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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.10.1991
Aktenzeichen: C-302/90
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 36/63 EWG, Verordnung Nr. 2793/81 EWG, Verordnung Nr. 1408/71 EWG


Vorschriften:

Verordnung Nr. 36/63 EWG
Verordnung Nr. 2793/81 EWG
Verordnung Nr. 1408/71 EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger ist dahin auszulegen, daß ein Grenzgänger die Grenzgängereigenschaft nicht deshalb verliert, weil er vollarbeitslos ist.

2. Nach der Regelung der Verordnung Nr. 36/63, sodann der Verordnung Nr. 1408/71 vor ihrer Änderung durch die Verordnung Nr. 2793/81 konnte ein vollarbeitsloser Grenzgänger vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 und sodann Leistungen bei Invalidität gemäß Artikel 39 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 verlangen.

3. Die Zeit der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers, der nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 seine Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Wohnmitgliedstaat geltend zu machen hat, ist, auch wenn sie dort nicht als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt wird, im Staat der letzten Beschäftigung, nach dessen Rechtsvorschriften die im Gebiet dieses Staates zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit Krankenversicherungszeiten gleichgestellt sind, als eine solche Zeit anzusehen.

Dieses Ergebnis gilt ungeachtet der Vorschriften der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71, nach denen "Versicherungszeiten" die Zeiten sind, die nach den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind, als solche bestimmt oder anerkannt sind, und deren Anwendung in einem solchen Fall dem Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag zuwiderlaufen würde, da sie darauf hinausliefe, einem Wanderarbeitnehmer die Vergünstigungen zu nehmen, auf die er allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats Anspruch gehabt hätte.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 15. OKTOBER 1991. - CAISSE AUXILIAIRE D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE UND INSTITUT NATIONAL D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE GEGEN NAPOLEON UND JOCELYNE FAUX. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DU TRAVAIL DE MONS - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT DER GRENZGAENGER - VERORDNUNG NR. 36/63/EWG. - RECHTSSACHE C-302/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour du travail Mons hat mit Urteil vom 28. September 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Oktober 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung der Verordnung Nr. 36/63/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger (ABl. 1963, 62, S. 1314) und der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Napoléon und Jocelyne Faux als Erben der während des Verfahrens verstorbenen Frau Desse, und der Caisse auxiliaire d' assurance maladie-invalidité (im folgenden: CAAMI) und dem Streithelfer Institut national d' assurance maladie-invalidité (im folgenden: INAMI).

3 Frau Desse, eine französische Staatsangehörige, die vom 25. Februar 1957 bis zum 4. Dezember 1970, dem Tag ihrer Entlassung, als Grenzgängerin in Belgien gearbeitet hatte, bezog gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 bis zum 11. Oktober 1971 mit einer einzigen Unterbrechung in der Zeit vom 2. bis zum 21. Februar 1971, in der sie Krankengeld vom belgischen Versicherungsträger erhielt, Leistungen bei Arbeitslosigkeit in Frankreich.

4 Frau Desse wurde von der CAAMI für die Zeit vom 12. Oktober 1971 bis zum 30. September 1980, dem Zeitpunkt, zu dem sie in den Ruhestand trat, als arbeitsunfähig anerkannt. Die CAAMI verweigerte ihr jedoch mit Entscheidung vom 11. Mai 1973 die Leistungen der Kranken- und Invaliditätsversicherung. Frau Desse erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunal du travail Tournai, das der Klage durch Urteil vom 4. Juni 1976 stattgab.

5 Die CAAMI, unterstützt durch das INAMI als Streithelfer, legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour du travail Mons ein, die das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1) Verliert eine in Frankreich wohnende französische Arbeitnehmerin, die fast vierzehn Jahre lang nur in Belgien im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt war, die Eigenschaft einer Grenzgängerin im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63/EWG (die ihr im Zeitpunkt der Entlassung am 4. Dezember 1970 noch zuerkannt war), und ist dieser Verlust der Grenzgängereigenschaft darauf zurückzuführen, daß sie vollarbeitslos war und deshalb in der Zeit vom 24. Februar 1971 bis zum 11. Oktober 1971 gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63/EWG vom 2. April 1963 vom französischen Träger ihres Wohnorts Leistungen bezog, obwohl sie diese Eigenschaft nach Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 1 dieser Verordnung offenbar behalten hat?

2) Kann sie nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63 im Fall von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit, gefolgt von einer nach den belgischen Rechtsvorschriften über die Kranken- und Invaliditätsversicherung (Gesetz vom 9. August 1963) anerkannten Invalidität, vom zuständigen belgischen Träger vom 12. Oktober 1971 bis zur Erreichung des Rentenalters (am 30. September 1980) Leistungen bei ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit (während eines Jahres), sodann bei Invalidität verlangen?

