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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 11.07.1995
Aktenzeichen: C-266/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Verfahrensordnung


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 169
Verfahrensordnung Art. 92 § 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Das vorprozessuale Verfahren des Artikels 169 des Vertrages soll dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen.

Sein ordnungsgemässer Ablauf stellt eine durch den Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie nicht nur für den Schutz der Rechte des betroffenen Staates, sondern auch dafür dar, daß sichergestellt ist, daß das eventuelle streitige Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat. Nur auf der Grundlage eines ordnungsgemässen vorprozessualen Verfahrens kann der Gerichtshof nämlich im kontradiktorischen Verfahren entscheiden, ob der Mitgliedstaat tatsächlich gegen die genau bezeichneten Verpflichtungen verstossen hat, deren Verletzung von der Kommission geltend gemacht wird.

Eine von der Kommission erhobene Vertragsverletzungsklage ist demzufolge offensichtlich unzulässig, wenn sich herausgestellt hat, daß in der der Klage vorausgehenden mit Gründen versehenen Stellungnahme Informationen über von dem betroffenen Mitgliedstaat zur Erfuellung seiner Verpflichtungen erlassene Vorschriften nicht berücksichtigt worden sind, die dieser Staat der Kommission auf die schriftliche Aufforderung zur Äusserung hin übermittelt hat.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 11. JULI 1995. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH SPANIEN. - VERTRAGSVERLETZUNG - RICHTLINIE 92/44/EWG - MIT GRUENDEN VERSEHENE STELLUNGNAHME - NICHTBERUECKSICHTIGUNG DER ERKLAERUNGEN, DIE DER STAAT AUF DAS AUFFORDERUNGSSCHREIBEN HIN ABGEGEBEN HAT - UNZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-266/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 23. September 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 Absatz 2 EG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/44/EWG des Rates vom 5. Juni 1992 zur Einführung des offenen Netzzugangs bei Mietleitungen (ABl. L 165, S. 27, im folgenden: Richtlinie) verstossen hat, daß es nicht alle erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen.

2 Artikel 15 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie bestimmt:

"Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Vorschriften, um dieser Richtlinie vor dem 5. Juni 1993 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzueglich davon in Kenntnis."

3 Nachdem die Kommission von der spanischen Regierung keine Mitteilung über die erlassenen Umsetzungsmaßnahmen erhalten hatte, richtete sie am 9. August 1993 an diese ein Aufforderungsschreiben gemäß Artikel 169 des Vertrages.

4 Die spanische Regierung beantwortete dieses Aufforderungsschreiben mit zwei Schreiben vom 21. Oktober bzw. 22. Dezember 1993. Im ersten kündigte sie den baldigen Erlaß einer Anordnung der Dirección General de Telecomunicaciones an, durch die die Erfuellung der Verpflichtungen aus der Richtlinie vorübergehend sichergestellt werden sollte. Mit dem zweiten Schreiben übermittelte sie zwei Anordnungen des Director General de Telecomunicaciones vom 28. bzw. 29. Oktober 1993 und gab an, daß durch diese Anordnungen die Erfuellung der Verpflichtungen aus den Artikeln 3, 4 und 7 der Richtlinie bis zur Billigung der Verordnung über die Vermietung von Leitungen vorübergehend sichergestellt werden solle.

5 Das zweite Schreiben, das mit Rückschein versandt wurde, ging am 17. Januar 1994 bei der Kommission ein.

6 Am 7. Februar 1994 richtete die Kommission an das Königreich Spanien eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie feststellte, daß das Aufforderungsschreiben vom 9. August 1993 "offiziell noch nicht beantwortet worden ist".

7 Die spanische Regierung antwortete auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission mit Schreiben vom 4. März 1994 und erinnerte an den Inhalt ihres Schreibens vom 22. Dezember 1993. Sie übermittelte der Kommission in der Anlage eine neue Kopie der obengenannten Anordnungen und wies noch einmal darauf hin, daß diese Anordnungen eine vorübergehende Lösung zur Erfuellung der Verpflichtungen aus den Artikeln 3, 4 und 7 der Richtlinie bis zur Billigung der Verordnung über die Vermietung von Leitungen darstellten.

8 In ihrer Klageschrift trägt die Kommission vor, in der mit Gründen versehenen Stellungnahme sei das Schreiben der spanischen Regierung vom 22. Dezember 1993, das bei der Kommission am 17. Januar 1994 eingegangen sei, aufgrund von Übermittlungsproblemen nicht erwähnt worden.

9 In ihrer Klagebeantwortung macht das Königreich Spanien zunächst geltend, daß die Klage unzulässig sei, weil die Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme die Erklärungen der spanischen Regierung zu ihrem Aufforderungsschreiben nicht berücksichtigt habe. Eine derartige Unterlassung stelle eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar. Statt beim Gerichtshof eine Klage einzureichen, hätte die Kommission in einer zweiten mit Gründen versehenen Stellungnahme darlegen müssen, aus welchen Gründen sie die vom Königreich Spanien erlassenen Maßnahmen für unzureichend gehalten habe.

