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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 12.07.2001
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 18.00
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 6 Abs. 2 Satz 2
Zu den "Verhältnissen im Herkunftsgebiet", derentwegen eine Vermittlung von Bestätigungsmerkmalen unmöglich oder unzumutbar ist, gehören nicht Umstände, deren maßgebliche Ursache in der Person des Betreffenden liegt (hier: Internatsunterbringung).
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 18.00

Verkündet am 12. Juli 2001

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel, Prof. Dr. Rojahn und Dr. Franke

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. April 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die 1962, 1964 und 1970 in der ehemaligen Sowjetunion geborenen Kläger zu 1 bis 3 sind Geschwister; sie sind nach ihren russischen Personenstandsurkunden deutscher Nationalität. Der Kläger zu 4 ist der Ehemann der Klägerin zu 3; er ist russischer Volkszugehöriger. Die 1972 bzw. 1976 verstorbenen Eltern der Kläger zu 1 bis 3 waren Volksdeutsche; ihre Kinder wurden danach teilweise von deren Großmutter mütterlicherseits betreut. Diese reiste im März 1993 ins Bundesgebiet ein und erhielt am 6. September 1993 eine Spätaussiedlerbescheinigung.

Am 1. Mai 1998 reisten die Kläger mit Aufnahmebescheid vom 19. Januar 1998, der Kläger zu 4 einbezogen in den Bescheid seiner Ehefrau, in das Bundesgebiet ein. Der Beklagte lehnte die Erteilung von Spätaussiedlerbescheinigungen wegen unzureichender Deutschkenntnisse der Kläger ab.

Das Verwaltungsgericht hat den auf Erteilung von Bescheinigungen nach § 15 BVFG aus eigenem Recht bzw. als Ehegatte eines Spätaussiedlers gerichteten Klagen stattgegeben, der Verwaltungsgerichtshof hat sie hingegen abgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Kläger zu 1 bis 3 seien keine deutschen Volkszugehörigen; denn sie erfüllten keines der Bestätigungsmerkmale des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG. Deutsch sei nicht die für sie eigentümliche Sprache geworden und sie beherrschten sie auch nicht wie eine Muttersprache mit bevorzugter Benutzung im privaten Bereich. Die Kläger seien in ihrer Entwicklung zwar auch mit der deutschen Sprache in Berührung gekommen; allerdings sei die Prägung nicht so stark gewesen wie der Einfluss der russischen Sprache, die in der Umgebung der Kläger gesprochen worden sei. Letztendlich hätten die Kläger ihre unzureichenden Deutschkenntnisse auch eingeräumt und hierfür ihre besonderen persönlichen Lebensumstände verantwortlich gemacht. Auch wenn zugunsten der Kläger zu 1 bis 3 von ihrer erst im Laufe des Verfahrens aufgestellten Behauptung ausgegangen werde, dass sie stark lernbehindert und aufgrund dessen nicht in der Lage gewesen seien, sich die deutsche Sprache anzueignen, könne dieses Bestätigungsmerkmal nicht nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG fingiert werden; denn diese Regelung beziehe sich nur auf die objektiven Gegebenheiten im Aussiedlungsgebiet. Dazu gehörten nicht subjektive Gegebenheiten wie eine Lernbehinderung.

Den Klägern zu 1 bis 3 stehe eine Spätaussiedlerbescheinigung auch nicht nach § 15 Abs. 2 BVFG als Abkömmlinge nach ihrer Großmutter zu. Zwar könne ein solcher Anspruch durch den erhobenen weitergehenden Anspruch nach § 15 Abs. 1 BVFG umfasst sein; doch kämen die Kläger nicht in den Genuss einer Spätaussiedlerbescheinigung als Abkömmlinge, weil ihnen der Aufnahmebescheid jeweils aus (vermeintlichem) eigenem Recht und gerade nicht als Abkömmling erteilt worden sei. Es fehle deshalb an einem Kausalzusammenhang zwischen der Aufnahme im Bundesgebiet und der Abkömmlingseigenschaft, wie ihn das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung zu Art. 116 GG verlange, der ebenfalls von der Aufnahme als Abkömmling spreche. Der Zweck der Aufnahme bestehe darin, die Familieneinheit zu wahren. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Großmutter habe nur für ihre Person die Aufnahme beantragt, nicht aber auch für die Kläger. Sie sei bereits 1993 ausgesiedelt und habe angegeben, mit ihrer im Bundesgebiet lebenden Tochter I. K. zusammenleben zu wollen. Demgegenüber hätten die erst fünf Jahre nach ihrer Großmutter ausgesiedelten Kläger angegeben, mit ihrer Schwester I. G. an einem Ort leben zu wollen, ein Zusammenleben mit ihrer Großmutter sei ausdrücklich nicht geplant gewesen. Damit fehle es an dem notwendigen Zusammenhang mit der Aussiedlung der Großmutter.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Kläger, mit der Sie die Auslegung von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 sowie von § 7 Abs. 2 BVFG durch die Vorinstanz beanstanden.