3) Ist im Geiste der Verordnung Nr. 36/63 und der dazu (entsprechend ihrer fünften Begründungserwägung) erlassenen besonderen ergänzenden Bestimmungen davon auszugehen, daß die Zeit der Arbeitslosigkeit in Frankreich, obwohl in diesem Wohnstaat nicht als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt, im früheren Beschäftigungsstaat Belgien als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anzusehen ist (namentlich für die Anwendung des nationalen Gesetzes vom 9. August 1963 über die Kranken- und Invaliditätsversicherung [Artikel 66 bis 68 und 75])?

Die Antwort auf diese Frage hängt mit Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 zusammen, der einen Grenzgänger, der vollarbeitslos geworden ist, stillschweigend verpflichtet, seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung nicht im Beschäftigungsstaat, in dem er der Sozialversicherung der Arbeitnehmer unterlag und seinen Arbeitsplatz verloren hat, sondern in seinem Wohnstaat (hier: Frankreich) geltend zu machen und sich dort als Arbeitsuchender zu melden.

4) Hilfsweise schließlich für den Fall der Verneinung der ersten drei Fragen und der Anwendung der Verordnung Nr. 3 ab 12. Oktober 1971 und der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ab 1. Oktober 1972 im Bereich der Kranken- und Invaliditätsversicherung:

Muß der Träger des Beschäftigungsstaats, in dem der Betroffene der Sozialversicherung der Arbeitnehmer unterlag (hier: Belgien), davon ausgehen, daß die Zeit, in der in Frankreich gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63/EWG Arbeitslosenunterstützung gewährt worden ist (obwohl diese Zeit dort nicht als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt wurde), als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit im Sinne der Artikel 66 (Wartezeit) sowie 68 und 75 (wegen Aufrechterhaltung der Berechtigteneigenschaft) des Gesetzes vom 9. August 1963 über die Kranken- und Invaliditätsversicherung anzusehen ist?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

7 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 dahin auszulegen ist, daß ein Grenzgänger die Grenzgängereigenschaft deshalb verliert, weil er vollarbeitslos ist.

8 Das INAMI trägt vor, die Bestimmungen der Verordnung Nr. 36/63 seien auf Arbeitnehmer nur dann anwendbar, wenn diese unter die in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c dieser Verordnung enthaltene Definition des Grenzgängers fielen und insbesondere im Hoheitsgebiet eines anderen als des Wohnmitgliedstaats beschäftigt seien. Diese zweite Voraussetzung sei jedoch nicht erfuellt, wenn der Arbeitnehmer vollarbeitslos sei. Das INAMI stützt sein Vorbringen auf die Auslegung der Worte "beschäftigt sind" durch die gemäß Artikel 43 der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, 30, S. 597) eingesetzte Verwaltungskommission. Diese Kommission hatte den Standpunkt vertreten, daß diese Worte sehr weit auszulegen seien und unter anderem auch "les travailleurs en chômage partiel ou accidentel [bei Kurzarbeit oder technisch bedingter Arbeitslosigkeit] mit Anspruch auf Leistungen gemäß Artikel 19 Absatz 2 der Verordnung Nr. 36/63" umfassten. Das INAMI leitet aus dieser Auslegung her, daß vollarbeitslose Arbeitnehmer, für die Artikel 19 Absatz 1 dieser Verordnung die Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit definiere, keine Grenzgänger mehr seien.

9 Zwar kann die vom INAMI vertretene Auslegung eine gewisse Stütze im Wortlaut der in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 gebrauchten Wendung "im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt sind" finden; sie steht jedoch im Widerspruch zum Inhalt und zum Wortlaut anderer Bestimmungen derselben Verordnung, nämlich der Artikel 19 Absatz 1 und 10.

10 Artikel 19 Absatz 1 dieser Verordnung betrifft die Leistungen, auf die "Grenzgänger" "bei Arbeitslosigkeit" Anspruch haben. Artikel 10 bestimmt: "Werden einem Grenzgänger gemäß Artikel 19 Absatz (1) oder (2) nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit gewährt, so haben er und seine Angehörigen während des gleichen Zeitraums Anspruch auf die Sachleistungen des Trägers des Wohnorts." Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, daß ein arbeitsloser Grenzgänger seine Grenzgängereigenschaft behält.

