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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.10.1991
Aktenzeichen: C-185/90 P
Rechtsgebiete: EWG-Satzung, Beamtenstatut


Vorschriften:

EWG-Satzung Art. 49
Beamtenstatut Art. 78 Abs. 2
Beamtenstatut Art. 78 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Begriff "Berufskrankheit" kann keinen anderen Inhalt haben, je nachdem, ob es sich um die Anwendung von Artikel 73 oder Artikel 74 des Statuts handelt, auch wenn jede dieser Vorschriften eine Regelung betrifft, die ihre eigenen Besonderheiten hat.

Daher hat der betroffene Beamte für die Anwendung von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts entsprechend der Definition der Berufskrankheit in Artikel 3 Absatz 2 der gemäß Artikel 73 erlassenen Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der fraglichen Krankheit oder ihrer Verschlimmerung und der Ausübung seines Dienstes für die Gemeinschaften zu beweisen.

2. Im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 78 des Statuts fällt die Feststellung der Dienstunfähigkeit eines Beamten gemäß Artikel 13 des Anhangs VIII in die Zuständigkeit des Invaliditätsausschusses im Sinne der Artikel 7 bis 9 des Anhangs II.

Denn der Zweck dieser Bestimmungen besteht darin, die endgültige Beurteilung aller medizinischen Fragen, insbesondere die der beruflichen Ursache einer Krankheit, medizinischen Sachverständigen zu übertragen. Folglich sind weder die Anstellungsbehörde noch der Gemeinschaftsrichter befugt, die Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses, die als endgültig anzusehen sind, wenn sie unter ordnungsgemässen Voraussetzungen ergangen sind, durch ihre eigene Auffassung zu ersetzen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 4. OKTOBER 1991. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN WALTER GILL. - BEAMTE - INVALIDITAETSRENTE - BERUFSKRANKHEIT. - RECHTSSACHE C-185/90 P.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Rechtsmittelschrift, die am 7. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, nach Artikel 49 der EWG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 6. April 1990 eingelegt, durch das die Entscheidung der Kommission vom 20. Mai 1988 aufgehoben wurde, mit der die Anwendung von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften auf Herrn Gill abgelehnt und sein Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit gemäß dem für den Beamten ungünstigeren Artikel 78 Absatz 3 des Statuts festgesetzt wurde; durch das Urteil des Gerichts wurden ausserdem der Kommission die Kosten des Verfahrens auferlegt.

2 Die Kommission beruft sich zur Begründung ihres Rechtsmittels auf vier Rechtsmittelgründe, die auf einen Verstoß gegen Artikel 78 Absatz 2 des Statuts, einen Verstoß gegen Artikel 13 des Anhangs VIII des Statuts, einen Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Begründung von Urteilen und einen Verstoß gegen Artikel 73 des Statuts sowie die Artikel 3 und 19 der Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten (nachstehend: Sicherungsregelung) gestützt sind.

3 Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den Bericht des Berichterstatters verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

4 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe in dem angefochtenen Urteil den in Artikel 78 Absatz 2 des Statuts enthaltenen Begriff der Berufskrankheit falsch ausgelegt.

5 Zur Stützung dieses Rechtsmittelgrunds wirft die Kommission dem Gericht vor, sich dagegen ausgesprochen zu haben, daß für die Anwendung von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts die Definition des Begriffs der Berufskrankheit berücksichtigt werde, die in Artikel 3 der gemäß Artikel 73 des Statuts erlassenen Sicherungsregelung enthalten sei. Dieser Begriff dürfe jedoch für die Anwendung von Artikel 73 und von Artikel 78 des Statuts nicht unterschiedlich sein. Ausserdem wirft die Kommission dem Gericht vor, den Grundsatz missachtet zu haben, daß ein Kausalzusammenhang zwischen der Berufskrankheit im Sinne von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts oder ihrer Verschlimmerung und der im Dienst der Gemeinschaften ausgeuebten Tätigkeit bestehen müsse.

6 Vor einer Entscheidung über die Stichhaltigkeit dieses Rechtsmittelgrunds ist daran zu erinnern, daß nach Artikel 78 Absatz 1 des Statuts ein Beamter, der dauernd voll dienstunfähig geworden ist und deshalb ein Amt seiner Laufbahn nicht wahrnehmen kann, Anspruch auf ein Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit hat, das gemäß Artikel 78 Absatz 3 dem Ruhegehalt entspricht, auf das der Beamte Anspruch gehabt hätte, wenn er mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt worden wäre. Gemäß Artikel 78 Absatz 2 beträgt das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit 70 % des Grundgehalts des Beamten, wenn seine Dienstunfähigkeit u. a. auf einer Berufskrankheit beruht.

7 Es ist festzustellen, daß der Begriff "Berufskrankheit", der in Artikel 78 des Statuts nicht definiert ist, auch in Artikel 73 des Statuts enthalten ist, der die Sicherung des Beamten vom Tag seines Dienstantritts bei den Gemeinschaften an insbesondere auch für den Fall von Berufskrankheiten vorsieht.