10 In ihrer Erwiderung entgegnet die Kommission, zwar habe sie auf die vom Königreich Spanien vorgelegten Vorschriften in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht Bezug genommen, sie habe dies jedoch in ihrer Klageschrift getan. Man könne weder von einer Verletzung der Verteidigungsrechte sprechen noch die Unzulässigkeit der Klage geltend machen, da die Vorschriften der Richtlinie, auf die das Königreich Spanien in seiner Antwort auf das Aufforderungsschreiben Bezug genommen habe, im Hauptteil ihrer Klageschrift vom Klagegegenstand ausgenommen worden seien.

11 In seiner Gegenerwiderung trägt das Königreich Spanien vor, die Kommission habe den Streitgegenstand durch die Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme bestimmt, ohne die Erklärungen und die Anordnungen zu berücksichtigen, die das Königreich Spanien der Kommission vorgelegt habe.

12 Die mit Gründen versehene Stellungnahme stelle einen wesentlichen Bestandteil des in Artikel 169 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens dar, das es dem betroffenen Mitgliedstaat ermögliche, nicht nur von der endgültigen Stellungnahme der Kommission in bezug auf die angebliche Vertragsverletzung Kenntnis zu erhalten, sondern auch seine eigene Verteidigung vorzubereiten, so daß es dem Mitgliedstaat unmöglich sei, sich zu verteidigen, wenn die mit Gründen versehene Stellungnahme mangelhaft sei. Das Königreich Spanien fügt hinzu, hätte es die Einwände der Kommission gegenüber seiner Antwort auf das Aufforderungsschreiben gekannt, so wäre sein gesamtes Verhalten anders ausgefallen.

13 Es ist folglich der Auffassung, daß die Kommission die vorgelegten Erklärungen und Anordnungen unabhängig davon hätte prüfen müssen, ob sie vollständig oder eingeschränkt, wirksam oder unbrauchbar seien.

14 Ist eine Klage offensichtlich unzulässig, so kann der Gerichtshof gemäß Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluß entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist.

15 Das in Artikel 169 des Vertrages geregelte Verfahren besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Stadien, nämlich einem vorprozessualen oder Verwaltungsstadium und einem streitigen Stadium vor dem Gerichtshof.

16 Das vorprozessuale Verfahren soll dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen (vgl. Urteil vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 293/85, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 305, Randnr. 13).

17 Der ordnungsgemässe Ablauf des vorprozessualen Verfahrens stellt eine durch den Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie nicht nur für den Schutz der Rechte des betroffenen Staates, sondern auch dafür dar, daß sichergestellt ist, daß das eventuelle streitige Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat.

18 Nur auf der Grundlage eines ordnungsgemässen vorprozessualen Verfahrens kann der Gerichtshof nämlich im kontradiktorischen Verfahren entscheiden, ob der Mitgliedstaat tatsächlich gegen die genau bezeichneten Verpflichtungen verstossen hat, deren Verletzung von der Kommission geltend gemacht wird.

19 Im vorliegenden Fall wurde aber in der mit Gründen versehenen Stellungnahme zu Unrecht festgestellt, daß das Aufforderungsschreiben der Kommission von seiten des Königreichs Spaniens noch nicht offiziell beantwortet worden sei.

20 Die Kommission hat somit im Stadium der mit Gründen versehenen Stellungnahme die Anordnungen nicht berücksichtigt, die das Königreich Spanien auf ihr Aufforderungsschreiben hin vorgelegt hatte und durch die, wie die Kommission im übrigen eingeräumt hat, einige Vorschriften der Richtlinie umgesetzt worden waren.

21 Die Kommission hat versucht, diese Unterlassung durch folgende Feststellungen in ihrer Klageschrift wiedergutzumachen.

"Ohne daß man sich fragen muß, ob die Umsetzung der Artikel 3, 4 und 7 der Richtlinie 92/44/EWG im spanischen Recht durch eine Entscheidung sachgerecht ist oder nicht, ist es offenkundig, daß keine Maßnahme zur Durchführung der übrigen Vorschriften dieser Richtlinie erlassen worden ist."

22 Das Verhalten der Kommission hat jedoch dazu geführt, daß die Parteien erst im Stadium der Erwiderung und der Gegenerwiderung damit begonnen haben, Art und Umfang ihrer Streitigkeit genau einzugrenzen.

23 Dies ist nicht das im Vertrag vorgesehene Verfahren.

24 Haben Übermittlungsprobleme zu einem Mißverständnis geführt, das sich auf die mit Gründen versehene Stellungnahme ausgewirkt hat, so hinderte die Kommission unter den Umständen des vorlegenden Falles nichts daran, diese Stellungnahme zurückzunehmen und die Antwort des Königreichs Spaniens auf das Aufforderungsschreiben zu prüfen. Die Kommission hätte anschließend gegebenenfalls eine neue mit Gründen versehene Stellungnahme abgeben und darin die Rügen genau bezeichnen können, die sie aufrechterhalten wollte.

25 Eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer auf Artikel 169 des Vertrages gestützten Klage, nämlich der ordnungsgemässe Ablauf des vorprozessualen Verfahrens, ist folglich in der vorliegenden Rechtssache nicht gegeben.

26 Gemäß Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes ist die Klage somit als offensichtlich unzulässig abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Luxemburg, den 11. Juli 1995

Ende der Entscheidung

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