11 Was das auf die Auslegung der in Artikel 43 der Verordnung Nr. 3 genannten Verwaltungskommission gestützte Argument angeht, so genügt der Hinweis darauf, daß, wie aus den zu den Akten gereichten Schriftstücken hervorgeht, das Problem, das zu dieser Auslegung geführt hat, ausschließlich die Frage betraf, ob Grenzgänger, die Leistungen bei Kurzarbeit oder technisch bedingter Arbeitslosigkeit beziehen, als "beschäftigt" im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 anzusehen waren. Der Fall der vollarbeitslosen Arbeitnehmer wurde dagegen nicht berücksichtigt.

12 Auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts ist somit zu antworten, daß Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 dahin auszulegen ist, daß ein Grenzgänger die Grenzgängereigenschaft nicht deshalb verliert, weil er vollarbeitslos ist.

Zur zweiten Frage

13 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob ein vollarbeitsloser Grenzgänger vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit und sodann bei Invalidität verlangen kann.

14 Was zunächst die Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit betrifft, so genügt die Feststellung, daß Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63, der den Beschäftigungsmitgliedstaat die Geldleistungen bei Krankheit gewähren ließ, auf die ein Grenzgänger Anspruch hätte, wenn er im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnen würde, in der vorliegenden Rechtssache anwendbar ist, da der vollarbeitslose Grenzgänger die Grenzgängereigenschaft behält.

15 Was die Leistungen bei Invalidität des vollarbeitslosen Grenzgängers angeht, so ergibt sich aus Artikel 39 Absatz 5 der Verordnung Nr. 1408/71, daß er sie vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats erhält, in dessen Gebiet er wohnt. Diese Bestimmung ist jedoch, wie die Kommission ausgeführt hat, im Ausgangsverfahren nicht anwendbar. Sie wurde nämlich in diese Verordnung durch die Verordnung (EWG) Nr. 2793/81 des Rates vom 17. September 1981 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 275, S. 1) eingefügt, die erst am Tage ihrer Veröffentlichung, d. h. am 29. September 1981, in Kraft getreten ist.

16 Somit ist Artikel 39 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung zu berücksichtigen, die zu der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit galt. Aus den Absätzen 1 und 2 dieser Vorschrift ergibt sich jedoch, daß die Leistungen bei Invalidität vom Träger des Mitgliedstaats zu gewähren sind, dessen Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit mit anschließender Invalidität anzuwenden waren, sofern der Betroffene die Voraussetzungen dieser Rechtsvorschriften erfuellte.

17 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist davon auszugehen, daß der Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit eines vollarbeitslosen Grenzgängers anzuwenden waren, nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 36/63, insbesondere Artikel 6, nur der Staat der letzten Beschäftigung sein konnte.

18 Auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß nach dem im Ausgangsverfahren anwendbaren Recht ein vollarbeitsloser Grenzgänger vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 und sodann auf Leistungen bei Invalidität gemäß Artikel 39 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 verlangen kann.

Zur dritten Frage

19 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Zeit der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers, der nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 seine Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Wohnmitgliedstaat geltend zu machen hat, auch wenn sie dort nicht als Krankenversicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt wird, im Staat der letzten Beschäftigung, nach dessen im betreffenden Zeitraum geltenden Rechtsvorschriften die im Gebiet dieses Staates zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit Krankenversicherungszeiten gleichgestellt waren, als eine solche Zeit anzusehen ist.

20 Zur Beantwortung dieser Frage sind bestimmte nationalrechtliche und gemeinschaftsrechtliche Aspekte in Betracht zu ziehen, die dem im Ausgangsverfahren aufgetretenen Problem zugrunde liegen.

21 Ausweislich der Akten war zu der betreffenden Zeit nach den belgischen Rechtsvorschriften, die als Rechtsvorschriften des Staates der letzten Beschäftigung anwendbar waren (siehe oben Randnr. 17), die Gewährung von Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit insbesondere von der Zurücklegung einer Mindestarbeits- und -versicherungszeit abhängig (Artikel 66 und 68 des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963 zur Einführung und Verwaltung eines Systems der Pflichtversicherung gegen Krankheit und Invalidität, Moniteur belge vom 1./2. November 1963). Nach den Artikeln 21 Nr. 3 und 45 Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe c dieses Gesetzes hatten arbeitslose Arbeitnehmer Anspruch auf Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit; die Zeit der Arbeitslosigkeit war somit einer Versicherungszeit gleichgestellt.

22 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß der zuständige belgische Träger Frau Desse die streitigen Leistungen mit der Begründung verweigert hat, daß die Zeit, in der sie Leistungen bei Arbeitslosigkeit in Frankreich, dem Wohnstaat, bezogen habe, in diesem Staat nicht als Versicherungszeit anerkannt sei.