Der Beklagte tritt der Revision entgegen.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht spricht sich für eine Zurückverweisung der Sache aus.

II.

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung an die Vorinstanz unter Aufhebung des Berufungsurteils begründet (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Das Berufungsurteil steht, soweit es um die Beurteilung des Klagebegehrens unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 15 Abs. 1 BVFG geht, zu Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) in Widerspruch, weil das Berufungsgericht sich bei der Ermittlung, ob die Kläger zu 1 bis 3 Bestätigungsmerkmale im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG erfüllen, von einem falschen rechtlichen Maßstab hat leiten lassen. Die Vorinstanz hat in Bezug auf das Bestätigungsmerkmal "deutsche Sprache" entscheidend darauf abgestellt, dass "Deutsch ... nicht die für sie (die Kläger zu 1 bis 3) eigentümliche Sprache geworden (ist) und sie (diese im Zeitpunkt ihrer Aus- bzw. Einreise) ... auch nicht wie eine Muttersprache mit bevorzugter Benutzung im privaten Bereich (beherrschen)" (S. 9 unten des Berufungsurteils), und hat sein Urteil tragend auf die tatsächliche Feststellung gestützt, dass die "Prägung (der Kläger durch die deutsche Sprache) nicht so stark (gewesen ist) wie der Einfluss der russischen Sprache, die in ihrer Umgebung gesprochen wurde" (a.a.O.). Die deutsche Sprache als bestätigendes Merkmal im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG muss aber nicht vorrangig vor anderen Sprachen vermittelt worden sein, sondern es reicht aus, wenn das Kind im Elternhaus Deutsch und die Landessprache erlernt und gesprochen hat, also mehrsprachig aufgewachsen ist. Auch ist die Kenntnis oder Unkenntnis der deutschen Sprache zur Zeit der Aus- bzw. Einreise nicht Tatbestandsmerkmal jener Bestimmung, wenn diesem Gesichtspunkt auch Bedeutung als Indiz für oder gegen eine frühere Vermittlung deutscher Sprache zukommt (Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 2000 - BVerwG 5 C 44.99 - zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Gerichts vorgesehen). Anders als nach früherem Recht (siehe z.B. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. November 1998 - BVerwG 9 C 4.97 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 90) ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG in der Fassung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S. 2094) das Merkmal deutscher Sprache nicht davon abhängig, dass Deutsch auch im Erwachsenenalter entsprechend der Herkunft und dem Bildungsstand als die dem Betreffenden eigentümliche Sprache umfassend beherrscht wird (Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 2000, a.a.O.). Legt man den tatsächlichen Feststellungen, die das Berufungsgericht zu den deutschen Sprachkenntnissen der Kläger zu 1 bis 3 getroffen hat - der Kläger zu 4 befindet sich nur als Ehegatte der Klägerin zu 3 im vorliegenden Bescheinigungsverfahren - die rechtlichen Maßstäbe zugrunde, die sich aus der neuen Gesetzeslage ergeben, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Vorinstanz die Frage der Vermittlung der deutschen Sprache an die Kläger zu 1 bis 3 anders - und zwar in einem für die Kläger günstigen Sinne - beurteilt hätte, als dies im Berufungsurteil anhand des Kriteriums eines vorrangigen Gebrauchs der deutschen Sprache im privaten Bereich und einer im Zeitpunkt der Aus- bzw. Einreise vorliegenden Sprachbeherrschung geschehen ist.

