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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.04.1995
Aktenzeichen: C-350/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 93 Abs. 2
EWG-Vertrag Art. 93 Abs. 3
EWG-Vertrag Art. 92
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Wenn die Kommission gestützt auf Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 2 des Vertrages ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einleitet, weil dieser eine Entscheidung nicht durchgeführt hat, mit der eine Beihilfe für unvereinbar mit dem Vertrag erklärt und ihre Rückforderung verlangt wurde und gegen die erfolglos Nichtigkeitsklage erhoben wurde, dann kann der betreffende Mitgliedstaat zu seiner Verteidigung nur geltend machen, daß es völlig unmöglich gewesen sei, die Entscheidung richtig durchzuführen.

2. Ein Mitgliedstaat, der bei der Durchführung einer Entscheidung, mit der die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird, auf unvorhergesehene und unvorhersehbare Schwierigkeiten stösst oder sich über Folgen klar wird, die von der Kommission nicht beabsichtigt waren, muß diese Probleme der Kommission zur Beurteilung vorlegen und dabei geeignete Änderungen der fraglichen Entscheidung vorschlagen. In einem solchen Fall müssen die Kommission und der Mitgliedstaat gemäß dem Grundsatz, daß den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit obliegen, wie er namentlich Artikel 5 des Vertrages zugrunde liegt, redlich zusammenwirken, um die Schwierigkeiten unter vollständiger Beachtung der Bestimmungen des Vertrages, insbesondere derjenigen über die Beihilfen, zu überwinden.

3. Die einem Mitgliedstaat durch eine Entscheidung der Kommission auferlegte Verpflichtung zur Aufhebung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfe dient zur Wiederherstellung der früheren Lage. Dieses Ziel ist erreicht, wenn der Empfänger die Beihilfe, gegebenenfalls zuzueglich Verzugszinsen, zurückgezahlt und dadurch den Vorteil, den er auf dem Markt gegenüber seinen Mitbewerbern besaß, verloren hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 4. APRIL 1995. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG - MIT DEM GEMEINSAMEN MARKT UNVEREINBARE STAATLICHE BEIHILFE - RUECKFORDERUNG - STAATLICHE HOLDINGGESELLSCHAFT. - RECHTSSACHE C-350/93.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 7. Juli 1993 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Entscheidung 89/43/EWG der Kommission vom 26. Juli 1988 über die von der italienischen Regierung gewährten Beihilfen für das Unternehmen ENI/Lanerossi (ABl. 1989, L 16, S. 52, im folgenden: Entscheidung) verstossen hat, daß sie die der Unternehmensgruppe ENI/Lanerossi (nunmehr SNAM SpA) gezahlten Beihilfen in Höhe von 260,4 Milliarden LIT nicht innerhalb der ihr eingeräumten Frist abgeschafft und zurückgefordert hat.

2 In der Entscheidung stellte die Kommission fest, die der Unternehmensgruppe ENI/Lanerossi zugunsten ihrer Tochtergesellschaften der Herrenoberbekleidungsindustrie gewährten Beihilfen in Form von Kapitalhilfen in Höhe von 260,4 Milliarden LIT seien rechtswidrig, da sie unter Verstoß gegen Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages gewährt worden seien, und im Sinne von Artikel 92 des Vertrages mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar (Artikel 1). Sie entschied, daß die genannten Beihilfen zurückzufordern seien (Artikel 2). Die italienische Regierung hatte sie innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung von den Maßnahmen zu unterrichten, die sie getroffen hatte, um der Entscheidung nachzukommen (Artikel 3).

3 Durch Urteil vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-303/88 (Italien/Kommission, Slg. 1991, I-1433) wies der Gerichtshof die gegen die Entscheidung erhobene Nichtigkeitsklage ab.

4 Nachdem die Kommission die Italienische Republik mehrmals aufgefordert hatte, die Entscheidung durchzuführen und ihr die zu diesem Zweck getroffenen Maßnahmen mitzuteilen, unterrichtete sie die Italienische Republik am 25. März 1992 davon, daß sie beabsichtige, die Beihilfen in der Weise zurückfließen zu lassen, daß die Firma Lanerossi an die staatliche Hodinggesellschaft ENI einen Betrag in Höhe der Beihilfen zuzueglich der angefallenen Zinsen zahle.

