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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 06.07.1995
Aktenzeichen: C-166/95 P-R
Rechtsgebiete: EG-Satzung, Beamtenstatut


Vorschriften:

EG-Satzung Art. 49
EG-Satzung Art. 53
Beamtenstatut Art. 87 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit eines Antrags auf Aussetzung der Durchführung eines Urteils des Gerichts, mit dem eine Verfügung zur Entfernung eines Beamten aus dem Dienst aufgehoben worden ist und gegen das ein Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt worden ist, ist die Voraussetzung der Dringlichkeit nach Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß der Partei, die vorläufigen Rechtsschutz beantragt, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

Die Aussetzung ist abzulehnen, wenn in dem Antrag lediglich schwerwiegende Störungen und schwere Gefahren angeführt werden, die die Wiedereinstellung des Betroffenen für das Organ heraufbeschwören würde, ohne daß ein Argument diese Behauptungen stützt.


Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 6. Juli 1995. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Frédéric Daffix. - Rechtsmittel - Beamte - Entfernung aus dem Dienst - Begründung - Aussetzung der Durchführung des Urteils des Gerichts. - Rechtssache C-166/95 P-R.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Rechtsmittelschrift, die am 30. Mai 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung und gemäß den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 28. März 1995 in der Rechtssache T-12/94 eingelegt, mit dem das Gericht die Verfügung der Kommission zur Entfernung von Herrn Daffix (im folgenden: Kläger) aus dem Dienst aufgehoben hat.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission ferner gemäß Artikel 53 der EG-Satzung und gemäß den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung sowie gemäß den Artikeln 83 und 118 der Verfahrensordnung die Aussetzung der Durchführung des angefochtenen Urteils beantragt.

3 Der Kläger im Verfahren vor dem Gericht hat am 26. Juni 1995 eine schriftliche Stellungnahme zu dem Antrag auf einstweilige Anordnung eingereicht. Da die schriftlichen Stellungnahmen der Parteien alle Angaben enthalten, deren der Gerichtshof für die Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung bedarf, ist es nicht als erforderlich erschienen, eine Anhörung von mündlichen Ausführungen der Parteien durchzuführen.

4 Vorab ist kurz die Vorgeschichte des Rechtsstreits ins Gedächtnis zu rufen, wie sie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt.

5 Im März 1991 leitete die Kommission gemäß Artikel 87 Absatz 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften gegen den Kläger, einen Beamten der Besoldungsgruppe B 3 in der Generaldirektion X ° Information, Kommunikation und Kultur ° ein Disziplinarverfahren ein.

6 Dem Kläger wurde vorgeworfen, drei Auftragsscheine für die SA Newscom, eine Auftragnehmerin der Kommission, die mit der Verwaltung von im Untergeschoß des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel gelegenen Studios betraut war, ausgestellt zu haben, um von dieser Vorschüsse in bar in Höhe von insgesamt 450 000 BFR für Dienstleistungen zu erhalten, die angeblich bei einer ausserhalb der Kommission tätigen Erbringerin von Dienstleistungen, Régine Lombärts, deren Existenz bis heute ungewiß ist, bestellt worden waren, und in Wirklichkeit diesen Geldbetrag behalten zu haben. Dem Kläger wurde auch vorgeworfen, die Unterschrift des zuständigen stellvertretenden Referatsleiters in der Generaldirektion X auf beiden fraglichen Auftragsscheinen gefälscht zu haben.

7 Der Disziplinarrat, der mit einem Bericht der Anstellungsbehörde befasst worden war, gelangte nach mehreren Anhörungen des Klägers und Vernehmungen von Beamten als Zeugen in seinem Bericht vom 18. Februar 1993 zu dem Ergebnis, daß eine Fälschung der Auftragsscheine durch den Kläger nicht bewiesen worden sei und daß trotz verschiedener Widersprüche, die sowohl in den Erklärungen des Klägers als auch zwischen diesen und den Zeugenaussagen festgestellt worden seien, die Möglichkeit nicht auszuschließen sei, daß der Kläger den fraglichen Betrag an die von ihm angegebene Erbringerin von Dienstleistungen weitergegeben habe. Dennoch war der Disziplinarrat der Ansicht, daß der Kläger dadurch, daß er die Identität dieser Dienstleistungserbringerin nicht vorher überprüft habe und sich nicht über ihre Berechtigung vergewissert habe, in schwerwiegender Weise gegen seine Pflichten als Beamter der Europäischen Gemeinschaften verstossen habe. Daher empfahl er der Anstellungsbehörde, gegen den Kläger die Disziplinarstrafe der Einstufung in die niedrigere Besoldungsgruppe B 5, Dienstaltersstufe 1, zu verhängen.

