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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.04.1995
Aktenzeichen: C-103/94
Rechtsgebiete: Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, Verordnung 2210/78/EWG


Vorschriften:

Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien Art. 39 Abs. 1
Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien Art. 1
Verordnung 2210/78/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens zwischen der EWG und Algerien, der klar, eindeutig und unbedingt das Verbot begründet, Arbeitnehmer algerischer Staatsangehörigkeit und die mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu benachteiligen, enthält eine klare und eindeutige Verpflichtung, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen.

Nach ihrem Wortlaut sowie nach dem Ziel und dem Wesen des Abkommens, in dem sie steht, ist diese Bestimmung geeignet, unmittelbar angewandt zu werden, woraus folgt, daß der einzelne, auf den diese Bestimmung anwendbar ist, das Recht hat, sich vor den nationalen Gerichten auf sie zu berufen.

2. Aus dem in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG°Algerien enthaltenen Verbot jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im Bereich der sozialen Sicherheit folgt, daß der Witwe eines algerischen Wanderarbeitnehmers, die im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmers beschäftigt war, wohnt und dort für den Bezug einer von einem nationalen Solidaritätsfonds gezahlten beitragsunabhängigen Sonderleistung, die einkommensergänzend zur Sicherung eines Existenzminimums für die Empfänger einer Hinterbliebenenrente vorgesehen ist und deren Gewährung nicht voraussetzt, daß der Empfänger früher Arbeitnehmer war, alle Voraussetzungen mit Ausnahme derjenigen der Staatsangehörigkeit erfuellt, diese Leistung nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit versagt werden darf.

Der persönliche Geltungsbereich der genannten Bestimmung erstreckt sich nämlich nicht nur auf den algerischen Arbeitnehmer selbst, sondern auch auf seine Familienangehörigen, die nach seinem Tod in dem Mitgliedstaat, in dem er beschäftigt war, wohnen bleiben, ohne daß hinsichtlich dieser Angehörigen zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten zu unterscheiden wäre, und der sachliche Geltungsbereich der Bestimmung erstreckt sich auf alle Leistungen, für die die Verordnung Nr. 1408/71 gemäß ihrem Artikel 4 gilt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 5. APRIL 1995. - ZOULIKA KRID GEGEN CAISSE NATIONALE D'ASSURANCE VIEILLESSE DES TRAVAILLEURS SALARIES (CNAVTS). - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DES AFFAIRES DE SECURITE SOCIALE DE NANTERRE - FRANKREICH. - KOOPERATIONSABKOMMEN EWG-ALGERIEN - ARTIKEL 39 ABSATZ 1 - UNMITTELBARE WIRKUNG - DISKRIMINIERUNGSVERBOT - GELTUNGSBEREICH - WITWE EINES ALGERISCHEN ARBEITNEHMERS, DER IN EINEM MITGLIEDSTAAT BESCHAEFTIGT WAR - ZUSATZBEIHILFE DES FONDS NATIONAL DE SOLIDARITE. - RECHTSSACHE C-103/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal des affaires de sécurité sociale Nanterre hat mit Urteil vom 16. Dezember 1993, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 25. März 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 39 Absatz 1 des am 26. April 1976 in Algier unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September 1978 (ABl. L 263, S. 1, im folgenden: Kooperationsabkommen), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Zoulika Krid (im folgenden: Klägerin), die die algerische Staatsangehörigkeit besitzt, und der Caisse nationale d' assurance vieillesse des travailleurs salariés (im folgenden: Beklagte), in dem es um die Versagung einer Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité (im folgenden: FNS) geht.

3 Aus den Akten geht hervor, daß die Klägerin die Witwe eines algerischen Staatsangehörigen ist, der sein gesamtes Berufsleben in Frankreich verbracht hat. Die Klägerin selbst ist niemals berufstätig gewesen; sie wohnt in Asnières-sur-Seine (Frankreich).

4 Als der Ehemann der Klägerin am 1. Dezember 1984 das 65. Lebensjahr vollendete, erhielt er von der Beklagten eine Altersrente, die auf der Grundlage der 123 Quartale berechnet war, während deren er in Frankreich Beiträge gezahlt hatte. Am 1. April 1987 wurde seine Rente wegen eines unterhaltsberechtigten Ehegatten erhöht.

