April 1999

Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 29. April 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bender, Schmidt, Dr. Rothkegel und Dr. Franke

für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1998 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Der 1986 geborene Kläger ist behindert im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Ab dem 1. August 1990 wurde er in einem Sonderkindergarten für geistig Behinderte heilpädagogisch betreut. Der Beklagte übernahm im Wege der Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG u.a. die Kosten der heilpädagogischen Behandlung.

Nachdem er bereits zum 17. August 1990 wieder aus dem Sonderkindergarten ausgeschieden war, beantragte der Kläger beim Beklagten ab dem 1. Januar 1991 die Übernahme der Kosten des Besuchs der "Integrativen Tagesstätte für behinderte und nichtbehinderte Kinder P. e.V." in M. Hierbei handelt es sich um eine in der Trägerschaft einer Elterninitiative betriebene Einrichtung, die aus öffentlichen Mitteln bezuschußt wird. Sie dient u.a. den pädagogischen Zielen, durch eine gemeinsame Betreuung und lebenspraktische Förderung von behinderten und nichtbehinderten Kindern die Selbständigkeit der Kinder zu fördern und sie zu befähigen, mit- und voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu tolerieren und Rücksichtnahme und Solidarität einzuüben; die behinderten Kinder sollen entsprechend ihren jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnissen u.a. durch heilpädagogische Maßnahmen besonders gefördert werden, die mit dem Kind allein, in einer kleinen Gruppe oder in der gesamten Gruppe durchgeführt werden.

Der Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 15. April 1991, Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1992), weil die Betreuungskosten nicht im Wege der Eingliederungshilfe übernommen werden könnten: Nach der Zielsetzung der integrativen Kindergärten stehe nicht die spezielle Hilfeleistung für die Behinderten im Vordergrund, sondern die soziale Eingliederung, für die der überörtliche Träger der Sozialhilfe sachlich nicht zuständig sei. Die Kindergartenbeiträge seien von allen Eltern aufzubringen und damit keine behinderungsbedingten Mehrkosten. Die erforderlichen Aufwendungen zur Förderung und Betreuung behinderter Kinder in Kindergärten übernehme er der Beklagte (als Landesjugendamt) in ausreichendem Umfang aus freiwilligen Mitteln. Elternbeiträge, wie sie in Regelkindergärten gefordert würden, seien nicht der Hilfe zum Lebensunterhalt zuzurechnen. Sozialhilfebedürftige Eltern seien von ihnen nach dem Kindergartengesetz des Landes befreit; es wäre sozialhilferechtlich sinnwidrig, wenn der Sozialhilfeträger Beiträge von Eltern übernähme, die mangels Sozialhilfebedürftigkeit nach dem Kindergartengesetz von diesen Beiträgen nicht befreit seien.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen: Die von den Eltern des Klägers zu zahlenden Beiträge seien in gleicher Höhe auch von den Eltern nichtbehinderter Kinder zu tragen; durch die Behinderung des Klägers bedingt seien lediglich die Kosten der heilpädagogischen Betreuung; diese seien, soweit sie nicht von anderen Sozialleistungsträgern getragen würden, bereits vom Beklagten übernommen worden und deshalb schon gedeckt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung unter Bezugnahme auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt:

Den heilpädagogischen Maßnahmen zuzuordnende Kosten seien nicht in die von den Eltern des Klägers erhobenen Kostenbeiträge eingeflossen, sondern durch die Finanzierung der Tagesstätte nach dem Kindergartengesetz bzw. nach dem Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder sowie durch Fördermittel des Beklagten gedeckt worden, aus denen die als Zusatzkraft zur Förderung der behinderten Kinder eingestellte Heilpädagogin einschließlich des an sich auf den Träger der Tagesstätte entfallenden Personalkostenanteils und einer zusätzlichen Pauschale für Fortbildungskosten bezahlt worden seien. Soweit es um die vom Kläger geltend gemachten Kosten der Verpflegung in der Kindertagesstätte gehe, scheitere ein Sozialhilfeanspruch daran, daß in der Einrichtung in der in dem zur Beurteilung stehenden Zeitraum außer dem Kläger nur noch ein weiteres behindertes Kind betreut worden sei nicht Leistungen der Eingliederungshilfe im Vordergrund stünden, sondern Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Verletzung von § 39 Abs. 1, § 40 Abs. 1 Nr. 2 a und Nr. 8 BSHG i.V.m. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung, § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG rügt.