5 Mit Schreiben vom 26. Juni 1992 teilte die Kommission der italienischen Regierung mit, daß sie nicht nur die Rückerstattung der Beihilfen von der Firma Lanerossi an die ENI, sondern auch ihre Zahlung an den italienischen Staat hätte verlangen müssen. In diesem Schreiben kündigte die Kommission an, daß sie den Gerichtshof anrufen werde, wenn die Italienische Republik nicht bis zum 31. Juli 1992 die zur Rückforderung der Beihilfen erforderlichen Maßnahmen treffe; diese Frist wurde später bis zum 31. März 1993 verlängert.

6 Erst nach der Klageerhebung zahlte die SNAM SpA, die Rechtsnachfolgerin der Firma Lanerossi, an die ENI einen Betrag von 362,241 Milliarden LIT, bei dem es sich nach Angaben der Italienischen Republik um die Hauptforderung und die Zinsen der Beihilfen handelt, deren Rückforderung die Kommission verlangt hatte.

7 Die Kommission stützt ihre Klage darauf, daß die Italienische Republik dadurch gegen Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages verstossen habe, daß sie die Beihilfen nicht innerhalb der Frist von zwei Monaten nach der Bekanntgabe der Entscheidung zurückgefordert habe und daß sie es unterlassen habe, von der ENI die Rückzahlung der Beihilfen an den italienischen Staat zu verlangen.

Zur Zulässigkeit der Klage

8 Die Italienische Republik erhebt gegen die Klage eine Einrede der Unzulässigkeit, da mit ihr die Feststellung der Nichterfuellung einer Verpflichtung ° der Rückzahlung der Beihilfen von der ENI an den italienischen Staat ° begehrt werde, die der Entscheidung nicht zu entnehmen sei. Ausserdem enthalte die Klage entgegen Artikel 38 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes keine kurze Darstellung der Klagegründe, aus denen sich der Verstoß der mangelnden Rückforderung der Beihilfen von der ENI gegen die Entscheidung ergebe.

9 Hierzu ist festzustellen, daß die Kommission lediglich geltend macht, daß die Italienische Republik der Entscheidung nicht nachgekommen sei, deren angebliche Verletzung Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist. Die Frage, ob die Entscheidung die Italienische Republik dazu verpflichtet, die Beihilfen von der ENI zurückzufordern, ist im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen und kann ihre Zulässigkeit nicht beeinflussen.

10 Im übrigen enthält die Klageschrift in Übereinstimmung mit den Anforderungen von Artikel 38 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung eine klare Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Kommission und hat es der italienischen Regierung ermöglicht, eine eingehende Klagebeantwortung vorzulegen.

11 Die Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.

Zur Nichtdurchführung der Entscheidung

12 Die beiden von der Kommission angeführten Rügen sind nacheinander zu prüfen.

Rüge der mangelnden Rückforderung der Beihilfen innerhalb der festgelegten Frist

13 Die italienische Regierung wird in der Entscheidung mit klaren Worten dazu verpflichtet, die Beihilfen innerhalb von zwei Monaten nach der am 10. August 1988 erfolgten Bekanntgabe der Entscheidung zurückzufordern.

14 Die Rückzahlung wurde jedoch erst am 11. Oktober 1993 von der SNAM SpA an die ENI vorgenommen.

15 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mitgliedstaat zur Verteidigung gegen eine von der Kommission gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages erhobene Vertragsverletzungsklage nur geltend machen, daß es völlig unmöglich gewesen sei, die Entscheidung richtig durchzuführen (vgl. zuletzt Urteil vom 23. Februar 1995 in der Rechtssache C-349/93, Kommission/Italien, Slg. 1995, I-0000, Randnr. 12, und die dort zitierte Rechtsprechung).