5 Nachdem ihr Ehemann am 2. Oktober 1992 verstorben war, zahlte die Beklagte der Klägerin vom 1. November 1992 an eine Hinterbliebenenrente.

6 Am 29. Juni 1993 beantragte die Klägerin in Frankreich bei dem FNS eine Zusatzbeihilfe gemäß dem Gesetz vom 30. Juni 1956.

7 Der FNS wurde in Frankreich geschaffen, um eine allgemeine Politik des Schutzes älterer Menschen durch die Verbesserung von Pensionen, Renten und Alterszulagen zu verwirklichen. Zu diesem Zweck wird den Empfängern von auf Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beruhenden Leistungen wegen Alters oder Invalidität eine ° als "Zusatzbeihilfe" bezeichnete ° Beihilfe gewährt, sofern die Betroffenen nicht über ausreichende Einkünfte verfügen.

8 Diese Beihilfe ist in Kapitel 5 mit der Überschrift "Beihilfen für ältere Menschen" im Buch VIII Titel I des neuen französischen Code de la sécurité sociale geregelt. Die Voraussetzungen ihrer Gewährung sind in diesem Kapitel in den Artikeln L.815-2 bis L.815-6 festgelegt.

9 Nach Artikel L.815-2 haben französische Staatsangehörige mit Wohnsitz im französischen Staatsgebiet Anspruch auf die Zusatzbeihilfe des FNS. In Artikel L.815-5 heisst es: "Ausländer haben nur vorbehaltlich des Bestehens internationaler Abkommen über die Verbürgung der Gegenseitigkeit Anspruch auf die Zusatzbeihilfe."

10 Mit Schreiben vom 18. August 1993 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, sie besitze die algerische Staatsangehörigkeit und das am 1. Oktober 1980 unterzeichnete Abkommen zwischen Frankreich und Algerien über die soziale Sicherheit umfasse kein Protokoll mit einer Vereinbarung über die Zusatzbeihilfe des FNS.

11 Am 11. September 1993 erhob die Klägerin gegen diesen Bescheid Klage beim Tribunal des affaires de sécurité sociale Nanterre.

12 Vor diesem Gericht machte die Klägerin im wesentlichen geltend, als Empfängerin einer Hinterbliebenenrente unterliege sie dem allgemeinen System der sozialen Sicherheit in Frankreich und habe Anspruch auf die mit diesem System verbundenen Leistungen. Nach Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens dürften die französischen Behörden die Gewährung beantragter Beihilfen nämlich nicht deshalb ablehnen, weil der Antragsteller die algerische Staatsangehörigkeit besitze.

13 Dem hielt die Beklagte neben ihrem Vorbringen, daß die Klägerin nicht die französische Staatsangehörigkeit besitze und zwischen Frankreich und Algerien kein die Zusatzbeihilfe des FNS betreffendes internationales Abkommen über die Verbürgung der Gegenseitigkeit bestehe, weiter entgegen, daß die Gewährung beitragsunabhängiger Sonderleistungen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1247/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 1) zur Änderung der ° durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten ° Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, auf die Gemeinschaftsangehörigen beschränkt sei.

14 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal des affaires de sécurité sociale Nanterre dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

Ist die Gewährung der Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité, die in der Verordnung Nr. 1247/92 des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 30. April 1992 genannt wird, auf die (in Frankreich wohnhaften) Staatsangehörigen der EWG-Mitgliedstaaten beschränkt, oder kann sie durch Anwendung des Artikels 39 des Kooperationsabkommens zwischen der EWG und Algerien oder/und der EWG-Verordnungen auf (in Frankreich wohnhafte) algerische Staatsangehörige ausgeweitet werden? Kann diese Beihilfe im Wege der Ausweitung Angehörigen von Staaten ° wie Marokko, Tunesien ° bewilligt werden, die mit der EWG ein Kooperationsabkommen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit geschlossen haben?

15 Vorab ist auf den Zweck und die einschlägigen Bestimmungen des Kooperationsabkommens hinzuweisen.

16 Nach Artikel 1 des Kooperationsabkommens ist es dessen Ziel, eine globale Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien zu fördern, um zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Algeriens beizutragen und die Vertiefung ihrer Beziehungen zu erleichtern. Diese Zusammenarbeit wird in Titel I für den wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Bereich, in Titel II für den Handel und in Titel III für den sozialen Bereich festgelegt.