Der Beklagte unterstützt das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision ist unbegründet, so daß sie zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 2 VwGO).

Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Übernahme der nach Landesrecht erhobenen Beiträge für den Besuch der "Integrativen Tagesstätte für behinderte und nichtbehinderte Kinder P. e.V." in M. in Übereinstimmung mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) verneint. Es kann offenbleiben, ob dies - wie der Beklagte meint - schon damit begründet werden kann, daß ein diesbezüglicher Bedarf des Klägers nicht bestand, weil die genannten Beiträge von seinen Eltern geschuldet und entrichtet wurden. Das Klagebegehren scheitert jedenfalls daran, daß die hier in Rede stehenden Kosten nicht Kosten der Eingliederungshilfe sind und mit solchen Kosten auch nicht zusammenhängen.

Unter den Beteiligten besteht Einigkeit darüber, daß die nach Landesrecht für den Besuch einer Kindertagesstätte von den Eltern des Kindes erhobenen Beiträge außer einem an das Jugendamt abzuführenden Betrag lediglich (anteilige) Betriebskosten der Einrichtung und Kosten betreffen, die auf die Verpflegung des Kindes entfallen, und daß sie sich im Falle des Klägers daher nicht von den Beiträgen unterscheiden, die die Eltern nichtbehinderter Kinder für den Besuch der Kindertagesstätte entrichten. Fallen sie damit für den Kindertagesstättenbesuch behinderter wie nichtbehinderter Kinder gleichermaßen an, sind sie wie das Oberverwaltungsgericht dies zutreffend gesehen hat "nicht behinderungsbedingt". Der Besuch einer integrativen Kindertagesstätte, bei welcher der durch die Betreuung behinderter Kinder bedingte zusätzliche Aufwand durch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln gedeckt wird, begründet daher keinen sozialhilferechtlichen Anspruch auf Übernahme der Elternbeiträge durch den überörtlichen Träger der Sozialhilfe.

Zwar mag der Besuch der Kindertagesstätte im Falle des Klägers wie dieser geltend macht auch in inhaltlicher Hinsicht den Kriterien der Eingliederungshilfe im Sinne von § 40 Abs. 1 Nrn. 2 a und 8 BSHG entsprechen. Der hierdurch ausgelöste behinderungsbedingte Kostenbedarf ist jedoch nach den in tatsächlicher Hinsicht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO für das Bundesverwaltungsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts durch die institutionelle Förderung der Kindertagesstätte aus öffentlichen Mitteln gedeckt, die insbesondere auch der in der Einrichtung erbrachten heilpädagogischen Betreuung des Klägers gelten.

Als Anspruchsgrundlage für eine Übernahme der Elternbeiträge im Rahmen der Eingliederungshilfe kommt hier auch nicht die Regelung des § 27 Abs. 3 BSHG in der hier noch maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 10. Januar 1991 BGBl I S. 94 (a.F.) in Betracht, wonach die Hilfe in besonderen Lebenslagen, wenn sie durch den überörtlichen Träger der Sozialhilfe als nach § 100 Abs. 1 BSHG sachlich zuständigem Träger in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung gewährt wird, auch den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt umfaßt.

