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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 19.05.1999
Aktenzeichen: BVerwG 8 B 61.99
Rechtsgebiete: VwGO, VwVfG, VermG


Vorschriften:

VwGO § 71
VwGO § 79 Abs. 2 Satz 2
VwGO § 117 Abs. 4 Satz 2
VwGO § 138 Nr. 6
VwVfG § 48
VermG § 36 Abs. 2
Leitsätze:

Die Pflicht zur Anhörung des Widerspruchsführers vor einer beabsichtigten Verböserung gemäß § 71 VwGO gilt ergänzend zu § 36 Abs. 2 VermG auch im vermögensrechtlichen Vorverfahren.

Die durch die verfahrensfehlerhaft unterbliebene Anhörung abgeschnittene Möglichkeit zur Rücknahme des Widerspruchs berechtigt das Gericht bei gebundenen Verwaltungsakten hier: Festsetzung von Ablösebeträgen gemäß § 18 VermG nicht zur isolierten Aufhebung des Widerspruchsbescheids, wenn auch im Hinblick auf § 48 VwVfG keine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre.

Beschluß des 8. Senats vom 19. Mai 1999 - BVerwG 8 B 61.99 -

I. VG Dessau vom 19.08.1998 - Az.: VG A 3 K 232/97 -


BVerwG 8 B 61.99 VG A 3 K 232/97

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 19. Mai 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Sailer und Krauß

beschlossen:

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Dessau vom 19. August 1998 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 6 120 DM festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Kläger wandten sich mit ihrem Widerspruch gegen die Festsetzung eines Ablösebetrags gemäß § 18 VermG in Höhe von 1 947 DM. Ohne vorherige Anhörung wies das Landesamt den Widerspruch zurück und erhöhte den Ablösebetrag wegen der fehlerhaften Berechnung einer Aufbaugrundschuld durch die Ausgangsbehörde auf 8 567 DM. Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen, weil auch ohne den Verfahrensfehler keine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre.

II.

Die Beschwerde der Kläger ist unbegründet. Die allein erhobene Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) greift nicht durch.

1. Soweit die Beschwerde geltend macht, das angefochtene Urteil sei unter Verstoß gegen § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO verspätet nämlich erst nach Ablauf von mehr als fünf Monaten der Geschäftsstelle zugeleitet worden und deshalb so anzusehen, als ob es im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO "nicht mit Gründen versehen" sei (vgl. hierzu: Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluß vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92 BVerwGE 92, 367 ff.), geht sie von einem unzutreffenden Sachverhalt aus. Ausweislich der Gerichtsakten ist nämlich das angefochtene Urteil am 19. August 1998 verkündet, am 15. Januar 1999 vollständig abgesetzt der Geschäftsstelle und am 20. Januar 1999 dem Schreibdienst übergeben sowie danach am 21. Januar 1999 abgesandt worden. Da es für die Einhaltung der Fünf-Monats-Frist auf die Zuleitung des vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle und nicht wie die Beschwerde meint auf die Zustellung des Urteils an die Beteiligten ankommt (vgl. Beschluß vom 27. April 1993, a.a.O., S. 371), ist diese äußerste Grenze im vorliegenden Fall nicht überschritten worden.

2. Die Revision kann auch nicht wegen der gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs zugelassen werden. Die Beschwerde sieht die Gehörsverletzung darin, daß die Widerspruchsbehörde die Kläger vor dem Erlaß des verbösernden Widerspruchsbescheides nicht angehört, ihnen dadurch die Möglichkeit der Rücknahme ihres Widerspruchs genommen und damit einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen habe.

a) Ob dieser dem Widerspruchsverfahren anhaftende Anhörungsmangel im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge überhaupt beachtlich ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung.

§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO setzt zwar grundsätzlich voraus, daß der Mangel das gerichtliche Verfahren betrifft. Ausnahmsweise sind aber auch Fehler des Verwaltungsverfahrens beachtlich, wenn sie sich unmittelbar auf das gerichtliche Verfahren auswirken (Beschlüsse vom 1. Juni 1995 BVerwG 5 B 30.95 Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 7, vom 27. Juni 1994 BVerwG 6 B 17.94 Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 3 und vom 17. März 1994 BVerwG 3 B 12.94 Buchholz 316 § 26 VwVfG Nr. 1). Ob hier - wie die Beschwerde meint - ein derartiger Ausnahmefall anzuerkennen ist, kann dahinstehen. Denn die Abweisung der isolierten Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO) ist jedenfalls deshalb nicht zu beanstanden, weil den Klägern hierfür unter den gegebenen Umständen - wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat - kein schutzwürdiges Interesse zusteht.