17 Artikel 39 Absatz 1, der im Titel III über die "Zusammenarbeit im Bereich der Arbeitskräfte" enthalten ist, lautet:

"Vorbehaltlich der folgenden Absätze wird den Arbeitnehmern algerischer Staatsangehörigkeit und den mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Behandlung gewährt, die keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber den Staatsangehörig[en] der Mitgliedstaaten, in denen sie beschäftigt sind, bewirkt."

18 Die folgenden Absätze betreffen die Zusammenrechnung der in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Aufenthaltszeiten, die Gewährung von Familienzulagen für die innerhalb der Gemeinschaft wohnenden Familienangehörigen und den Transfer von Alters- und Hinterbliebenenrenten und Renten bei Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Erwerbsunfähigkeit nach Algerien.

19 Wie sich aus dem Zusammenhang des Ausgangsverfahrens ergibt, möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage im wesentlichen wissen, ob Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens dahin auszulegen ist, daß er es einem Mitgliedstaat verwehrt, der Witwe eines algerischen Arbeitnehmers, die in diesem Mitgliedstaat wohnt und dort eine Hinterbliebenenrente bezieht, eine Leistung wie die Zusatzbeihilfe des FNS, die die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für dessen Staatsangehörige mit Wohnsitz im Inland vorsehen, mit der Begründung zu versagen, daß die Betroffene die algerische Staatsangehörigkeit besitzt.

20 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens zu prüfen, ob sich ein einzelner vor einem nationalen Gericht unmittelbar auf Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens berufen kann, und zweitens, ob diese Vorschrift den Fall des Familienangehörigen eines algerischen Wanderarbeitnehmers erfasst, der in dem Mitgliedstaat, in dem er wohnt und eine Hinterbliebenenrente erhält, eine Beihilfe der Art, wie sie im Ausgangsverfahren in Frage steht, beantragt.

Zur unmittelbaren Wirkung des Artikels 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens

21 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 31. Januar 1991 in der Rechtssache C-18/90, Kziber, Slg. 1991, I-199, Randnrn. 15 bis 22, und vom 20. April 1994 in der Rechtssache C-58/93, Yousfi, Slg. 1994, I-1353, Randnr. 16) enthält Artikel 41 Absatz 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26. September 1978 (ABl. L 264, S. 1), der klar, eindeutig und unbedingt das Verbot begründet, Arbeitnehmer marokkanischer Staatsangehörigkeit und die mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu benachteiligen, eine klare und eindeutige Verpflichtung, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen, soweit es um Fragen geht, die nicht Gegenstand der Absätze 2, 3 und 4 dieses Artikels sind. Der Gerichtshof hat in den genannten Urteilen weiter ausgeführt, daß das Ziel dieses Abkommens, eine globale Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien u. a. im Bereich der Arbeitskräfte zu fördern, bestätigt, daß das in Artikel 41 Absatz 1 verankerte Diskriminierungsverbot geeignet ist, die Rechtsstellung des einzelnen unmittelbar zu regeln.

22 Der Gerichtshof hat daraus den Schluß gezogen, daß diese Bestimmung geeignet ist, unmittelbar angewandt zu werden (vgl. Urteil Kziber, a. a. O., Randnr. 23, und Urteil Yousfi, a. a. O., Randnr. 17).

23 Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG°Algerien ist mit Artikel 41 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG°Marokko wortgleich, und beide Abkommen verfolgen das gleiche Ziel.

24 Die unmittelbare Wirkung, die Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens daher beizulegen ist, bedeutet, daß der einzelne, auf den diese Bestimmung anwendbar ist, das Recht hat, sich vor den nationalen Gerichten auf sie zu berufen.

Zur Bedeutung des Artikels 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens

25 Um die Bedeutung des in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens niedergelegten Diskriminierungsverbots zu klären, ist zum einen zu prüfen, ob sich der persönliche Geltungsbereich dieses Artikels auf eine Person wie die Klägerin erstreckt, und zum anderen, ob eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren streitige Zusatzbeihilfe des FNS zum Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Bestimmung gehört.