23 Der Umstand, daß Frau Desse Leistungen bei Arbeitslosigkeit in Frankreich und nicht in Belgien bezogen hat, war jedoch eine notwendige Folge der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Nach dem Wortlaut des Artikels 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 haben nämlich arbeitslose Grenzgänger Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nur in dem Mitgliedstaat, in dem sie wohnen (vgl. Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache 1/85, Miethe, Slg. 1986, 1837, Randnr. 10, zur Auslegung des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71, dessen Wortlaut im wesentlichen mit dem des Artikels 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 übereinstimmt).

24 Unter Berücksichtigung all dessen kann die Frage des vorlegenden Gerichts, ob die Zeit, in der die Betroffene in Frankreich Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezogen hat, für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit nach den belgischen Rechtsvorschriften einer Versicherungszeit gleichzustellen ist, nur bejaht werden.

25 Zwar bezeichnen, wie der Gerichtshof mehrfach ausgeführt hat (z. B. Urteil vom 5. Dezember 1967 in der Rechtssache 14/67, Welchner, Slg. 1967, 444) und wie das INAMI vorgetragen hat, sowohl die Verordnung Nr. 3 (Artikel 1 Buchstabe p) als auch die Verordnung Nr. 1408/71 (Artikel 1 Buchstabe r), die im Ausgangsverfahren anwendbar sind, als "Versicherungszeiten" die Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind, als solche bestimmt oder anerkannt sind.

26 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens würde diese Auslegung jedoch dazu führen, daß einem Grenzgänger, der sich gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 im Wohnmitgliedstaat arbeitslos gemeldet hat, im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung die Gewährung von Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit verweigert würde, auf die er Anspruch gehabt hätte, wenn er sich in diesem Mitgliedstaat als Arbeitsuchender gemeldet hätte und wenn folglich die Zeit seiner Arbeitslosigkeit dort einer Krankenversicherungszeit gleichgestellt worden wäre.

27 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile vom 5. Juli 1967 in der Rechtssache 9/67, Colditz, Slg. 1967, 308, vom 21. Oktober 1975 in der Rechtssache 24/75, Petroni, Slg. 1975, 1149, Randnr. 13, und vom 7. März 1991 in der Rechtssache C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119, Randnr. 18) würde jedoch der Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag verfehlt, wenn die Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen allein die Rechtsvorschriften eines einzelnen Mitgliedstaats sichern.

28 Aus dem Vorstehenden folgt, daß die Vorschriften der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71, die die Versicherungszeiten definieren, nicht so ausgelegt werden können, daß sie darauf hinauslaufen, daß den Wanderarbeitnehmern Vergünstigungen genommen werden, auf die sie allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats Anspruch gehabt hätten, und daß so die Erreichung des mit den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag verfolgten Zwecks verhindert wird (vgl. Urteile vom 5. Juli 1967, Colditz, a. a. O., vom 6. März 1979 in der Rechtssache 100/78, Rossi, Slg. 1979, 831, und vom 12. Juni 1980 in der Rechtssache 733/79, Laterza, Slg. 1980, 1915).

29 Auf die dritte Frage ist somit zu antworten, daß die Zeit der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers, der nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 seine Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Wohnmitgliedstaat geltend zu machen hat, auch wenn sie dort nicht als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt wird, im Staat der letzten Beschäftigung, nach dessen im betreffenden Zeitraum geltenden Rechtsvorschriften die im Gebiet dieses Staates zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit Krankenversicherungszeiten gleichgestellt waren, als eine solche Zeit anzusehen ist.

30 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage braucht die vierte Frage nicht mehr beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

31 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm von der Cour du travail Mons mit Urteil vom 28. September 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger ist dahin auszulegen, daß ein Grenzgänger die Grenzgängereigenschaft nicht deshalb verliert, weil er vollarbeitslos ist.

2) Nach dem im Ausgangsverfahren anwendbaren Recht kann ein vollarbeitsloser Grenzgänger Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger und sodann Leistungen bei Invalidität gemäß Artikel 39 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, verlangen.

3) Die Zeit der Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers, der nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger seine Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Wohnmitgliedstaat geltend zu machen hat, ist, auch wenn sie dort nicht als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anerkannt wird, im Staat der letzten Beschäftigung, nach dessen im betreffenden Zeitraum geltenden Rechtsvorschriften die im Gebiet dieses Staates zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit Krankenversicherungszeiten gleichgestellt waren, als eine solche Zeit anzusehen.

Ende der Entscheidung

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