b) Zu Recht ist das Verwaltungsgericht zunächst insoweit von einem Verstoß gegen § 71 VwGO ausgegangen. Diese Vorschrift gilt auch für das vermögensrechtliche Widerspruchsverfahren. Sie wird wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat nicht durch § 36 Abs. 2 VermG verdrängt. Es besteht somit auch in vermögensrechtlichen Vorverfahren die grundsätzliche Pflicht der Widerspruchsbehörde, nicht nur Dritte, sondern auch den Widerspruchsführer vor einer beabsichtigten Verböserung anzuhören (Redeker/Hirtschulz in: Fieberg/Reichenbach/Messerschmidt/Neuhaus, VermG, § 36 Rn. 26; a.A. Schmidt in: Kimme, Offene Vermögensfragen, § 36 VermG Rn. 97). Die erwähnte Vorschrift des Vermögensgesetzes schließt nämlich die in der Neufassung durch das 6. VwGOÄndG weitergehende - nämlich auch den Widerspruchsführer einschließende - Anhörungspflicht des § 71 VwGO nicht aus. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte beider Regelungen und wird durch die für das vermögensrechtliche Verwaltungsverfahren in besonders hohem Maße ausgeprägte generelle Anhörungspflicht des § 32 VermG bestätigt. Zwar sieht § 36 Abs. 2 VermG (nur) für den Fall der erstmaligen Beschwer eines anderen als des Widerspruchsführers, die sich aus der beabsichtigten Aufhebung oder Änderung der Entscheidung ergeben könnte, vor, daß dieser also der Dritte vor Abhilfe oder Erlaß des Widerspruchsbescheids zu hören ist. Diese Bestimmung ging im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens über die damalige Fassung des § 71 VwGO a.F. hinaus, indem bereits ihr Wortlaut klarstellte, daß ein betroffener Dritter zwingend anzuhören ist. Sie bot also wie auch § 32 VermG für das Verfahren bei der Ausgangsbehörde einen umfassenderen Schutz als das allgemeine Prozeßrecht. Nach der Änderung des § 71 VwGO durch das 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl I S. 1626) kann vor diesem Hintergrund nicht angenommen werden, daß § 36 VermG als speziellere Vorschrift die Rechte des Widerspruchsführers im Verfahren nach dem Vermögensgesetz gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsprozeß e i n s c h r ä n k e n will. Die Zielrichtung dieser Vorschrift, über das allgemeine Prozeßrecht hinausgehende Schutzrechte zu begründen, kann nicht dadurch in ihr Gegenteil verkehrt werden, daß ihr nach der nachträglichen Verbesserung des allgemeinen Prozeßrechts nunmehr zu Lasten der Betroffenen ein abschließender Regelungscharakter beigemessen wird. Der erkennbaren Systematik des Vermögensgesetzes entspricht es vielmehr im Gegenteil, nunmehr § 71 VwGO ergänzend neben § 36 Abs. 2 VermG treten zu lassen.

c) § 71 VwGO begründet abgesehen von atypischen Sachverhalten mit der Anordnung, eine Unterrichtung des Betroffenen über die beabsichtigte Verböserung solle vor Erlaß des Widerspruchsbescheides erfolgen, eine Pflicht zur Anhörung (Dolde in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 71 Rn. 8). Dies gilt nach der Neufassung des § 71 VwGO nicht nur für den Fall der Heranziehung neuer Tatsachen, sondern auch für die aufgrund bekannter Tatsachen erfolgende rechtliche Neubewertung (Dolde, a.a.O., § 71 Rn. 5; vgl. auch § 367 Abs. 2 S. 2 AO). Die somit gebotene Anhörung der Kläger ist unstreitig unterblieben. Der darin liegende Verfahrensfehler mag auch für die Widerspruchsentscheidung in dem von § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO geforderten Sinne kausal geworden sein. Zwar scheidet bei gebundenen Verwaltungsakten um die es bei der streitigen Festsetzung eines Ablösebetrages gemäß §§ 18 ff. VermG geht ebenso wie bei Anwendung des § 46 VwVfG regelmäßig die rechtliche Relevanz eines Verfahrensfehlers für die inhaltliche Sachentscheidung aus (Pietzcker in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 79 Rn. 14 f.; Beschluß vom 13. Januar 1999 BVerwG 8 B 266.98 ; zweifelnd: Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 79 Rn. 14). Allerdings zeichnet sich der hier zu beurteilende wesentliche Verfahrensfehler dadurch aus, daß durch die verfahrensfehlerhaft unterbliebene Anhörung den Klägern die Möglichkeit der Rücknahme des Widerspruchs und damit der Herbeiführung der Bestandskraft des Ausgangsbescheides genommen worden ist. Ohne den Verfahrensfehler wäre deshalb bei Rücknahme des Widerspruchs eine andere Entscheidung der Widerspruchsbehörde, nämlich die Einstellung des Widerspruchsverfahrens ohne Verböserung, ergangen. Nach dem Erlaß des Widerspruchsbescheids ist eine Rücknahme des Widerspruchs durch die Kläger die ihnen bei vorheriger Anhörung möglich gewesen wäre hingegen ausgeschlossen (vgl. Dolde, a.a.O., § 69 Rn. 13 mit weiteren Nachweisen; Urteil vom 31. August 1973 BVerwG IV C 33.72 BVerwGE 44, 64 <66>; a.A. Kopp, VwVfG, 6. Aufl., § 22 Rn. 35).