8 Nach Anhörung des Klägers entschied die Anstellungsbehörde am 18. März 1993, den Kläger ohne Kürzung oder Aberkennung seines Ruhegehaltsanspruchs aus dem Dienst zu entfernen. Sie begründete ihre Verfügung wie folgt:

"Herr Daffix hat bei der Anhörung vom 10. April 1991 eingeräumt, die drei Auftragsscheine ausgestellt und einen dieser Scheine persönlich 'im Auftrag' seines Vorgesetzten unterzeichnet zu haben, ohne daß dieser eine entsprechende Weisung erteilt hatte.

Herr Daffix hat bei derselben Anhörung bestritten, die Unterschrift seines Vorgesetzten auf den beiden anderen Auftragsscheinen gefälscht zu haben.

Herr Daffix hat sich der drei Auftragsscheine bedient, um von der Firma Newscom eine Barzahlung in Höhe des erwähnten Betrages zu erhalten, ohne hierzu entsprechende Weisungen empfangen zu haben.

Die Angaben von Herrn Daffix zum einen zur Weitergabe des von der Firma Newscom erhaltenen Betrages an eine ausserhalb der Kommission tätige Person und zum anderen zur Identität dieser Person wichen voneinander ab und wiesen zahlreiche Widersprüche auf, so daß ihnen insbesondere angesichts der im Disziplinarverfahren eingeholten Zeugenaussagen nicht gefolgt werden kann.

Daher ist der Schluß berechtigt, daß Herr Daffix den von der Firma Newscom erhaltenen Barbetrag von 450 000 BFR für sich behalten hat.

Dieser Schluß wird im übrigen durch die Erklärung bestätigt, die Herr Daffix selbst bei der Anhörung vom 22. Juli 1991 abgegeben hat.

Herr Daffix hat vor dem Disziplinarrat selbst eingeräumt, daß er diese Erklärung tatsächlich am 22. Juli 1991 abgegeben habe, obwohl er anschließend die Unterzeichnung des betreffenden Anhörungsprotokolls verweigert hat.

Die Herrn Daffix zur Last gelegten Handlungen stellen eine äusserst schwerwiegende Verletzung seiner Pflichten dar, die das Vertrauensverhältnis, das zwischen dem Gemeinschaftsorgan und jedem seiner Mitarbeiter bestehen muß, grundlegend beeinträchtigen; ein solches Verhalten rechtfertigt die Verhängung einer Disziplinarstrafe, die über die vom Disziplinarrat empfohlene Maßnahme hinausgeht."

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Randnummern 1 bis 23 des angefochtenen Urteils verwiesen.

10 Mit Klageschrift, die am 18. Januar 1994 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger Klage auf Aufhebung der Verfügung vom 18. März 1993 erhoben, mit der gegen ihn die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst verhängt worden ist.

11 Das Gericht bejaht in seinem Urteil die Zulässigkeit eines Klagegrundes, mit dem im Stadium der Gegenerwiderung geltend gemacht wird, daß die angefochtene Handlung unzureichend begründet sei. Unter Hinweis auf die Bedeutung, die der Begründungspflicht der Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihrer Befugnisse allgemein zukomme, führt das Gericht aus, daß der Gemeinschaftsrichter diese Rüge in jedem Fall von Amts wegen prüfen müsse.

12 Das Gericht weist sodann darauf hin, daß die Verpflichtung zur Begründung einer beschwerenden Entscheidung zum einen dem Betroffenen ausreichende Hinweise für die Feststellung geben solle, ob die Entscheidung begründet sei, und zum anderen die gerichtliche Kontrolle ermöglichen solle, und prüft im folgenden, ob die angefochtene Entscheidung ordnungsgemäß begründet ist.