16 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, daß ein Mitgliedstaat, der bei der Durchführung einer Entscheidung der Kommission über staatliche Beihilfen auf unvorhergesehene und unvorhersehbare Schwierigkeiten stösst oder sich über Folgen klar wird, die von der Kommission nicht beabsichtigt waren, diese Probleme der Kommission zur Beurteilung vorlegen und dabei geeignete Änderungen der fraglichen Entscheidung vorschlagen muß. In einem solchen Fall müssen die Kommission und der Mitgliedstaat gemäß dem Grundsatz, daß den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit obliegen, wie er namentlich Artikel 5 des Vertrages zugrunde liegt, redlich zusammenwirken, um die Schwierigkeiten unter vollständiger Beachtung der Bestimmungen des Vertrages, insbesondere derjenigen über die Beihilfen, zu überwinden (vgl. Urteil Kommission/Italien, a. a. O., Randnr. 13, und die dort zitierte Rechtsprechung).

17 Die Italienische Republik beruft sich jedoch weder darauf, daß die Durchführung der Entscheidung völlig unmöglich gewesen sei, noch auf unvorhergesehene und unvorhersehbare Schwierigkeiten.

18 Unter diesen Umständen ist die Klage insofern für begründet zu erklären, als die Italienische Republik die Entscheidung nicht innerhalb der festgelegten Frist durchgeführt hat.

Rüge der mangelnden Rückzahlung der Beihilfen von der ENI an den italienischen Staat

19 Bei der Entscheidung über diese Rüge ist auf das Ziel der Verpflichtung zur Rückforderung rechtswidriger Beihilfen und auf den Umfang abzustellen, den diese Verpflichtung nach der Entscheidung hat.

20 Insoweit sieht Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages vor, daß die Kommission, wenn sie feststellt, daß eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, entscheidet, daß der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.

21 Die Verpflichtung des Staates, eine von der Kommission als unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt angesehene Beihilfe aufzuheben, dient nach ständiger Rechtsprechung zur Wiederherstellung der früheren Lage (vgl. Urteil vom 14. September 1994 in den verbundenen Rechtssachen C-278/92, C-279/92 und C-280/92, Spanien/Kommission, Slg. 1994, I-4103, Randnr. 75, und die dort zitierte Rechtsprechung).

22 Dieses Ziel ist erreicht, wenn die fraglichen Beihilfen, gegebenenfalls zuzueglich Verzugszinsen, vom Empfänger, hier der SNAM SpA, an die ENI, eine öffentliche Einrichtung zur Verwaltung der staatlichen Beteiligungen, zurückgezahlt werden. Durch diese Rückzahlung verliert nämlich der Empfänger den Vorteil, den er auf dem Markt gegenüber seinen Mitbewerbern besaß, und die Lage vor der Zahlung der Beihilfe wird wiederhergestellt.

23 Sodann ist festzustellen, daß die Kommission in Artikel 2 der Entscheidung nur verlangt hat, daß die italienische Regierung die Beihilfen abschafft und die SNAM SpA auffordert, sie innerhalb einer bestimmten Frist und nach deren Ablauf mit Verzugszinsen zurückzuzahlen.

24 Es ist zwar nicht auszuschließen, daß die Zuweisung von Mitteln durch den Staat an eine öffentliche Einrichtung wie die ENI eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 des Vertrages darstellen kann; die Kommission hat jedoch entgegen ihrem Vorbringen in der Entscheidung nicht im Anschluß an das im Vertrag vorgesehene Verfahren festgestellt, daß die Bereitstellung von Mitteln durch den Staat zugunsten der ENI ebenfalls eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe darstellt.

25 Unter diesen Umständen ist die Klage insofern als unbegründet anzusehen, als die Kommission der Italienischen Republik vorwirft, von der ENI nicht die Rückzahlung der Beihilfen an den italienischen Staat verlangt zu haben.

26 Somit ist festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag verstossen hat, daß sie die Entscheidung nicht innerhalb der festgelegten Frist durchgeführt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Beklagte mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Entscheidung 89/43/EWG der Kommission vom 26. Juli 1988 über die von der italienischen Regierung gewährten Beihilfen für das Unternehmen ENI/Lanerossi verstossen, daß sie die der Unternehmensgruppe ENI/Lanerossi (nunmehr SNAM SpA) gezahlten Beihilfen in Höhe von 260,4 Milliarden LIT nicht innerhalb der ihr eingeräumten Frist abgeschafft und zurückgefordert hat.

2) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

3) Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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