Deshalb muss die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, wobei auch dem Sachvortrag der Kläger zu 1 bis 3 nachzugehen sein wird, dass ihr Sprachvermögen behinderungsbedingt eingeschränkt sei. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 19. Oktober 2000, a.a.O.) sind nämlich bei einem Rückschluss von dem bei Aus- bzw. Einreise aktuellen Sprachvermögen bzw. -unvermögen auf zurückliegende Sprachvermittlung beispielsweise die Sprachbegabung und der Bildungsstand des Betreffenden zu berücksichtigen. Auch die allgemeinen geistigen Fähigkeiten des Betreffenden bzw. eine geistige Behinderung können bei der Beurteilung, ob die deutsche Sprache im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG vermittelt worden ist, rechtlich von Bedeutung sein.

2. Dem Berufungsgericht ist hingegen darin zu folgen, dass das Bestätigungsmerkmal Sprache - sollte es sich nicht feststellen lassen - nicht unter Heranziehung von § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG fingiert werden kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Bestimmung zu Recht dahin verstanden, dass sie sich nur auf objektive Gegebenheiten im Aussiedlungsgebiet bezieht. Die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Vermittlung bestätigender Merkmale muss nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG ihre Ursache in den "Verhältnissen im Herkunftsgebiet" haben. Dazu gehören nicht Umstände, deren maßgebliche Ursache in der Person des Betreffenden liegt.

So liegt der Fall hier: Soweit den Klägern das Bestätigungsmerkmal Sprache im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG infolge ihrer Behinderung nicht hat vermittelt werden können, lag dies nicht an den Verhältnissen im Herkunftsgebiet, sondern an einem persönlichen Umstand; soweit bei den Klägern eine Internatsunterbringung der Grund dafür gewesen sein sollte, dass sie - anders als ihre Geschwister - die deutsche Sprache nicht in ausreichendem Maße erlernt haben, mag zwar auch die (damalige) Infrastruktur des Herkunftsgebietes, nämlich das Fehlen einer für die Kläger zu 1 und 3 geeigneten Schule in Wohnortnähe, als (Mit-)Ursache in Betracht gezogen werden. § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG bezieht sich aber, wie auch der zweite Halbsatz der Vorschrift erkennen lässt, nur auf Hinderungsgründe, von denen die deutschstämmige Bevölkerung gerade wegen ihres Volkstums betroffen war. Das Fehlen eines Angebotes an ortsnahen Sonderschulen ist dagegen ein Umstand, der den auf ein solches Angebot angewiesenen Personenkreis unabhängig von seinem Volkstum trifft.

3. Soweit der Verwaltungsgerichtshof das Begehren der Kläger zu 1 bis 3 auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 15 Abs. 2 BVFG beurteilt hat, steht die Rechtsauffassung der Vorinstanz, eine Bescheinigung als Abkömmling eines Spätaussiedlers könne nach jener Vorschrift in Verbindung mit § 7 Abs. 2 BVFG nur beanspruchen, wer die Aussiedlungsgebiete im Wege des Aufnahmeverfahrens als Abkömmling - und nicht aus behauptetem eigenen Recht - verlassen habe, mit Bundesrecht nicht im Einklang. Dies hat der Senat in seinem Urteil vom heutigen Tage in der Sache BVerwG 5 C 30.00 u.a. (zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Gerichts vorgesehen -) dargelegt. Dass die Kläger zu 1 bis 3 eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG nach ihrer als Spätaussiedlerin anerkannten Großmutter verlangen könnten, obwohl sie nicht als Abkömmlinge gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG in deren Aufnahmebescheid einbezogen worden waren und sie nicht auf dieser Grundlage im Bundesgebiet Aufnahme gefunden haben, sondern auf der Grundlage eines aus eigenem Recht erlangten Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG, ist jedoch nur dann von Bedeutung, wenn die Kläger - was erst in dem weiteren Verfahren vor dem Berufungsgericht geklärt werden muss - nicht mit ihrem auf § 15 Abs. 1 BVFG gestützten Begehren Erfolg haben.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 32 000 DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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