d) Der isolierten Aufhebung des Widerspruchsbescheids gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO steht jedoch entgegen, daß die Festsetzung des höheren Ablösebetrages durch Rücknahme des insoweit rechtswidrigen Ausgangsbescheides sei es im Wege der fachaufsichtlichen Weisung, sei es durch eigenen Entschluß der Ausgangsbehörde gemäß § 48 VwVfG nach den tatsächlichen Verhältnissen des vorliegenden Falles angesichts der zwingenden vermögensgesetzlichen Vorschriften unabweisbar gewesen wäre. Einer derartigen Zwangsläufigkeit der Festsetzung desselben höheren Ablösebetrages steht zwar in der Regel das durch § 48 Abs. 1 VwVfG eröffnete Ermessen bei der Rücknahmeentscheidung entgegen. Da angesichts der im öffentlichen Interesse liegenden zwingenden vermögensgesetzlichen Vorschriften über die Bemessung der Ablösebeträge (§ 18 VermG) allenfalls Vertrauensschutzgesichtspunkte zugunsten der Kläger gegen die Rücknahme sprechen könnten, diese Vertrauensschutzgesichtspunkte aber ersichtlich bei derartigen Sachverhalten allenfalls finanzieller Natur sein können und insoweit im Rahmen des an die Rücknahme anschließenden Entschädigungsanspruchs gemäß § 48 Abs. 3 VwVfG zu berücksichtigen sind, fehlt es im vorliegenden Fall an Anhaltspunkten aus dem persönlichen Bereich der Kläger, die bereits bei der Rücknahmeentscheidung im Rahmen des Ermessens Bedeutung erlangen könnten (vgl. Urteil vom 24. Januar 1992 BVerwG 7 C 38.90 NVwZ 1992, 565 <566> zu § 49 VwVfG).

e) Eine andere Beurteilung wäre auch dann nicht gerechtfertigt, wenn in der Festsetzung des Ablösebetrages durch den mit dem Widerspruch angefochtenen Ausgangsbescheid neben der belastenden Regelung zugleich eine begünstigende Regelung des Inhalts zu sehen sein sollte, "mehr" werde von den Klägern nicht verlangt (für Erschließungsbeitragsbescheide verneinend: Urteil vom 18. März 1988 BVerwG 8 C 92.87 BVerwGE 79, 163 <169>). Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG stünde der Rücknahme nämlich auch unter dieser Prämisse nur das schutzwürdige Vertrauen des Betroffenen auf den Bestand des Verwaltungsakts entgegen. Daran fehlt es aber, wenn der Betroffene wie hier durch die Einlegung des Widerspruchs selbst die Unanfechtbarkeit des Ausgangsverwaltungsakts zunächst verhindert hat. Unter diesem Umständen muß er mit der Möglichkeit einer reformatio in peius rechnen; ein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts konnte sich bis zum Abschluß des Vorverfahrens nicht schutzwürdig bilden (Urteil vom 15. April 1983 BVerwG 8 C 170.81 BVerwGE 67, 129 <134>). Angesichts dessen kann auch dahinstehen, ob die Festsetzung des richtig berechneten höheren Ablösebetrages überhaupt die Rücknahme des Ausgangsbescheides erfordert oder ob nicht auch ohne dessen Aufhebung eine bloße "Nacherhebung" des Differenzbetrages möglich wäre (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: Urteile vom 18. März 1988, a.a.O., S. 165 ff. und vom 26. Januar 1996 BVerwG 8 C 14.94 DVBl 1996, 1046).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 13, 14 GKG.

Ende der Entscheidung

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