26 Was erstens den persönlichen Geltungsbereich des Artikels 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens angeht, so ist diese Vorschrift zunächst auf Arbeitnehmer algerischer Staatsangehörigkeit anwendbar, wobei dieser Begriff in einem weiten Sinne aufzufassen ist. Nach der Rechtsprechung zur wortgleichen Bestimmung des Kooperationsabkommens EWG°Marokko (vgl. Urteile Kziber, a. a. O., Randnr. 27, und Yousfi, a. a. O., Randnr. 21), die für den vorliegenden Fall entsprechend gilt, sind unter Arbeitnehmern nämlich sowohl die aktiven Arbeitnehmer als auch die Arbeitnehmer zu verstehen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, nachdem sie das für die Gewährung einer Altersrente erforderliche Alter erreicht haben oder nachdem bei ihnen eines der Risiken eingetreten ist, das einen Anspruch auf Leistungen im Rahmen anderer Zweige der sozialen Sicherheit eröffnet.

27 Weiter gilt Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens auch für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die mit ihnen in dem Mitgliedstaat, in dem sie beschäftigt sind, zusammenleben.

28 Insoweit nimmt Artikel 39 Absatz 2 für die Zusammenrechnung der Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Aufenthaltszeiten zugunsten der innerhalb der Gemeinschaft wohnenden Familienangehörigen des algerischen Wanderarbeitnehmers auf die Hinterbliebenenrenten ausdrücklich Bezug.

29 Artikel 39 Absatz 4 gewährt zudem das Recht, bestimmte in den Mitgliedstaaten erworbene Leistungen der sozialen Sicherheit, darunter die Hinterbliebenenrenten, nach Algerien zu transferieren.

30 Demnach gilt Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens auch für die Familienangehörigen eines algerischen Wanderarbeitnehmers, die nach dem Tod des Arbeitnehmers in dem Mitgliedstaat, in dem er beschäftigt war, wohnen bleiben.

31 Eine Person wie die Klägerin, die als Witwe eines algerischen Wanderarbeitnehmers in dem Mitgliedstaat, in dem dieser sein gesamtes Berufsleben verbracht hat, wohnt und dort eine aufgrund dieser Berufstätigkeit gezahlte Hinterbliebenenrente erhält, fällt daher unter Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens.

32 Was zweitens den Begriff der sozialen Sicherheit in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens angeht, ist er in Entsprechung zu den Urteilen Kziber (a. a. O., Randnr. 25) und Yousfi (a. a. O., Randnr. 24) genauso zu verstehen wie der gleiche Begriff in der Verordnung Nr. 1408/71.

33 Auch wenn die Verordnung Nr. 1408/71 vor ihrer Änderung durch die Verordnung Nr. 1247/92 unter den Zweigen der sozialen Sicherheit, für die sie gilt, den von Leistungen wie der Zusatzbeihilfe des FNS nicht eigens erwähnte, fiel diese Beihilfe doch nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteile vom 24. Februar 1987 in den verbundenen Rechtssachen 379/85 bis 381/85 und 93/86, Giletti u. a., Slg. 1987, 955, und vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C-236/88, Kommission/Frankreich, Slg. 1990, I-3163) gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in deren sachlichen Geltungsbereich.

34 Wie der Gerichtshof festgestellt hat (vgl. insbesondere Urteil Giletti u. a., a. a. O., Randnr. 10), haben nationale Rechtsvorschriften wie diejenigen über die vom FNS gezahlten Zusatzbeihilfen nämlich in Wirklichkeit die doppelte Funktion, zum einen bedürftigen Personen ein Existenzminimum zu sichern und zum andern den Empfängern unzureichender Leistungen der sozialen Sicherheit eine Einkommensergänzung zu gewährleisten.

35 Daraus hat der Gerichtshof geschlossen (vgl. Urteil Giletti u. a., a. a. O., Randnr. 11), daß solche Rechtsvorschriften, soweit sie einen Anspruch auf Zusatzleistungen verleihen, durch die die Einkünfte von Beziehern von Renten der sozialen Sicherheit unabhängig von jeder ° für die Sozialhilfe kennzeichnenden ° Beurteilung der individuellen Bedürftigkeit und Verhältnisse erhöht werden sollen, zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gehören. Wie der Gerichtshof dort weiter ausgeführt hat, ändert sich im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht am eigentlichen Charakter einer Leistung, die an eine Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrente, zu der sie automatisch hinzutritt, gebunden ist, als Leistung der sozialen Sicherheit nichts dadurch, daß sich ein und dasselbe Gesetz auch auf Vergünstigungen bezieht, die als solche der Sozialhilfe qualifiziert werden können.