8 Artikel 3 der gemäß Artikel 73 des Statuts erlassenen Sicherungsregelung definiert den Begriff "Berufskrankheiten" wie folgt:

"1. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, die in der der Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 1962 (ABl. 1962, 80, S. 2188) beigefügten 'Europäischen Liste der Berufskrankheiten' in deren jeweiliger Fassung aufgeführt sind, sofern der Beamte bei seiner dienstlichen Tätigkeit für die Europäischen Gemeinschaften der Gefahr dieser Erkrankungen ausgesetzt ist.

2. Als Berufskrankheit gilt auch eine Krankheit oder Verschlimmerung einer bestehenden Krankheit, die nicht in der in Absatz 1 genannten Liste aufgeführt ist, wenn nachgewiesen wird, daß sie in Ausübung oder anläßlich der Ausübung des Dienstes für die Gemeinschaften entstanden ist."

9 Vor dem Gericht war unstreitig, daß die chronische Bronchopneumopathie, an der Herr Gill leidet, nicht in der in Artikel 3 Absatz 1 der Sicherungsregelung genannten Europäischen Liste aufgeführt ist.

10 Das Gericht hat sich in dem angefochtenen Urteil dagegen ausgesprochen, daß für die Anwendung von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts die in Artikel 3 Absatz 2 der Sicherungsregelung enthaltene Definition des Begriffs "Berufskrankheiten" herangezogen wird, da es der Auffassung war, daß diese Definition nur für die Zwecke der Anwendung von Artikel 73 des Statuts gelte.

11 Das Gericht hat insoweit entschieden, daß die mit den Artikeln 73 und 78 des Statuts eingeführten Regelungen voneinander verschieden und unabhängig seien. Denn Artikel 78 ermächtige im Gegensatz zu Artikel 73 die Organe nicht dazu, die Bedingungen für die Gewährung der Leistungen des Artikels 78 festzusetzen, und die Durchführung seiner Bestimmungen unterliege daher nur den Artikeln 13 bis 16 des Anhangs VIII des Statuts, die weder eine Definition der "Berufskrankheit" noch eine Verweisung auf Artikel 73 des Statuts oder auf die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel enthielten. Es würde daher der Systematik der erwähnten Vorschriften widersprechen, wenn bei der Auslegung von Artikel 78 des Statuts Artikel 3 der Sicherungsregelung berücksichtigt würde, die im gegenseitigen Einvernehmen der Organe aufgrund der ausdrücklichen Ermächtigung in Artikel 73 Absatz 1 des Statuts beschlossen worden sei; dies gelte um so mehr, wenn eine solche Auslegung eine Einschränkung der Rechte der Betroffenen zur Folge hätte.

12 Folglich habe der Beamte, damit Artikel 78 Absatz 2 des Statuts auf ihn angewendet werden könne, nicht nachweisen müssen, daß seine Krankheit oder deren Verschlimmerung gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Sicherungsregelung in Ausübung oder anläßlich der Ausübung des Dienstes für die Gemeinschaften entstanden sei.

13 Diese Auslegung des Gerichts entspricht jedoch weder dem Wortlaut des Statuts und der Sicherungsregelung noch dem Sinn der einschlägigen Vorschriften dieser Texte.

14 Denn im Gegensatz zu dem, was das Gericht in dem angefochtenen Urteil entschieden hat, besteht kein stichhaltiger Grund für die Annahme, daß der Begriff "Berufskrankheit" einen anderen Inhalt hat, je nachdem, ob es sich um Ansprüche auf ein Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit aufgrund einer Berufskrankheit gemäß Artikel 78 des Statuts oder um die Sicherung für den Fall von Berufskrankheiten gemäß Artikel 73 des Statuts handelt, da beide Leistungen dazu bestimmt sind, die wirtschaftlichen Folgen ein und derselben Dienstunfähigkeitsursache auszugleichen, die mit den im Dienst der Gemeinschaften tatsächlich und regelmässig ausgeuebten Berufstätigkeiten zusammenhängt.

15 Im übrigen stimmt die Definition der Berufskrankheit in Artikel 3 Absatz 2 der Sicherungsregelung mit dem allgemeinen Wortsinn überein, wonach nur einer Krankheit oder ihrer Verschlimmerung, die in Ausübung des Dienstes für die Gemeinschaften entstanden ist, ein beruflicher Charakter im Sinne der Gemeinschaftsvorschriften beigemessen werden kann.

16 Folglich kann der Begriff "Berufskrankheit", soweit das Statut keinen gegenteiligen Hinweis enthält, nicht innerhalb dieses Textes einen anderen Inhalt haben, je nachdem, ob es sich um die Anwendung von Artikel 73 oder von Artikel 78 handelt, auch wenn jede dieser Vorschriften eine Regelung betrifft, die ihre eigenen Besonderheiten hat.

17 Somit hat das Gericht auch zu Unrecht entschieden, daß der Beamte nicht verpflichtet gewesen sei, zum Nachweis einer Berufskrankheit im Sinne von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Krankheit oder ihrer Verschlimmerung und der Ausübung des Dienstes für die Gemeinschaften zu beweisen.