Es kann schon fraglich sein, in welcher Hinsicht die Übernahme der Elternbeiträge, sieht man von dem darin enthaltenen Verpflegungskostenanteil ab, bei dieser Fallgestaltung überhaupt einen Bedarf des Lebensunterhalts betrifft. Jedenfalls sind Leistungen der Sozialhilfe für einen solchen nicht behinderungsbedingten Bedarf vom Gesetz nur vorgesehen, wenn Hilfe in besonderen Lebenslagen, und zwar in den genannten Formen, gewährt wird. Daß andernfalls § 27 Abs. 3 BSHG a.F. unanwendbar ist, geht mittelbar auch aus dem durch Art. 18 Nr. 1 des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl I S. 1014) angefügten Satz 2 jener Bestimmung hervor, wonach Satz 1 (die hier erörterte Regelung des § 27 Abs. 3 BSHG a.F.) auch Anwendung findet, wenn Hilfe zur Pflege nur deshalb nicht gewährt wird, weil entsprechende Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch Pflegeversicherung erbracht werden. Hiermit hat der Gesetzgeber den Fall der Nichtgewährung von Hilfe zur Pflege infolge des Bezugs von Leistungen der Pflegeversicherung ausdrücklich in dem Sinne geregelt, daß für Leistungen zum Lebensunterhalt durch den für die Hilfe zur Pflege (in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung) zuständigen Sozialhilfeträger Raum bleibt. Für das Zusammentreffen anderer Hilfen in besonderer Lebenslage, insbesondere der Eingliederungshilfe, mit der Jugendhilfe hat der Gesetzgeber keine entsprechende Regelung getroffen; sie fehlt auch für den Fall, daß als Maßnahme der Eingliederungshilfe in Betracht kommende Hilfeleistungen (in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder in einer Einrichtung zur teilstationären Betreuung) schon anderweitig sei es auch auf der Grundlage einer entsprechenden institutionellen Förderung der Einrichtung und ihrer Leistungen erbracht werden. Auch angesichts dessen läßt sich der Regelung des § 27 Abs. 3 BSHG a.F. eine Rechtsgrundlage für das Klagebegehren weder im Wege (erweiternder) Gesetzesauslegung entnehmen noch durch Analogie begründen.

§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII, wonach Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - vorgehen, steht diesem Ergebnis nicht entgegen, da das Begehren des Klägers sich, wie dargelegt, nicht auf eine Maßnahme der Eingliederungshilfe bezieht.

Auch die Grundsätze über eine verfassungskonforme Auslegung gebieten nichts anderes. Der Kläger meint, die von ihm geltend gemachten Betreuungskosten müßten aufgrund des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) allein schon deswegen als "behinderungsbedingt" anerkannt und als Kosten einer Eingliederungshilfemaßnahme durch die Sozialhilfe übernommen werden, weil solche Kosten nicht angefallen wären, wenn und solange er weiterhin einen Sonderkindergarten besucht hätte, wobei der Beklagte damals auch für den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt aufgekommen sei. Zur Kostenübernahme müsse auch eine an dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und an Art. 1 Abs. 1 GG orientierte Gesetzesauslegung führen. Dieser Rechtsstandpunkt verhilft dem Klagebegehren jedoch nicht zum Erfolg.

Die vom Kläger gerügte Ungleichbehandlung liegt in der Regelung des § 27 Abs. 3 BSHG begründet, die in ihrer hier maßgeblichen Fassung die Gewährung von Hilfe wegen des in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalts nur gleichsam als Bestandteil ("umfaßt die Hilfe in besonderen Lebenslagen auch den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt") der in einer Einrichtung erbrachten Hilfe in besonderen Lebenslagen vorsah. Der Gesetzgeber hat damit in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise entschieden, daß Ansprüche aus § 27 Abs. 3 BSHG a.F. auf Sicherstellung des Lebensunterhalts in der Einrichtung nur in Verbindung mit der Hilfegewährung in besonderen Lebenslagen, nicht dagegen auch davon unabhängig und damit unter der alleinigen Voraussetzung bestehen, daß Leistungen für den Lebensunterhalt in einer Einrichtung gewährt werden.

Da vorliegend nur die Deckung eines nicht behinderungsbedingten Bedarfs in Rede steht, geht schließlich auch die Rüge der Revision ins Leere, die Versagung einer Kostenübernahme verstoße gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und gegen den Menschenwürdeschutz aus Art. 1 Abs. 1 GG. Soweit die Revision hiermit sinngemäß geltend machen will, der Kläger bzw. seine Eltern dürften nicht durch Kostennachteile davon abgehalten werden, sich mit dem Ziele einer Eingliederung des Klägers in den Personenkreis nichtbehinderter Kinder für eine Kindertagesstätte mit integrativer Aufgabenstellung statt für einen Sonderkindergarten zu entscheiden, muß sie sich entgegenhalten lassen, daß der Kläger mehr als einen Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile aufgrund jener Verfassungsbestimmungen nicht verlangen kann und daß ihn die von ihm beanstandete Rechtslage bezüglich nicht behinderungsbedingter Kosten einem Nichtbehinderten gerade gleichstellt. Für eine Privilegierung des Klägers insoweit gibt das Gesetz demgegenüber auch aus der Sicht des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG keine Handhabe.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 188 Satz 2 VwGO.

Ende der Entscheidung

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