36 Seit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1247/92 am 1. Juni 1992 sind Leistungen wie die Zusatzbeihilfe des FNS im übrigen ausdrücklich in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 eingeschlossen; wie aus der dritten und der vierten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1247/92 hervorgeht, sollte damit gerade der zitierten Rechtsprechung Rechnung getragen werden. So gilt die Verordnung Nr. 1408/71 nach ihrem neu eingefügten Artikel 4 Absatz 2a auch für beitragsunabhängige Sonderleistungen, sofern diese, wie im vorliegenden Fall, ersatzweise, ergänzend oder zusätzlich in Versicherungsfällen gewährt werden, die den in Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a bis h aufgeführten Zweigen entsprechen, zu denen eben die Leistungen bei Alter gehören.

37 Da der Begriff der sozialen Sicherheit in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens in Entsprechung zu den genannten Urteilen Kziber und Yousfi keinen anderen Inhalt als den ihm im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 zuerkannten haben kann, gehört eine Leistung wie die Zusatzbeihilfe des FNS zum Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Bestimmung.

38 Die französische Regierung hat jedoch eingewandt, eine algerische Staatsangehörige, die Witwe eines algerischen Wanderarbeitnehmers sei, aber niemals selbst Arbeitnehmerin gewesen sei, könne sich zur Begründung eines Anspruchs auf eine Leistung wie die Zusatzbeihilfe des FNS deshalb nicht auf Artikel 39 des Kooperationsabkommens berufen, weil dieser Anspruch im französischen Recht als eigenes Recht und nicht als abgeleitetes, durch die Eigenschaft als Familienangehöriger eines Wanderarbeitnehmers erworbenes Recht ausgestaltet sei.

39 Insoweit genügt der Hinweis, daß in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens lediglich das Verbot jeder Diskriminierung der algerischen Wanderarbeitnehmer und der mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit gegenüber den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, in denen sie beschäftigt sind, niedergelegt ist. Da der persönliche Geltungsbereich dieser Vorschrift des Kooperationsabkommens mit dem des Artikels 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht deckungsgleich ist, kann, wie aus dem Urteil Kziber (a. a. O.) hervorgeht, die Rechtsprechung, die im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 zwischen abgeleiteten und eigenen Rechten der Familienangehörigen des Wanderarbeitnehmers unterscheidet, nicht auf den Bereich des Kooperationsabkommens übertragen werden.

40 Aus dem in Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens enthaltenen Verbot jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im Bereich der sozialen Sicherheit folgt somit, daß der Witwe eines algerischen Wanderarbeitnehmers, die im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmer beschäftigt war, wohnt und dort für den Bezug einer Leistung wie der Beihilfe des FNS, die zugunsten der Empfänger einer Hinterbliebenenrente vorgesehen ist und deren Gewährung nicht voraussetzt, daß der Empfänger früher Arbeitnehmer war, alle Voraussetzungen mit Ausnahme derjenigen der Staatsangehörigkeit erfuellt, diese Leistung nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit versagt werden darf.

41 Nach alledem ist dem Tribunal des affaires de sécurité sociale Nanterre zu antworten, daß Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens dahin auszulegen ist, daß er es einem Mitgliedstaat verwehrt, der Witwe eines algerischen Arbeitnehmers, die in diesem Mitgliedstaat wohnt und dort eine Hinterbliebenenrente bezieht, eine Leistung wie die Zusatzbeihilfe des FNS, die die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für dessen Staatsangehörige mit Wohnsitz im Inland vorsehen, mit der Begründung zu versagen, daß die Betroffene die algerische Staatsangehörigkeit besitzt.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Die Auslagen der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal des affaires de sécurité sociale Nanterre mit Urteil vom 16. Dezember 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 39 Absatz 1 des am 26. April 1976 in Algier unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, im Namen der Gemeinschaft genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September 1978, ist dahin auszulegen, daß er es einem Mitgliedstaat verwehrt, der Witwe eines algerischen Arbeitnehmers, die in diesem Mitgliedstaat wohnt und dort eine Hinterbliebenenrente bezieht, eine Leistung wie die Zusatzbeihilfe des FNS, die die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für dessen Staatsangehörige mit Wohnsitz im Inland vorsehen, mit der Begründung zu versagen, daß die Betroffene die algerische Staatsangehörigkeit besitzt.

Ende der Entscheidung

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