13 In diesem Zusammenhang stellt das Gericht fest, daß in der Verfügung nicht genau genug angegeben sei, welche dem Kläger zur Last gelegten Handlungen die Anstellungsbehörde dazu veranlasst hätten, gegen ihn die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst zu verhängen. Insbesondere sei in der Verfügung nicht angegeben, ob die dem Kläger vorgeworfene Fälschung der Auftragsscheine bewiesen sei. Das Gericht fügt hinzu, daß die Anstellungsbehörde sich nicht hätte darauf beschränken dürfen, die Angaben des Klägers, er habe den fraglichen Betrag an eine dritte Person weitergegeben, ohne ausdrückliche Darlegung der Gründe zu verwerfen, aus denen sie die vom Kläger angeführten Beweise für ungeeignet gehalten habe, seine Angaben zu stützen. Die genaue Angabe der dem Kläger zur Last gelegten Handlungen sei um so notwendiger gewesen, als der Disziplinarrat zu dem Ergebnis gekommen sei, daß zum einen die Fälschung der Auftragsscheine durch den Kläger nicht bewiesen sei und daß zum anderen die Möglichkeit, daß der Kläger den fraglichen Betrag an Frau Lombärts weitergeleitet habe, nicht ausgeschlossen werden könne.

14 Ferner führt das Gericht aus, daß die Entscheidung keine ausreichende Erläuterung der Gründe enthalte, aus denen die Anstellungsbehörde eine schwerere Disziplinarstrafe als die vom Disziplinarrat vorgeschlagene verhängt habe.

15 Das Gericht ist daher der Ansicht, daß ihm die Begründung der streitigen Verfügung eine echte Überprüfung der Rechtmässigkeit der angefochtenen Verfügung nicht gestatte. Zugleich schließt es zwecks voller Gewährleistung der Verteidigungsrechte im Disziplinarverfahren jede spätere Möglichkeit der Heilung der angefochtenen Entscheidung durch die Anstellungsbehörde aus.

16 Aufgrund dessen hat das Gericht die angefochtene Verfügung wegen unzureichender Begründung aufgehoben.

17 Zum vorliegenden Aussetzungsantrag ist darauf hinzuweisen, daß ein Rechtsmittel gegen ein Urteil des Gerichts nach Artikel 53 der EG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat. Der Gerichtshof kann jedoch nach den Artikeln 185 und 186 EG-Vertrag und den entsprechenden Bestimmungen des EGKS- und des EAG-Vertrags die Durchführung des angefochtenen Urteils aussetzen, wenn er dies den Umständen nach für erforderlich hält.

18 Nach Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung setzt ein Beschluß, durch den nach den genannten Bestimmungen die Aussetzung des Vollzugs angeordnet wird, das Vorliegen von Umständen voraus, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen.

19 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Dringlichkeit der einstweiligen Anordnung danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß der Partei, die vorläufigen Rechtsschutz beantragt, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

20 Zur Voraussetzung der Dringlichkeit führt die Kommission lediglich aus, daß "die beantragte Maßnahme dringlich ist wegen der schwerwiegenden Störungen, die sich aus der Wiedereinstellung von Herrn Daffix ergeben würden, und wegen der schweren Gefahren, die die Wiedereinstellung eines Bediensteten, dessen Integrität gegenwärtig im Mittelpunkt der Erörterung steht und Gegenstand schwerwiegender und übereinstimmender Verdachtsmomente ist, die durch ein Geständnis des Betroffenen bestätigt worden sind, für das Organ heraufbeschwören würde". Es wird kein Argument zur Begründung dieser Behauptungen vorgetragen.

21 Somit ist festzustellen, daß der Antrag auf einstweilige Anordnung kein Vorbringen enthält, mit dem dargetan werden soll, daß der Kommission durch die Wiedereinstellung des Klägers in ihre Dienste im Laufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden zu entstehen droht.

22 Unter diesen Umständen ist die Voraussetzung der Dringlichkeit nach Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung nicht erfuellt. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob die Notwendigkeit der beantragten Aussetzung des Vollzugs von der Kommission in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht worden ist.

23 Somit ist der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFES

beschlossen:

1) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 6. Juli 1995

Ende der Entscheidung

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