18 Das Gericht hat daher in dem angefochtenen Urteil den Rechtsbegriff "Berufskrankheit" im Sinne von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts verkannt und dadurch gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen.

19 Diese Schlußfolgerung wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß die Kommission bei der Einstellung von Herrn Gill in Anbetracht der Ergebnisse der vorherigen ärztlichen Untersuchung des Beamten volle Kenntnis von der Krankheit hatte, an der dieser litt und die ihren Ursprung in der früheren Berufstätigkeit des Betroffenen haben konnte, bei der er die Erfahrung erworben hatte, die die Kommission veranlasste, ihn einzustellen.

20 Dieser tatsächliche Umstand kann nämlich auf den Inhalt des Rechtsbegriffs "Berufskrankheit" keinen Einfluß haben. Selbst wenn die Kenntnis der Kommission von der Krankheit des Herrn Gill als erwiesen anzusehen wäre, wäre die einzige Folgerung, die rechtlich daraus gezogen werden könnte, die, daß die Anstellungsbehörde in Kenntnis der Umstände das Risiko eingegangen war, daß das Beschäftigungsverhältnis mit dem betroffenen Beamten vorzeitig beendet wurde und sie ihm vor dem normalen Fälligkeitstermin ein Ruhegehalt zahlen musste. Das Gericht war dagegen nicht berechtigt, aus dem erwähnten Umstand zu schließen, daß einer Krankheit, die sich der Beamte bei einer Berufstätigkeit vor seinem Dienstantritt bei den Gemeinschaften zugezogen hatte, ein beruflicher Charakter im Sinne von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts beigemessen werden konnte.

21 Somit greift der erste Rechtsmittelgrund der Kommission durch.

22 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund wirft die Kommission dem Gericht vor, dadurch gegen Artikel 13 des Anhangs VIII des Statuts verstossen zu haben, daß es entschieden habe, daß, auch wenn für die Anwendung von Artikel 78 Absatz 2 des Statuts ein Kausalzusammenhang zwischen der Krankheit von Herrn Gill oder ihrer Verschlimmerung und der Ausübung des Dienstes für die Gemeinschaften nachzuweisen wäre, dieser Kausalzusammenhang im vorliegenden Fall trotz der gegenteiligen Stellungnahme des Invaliditätsausschusses hinreichend nachgewiesen sei.

23 Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß gemäß Artikel 13 des Anhangs VIII des Statuts, ergänzt durch die Artikel 7 und 9 des Anhangs II des Statuts, die Feststellung der Dienstunfähigkeit im Sinne von Artikel 78 des Statuts in die Zuständigkeit des Invaliditätsausschusses fällt.

24 Sodann ist daran zu erinnern, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. z. B. Urteil vom 21. Mai 1981 in der Rechtssache 156/80, Morbelli/Kommission, Slg. 1981, 1357) der Zweck der genannten Vorschriften darin besteht, die endgültige Beurteilung aller medizinischen Fragen medizinischen Sachverständigen zu übertragen. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet (vgl. z. B. Urteile vom 29. November 1984 in der Rechtssache 265/83, Suß/Kommission, Slg. 1984, 4029, und vom 19. Januar 1988 in der Rechtssache 2/87, Biedermann/Rechnungshof, Slg. 1988, 143), daß sich die gerichtliche Nachprüfung nicht auf die ärztlichen Beurteilungen im eigentlichen Sinn erstrecken kann, die als endgültig anzusehen sind, wenn sie unter ordnungsgemässen Voraussetzungen ergangen sind. Diese Rechtsprechung zu Artikel 73 des Statuts gilt aus den gleichen Gründen auch für die Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses im Rahmen des Verfahrens gemäß Artikel 78 des Statuts.

25 Die Fragen in bezug auf die Ursache einer Krankheit sind jedoch ihrem Wesen nach medizinischer Natur. Folglich sind weder die Anstellungsbehörde noch das Gericht befugt, die Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses insoweit durch ihre eigene Auffassung zu ersetzen.

26 Das Gericht hat daher gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen, indem es entgegen den Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses, der das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Erkrankung von Herrn Gill und seinem Dienst bei den Gemeinschaften verneint hatte, entschieden hat, daß die Krankheit des Betroffenen in Ausübung seiner Berufstätigkeit im Dienst der Gemeinschaften entstanden sei.

27 Der zweite Rechtsmittelgrund der Kommission greift daher ebenfalls durch.

28 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß keiner der Gründe berechtigt war, die das Gericht für die Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 20. Mai 1988 angeführt hat. Folglich ist das Urteil des Gerichts vom 6. April 1990 aufzuheben, ohne daß die anderen von der Kommission vorgetragenen Rechtsmittelgründe geprüft zu werden brauchen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Das Urteil des Gerichts vom 6. April 1990 in der Rechtssache T-43/89, Gill/Kommission, wird aufgehoben.

2) Die Rechtssache wird an das Gericht zurückverwiesen.

3) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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