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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.10.2006
Aktenzeichen: C-371/04
Rechtsgebiete: EG, Verordnung (EWG) Nr. 1612/68


Vorschriften:

EG Art. 226
EG Art. 10
EG Art. 39
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 Art. 7 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)

26. Oktober 2006

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Beschäftigung im öffentlichen Dienst -Nichtberücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten erlangten Berufserfahrung und des dort erreichten Dienstalters - Artikel 10 EG und 39 EG - Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68"

Parteien:

In der Rechtssache C-371/04

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG, eingereicht am 30. August 2004,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch G. Rozet und A. Aresu als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter R. Schintgen, P. Kuris, J. Klucka (Berichterstatter) und G. Arestis,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2006,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 1. Juni 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 10 EG, 39 EG und 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2, im Folgenden: Verordnung) verstoßen hat, dass sie die von einem im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigten EG-Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat erlangte Berufserfahrung und das dort erreichte Dienstalter nicht berücksichtigt.

Rechtlicher Rahmen

2 Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung lautet:

"Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer."

Vorverfahren

3 Die Kommission forderte die Italienische Republik aufgrund einer Beschwerde mit Schreiben vom 18. Dezember 2001 auf, Auskünfte über die Situation eines Gemeinschaftsbürgers zu erteilen, der im Rahmen eines Arbeitsvertrags mit dem Comitato d'assistenza scolastica italiana (im Folgenden: Coascit) in einer staatlichen französischen Schule unterrichtet hatte und dessen in Frankreich erlangte Berufserfahrung und dort erreichtes Dienstalter anschließend in Italien nicht berücksichtigt wurden. Die genannte Aufforderung blieb unbeantwortet.

4 Mit Schreiben vom 25. März und vom 12. August 2002 forderte die Kommission die Italienische Republik erneut auf, Auskünfte über die Situation des genannten Gemeinschaftsbürgers und über die weiterer Beschwerdeführer zu erteilen, die mit der Nichtberücksichtigung ihrer in einem anderen Mitgliedstaat erlangten Berufserfahrung oder ihres dort erreichten Dienstalters ähnliche Probleme hätten. Sie verlangte ganz allgemein nach Informationen über die entsprechende italienische Regelung und Verwaltungspraxis.

5 Da ihre Aufforderungen unbeantwortet blieben, und nachdem sie am 19. Dezember 2002 eine Äußerung der Italienischen Republik angemahnt hatte, gab die Kommission am 15. Mai 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie diesen Mitgliedstaat aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten ab ihrer Bekanntgabe nachzukommen.

6 Die Kommission hielt die Antwort auf diese Stellungnahme nicht für überzeugend und hat deshalb die vorliegende Klage erhoben.

Zur Klage

7 Zur Begründung ihrer Klage macht die Kommission zwei Klagegründe geltend: zum einen einen Verstoß gegen Artikel 10 EG und zum anderen einen Verstoß gegen Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung.

Zur Rüge eines Verstoßes gegen Artikel 10 EG

8 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof von Amts wegen prüfen kann, ob die gemäß Artikel 226 EG für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage geltenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. u. a. Urteile vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353, Randnr. 8, vom 27. Oktober 2005 in der Rechtssache C-525/03, Kommission/Italien, Slg. 2005, I-9405, Randnr. 8, und vom 4. Mai 2006 in der Rechtssache C-98/04, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-4003, Randnr. 16).

9 Das Vorverfahren soll dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit geben, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission sachdienlich geltend zu machen (Urteil vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 293/85, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 305, Randnr. 13, und Beschluss vom 11. Juli 1995 in der Rechtssache C-266/94, Kommission/Spanien, Slg. 1995, I-1975, Randnr. 16). Der ordnungsgemäße Ablauf des Vorverfahrens stellt somit eine im EG-Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie für den Schutz der Rechte des betroffenen Mitgliedstaats dar. Nur wenn diese Garantie beachtet wird, erlaubt das kontradiktorische Verfahren vor dem Gerichtshof diesem, zu entscheiden, ob der Mitgliedstaat tatsächlich gegen die Verpflichtungen verstoßen hat, deren Verletzung die Kommission geltend macht (Beschluss Kommission/Spanien, Randnrn. 17 f.). Insbesondere soll das Mahnschreiben im Vorverfahren den Gegenstand des Rechtsstreits eingrenzen und dem Mitgliedstaat, der zur Äußerung aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung seiner Verteidigung an die Hand geben (Urteil vom 5. Juni 2003 in der Rechtssache C-145/01, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-5581, Randnr. 17).

10 Im vorliegenden Fall wird in dem Mahnschreiben vom 19. Dezember 2002 die Rüge eines Verstoßes gegen Artikel 10 EG nicht erwähnt.

11 Daraus folgt, dass diese Klage unzulässig ist, soweit sie auf die Feststellung gerichtet ist, dass die Italienische Republik ihren Verpflichtungen aus dem genannten Artikel nicht nachgekommen ist.

Zur Rüge eines Verstoßes gegen Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung

12 Die Kommission trägt unter Hinweis auf die Urteile vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C-15/96 (Schöning-Kougebetopoulou, Slg. 1998, I-47), vom 12. März 1998 in der Rechtssache C-187/96 (Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-1095), vom 30. November 2000 in der Rechtssache C-195/98 (Österreichischer Gewerkschaftsbund, Slg. 2000, I-10497) und vom 12. Mai 2005 in der Rechtssache C-278/03 (Kommission/Italien, Slg. 2005, I-3747) vor, dass der sich aus Artikel 39 EG und aus Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung ergebende Grundsatz der Gleichbehandlung der EG-Arbeitnehmer dem entgegenstehe, dass die von einem dieser Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat auf einem vergleichbaren Tätigkeitsgebiet zurückgelegten Beschäftigungszeiten von der Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats bei der Festlegung der Bedingungen für die Berufsausübung wie Gehalt, Besoldungsgruppe und Beförderungsaussichten nicht berücksichtigt würden, während eine im öffentlichen Dienst des letztgenannten Staates erworbene Berufserfahrung berücksichtigt werde.

13 Angesichts dieser Rechtsprechung habe die Italienische Republik im vorliegenden Fall dadurch gegen die fraglichen Vorschriften verstoßen, dass sie bei im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmern, insbesondere in den staatlichen Bereichen der Bildung und des Gesundheitswesens, die in anderen Mitgliedstaaten erlangte Erfahrung und das dort erreichte Dienstalter nicht berücksichtige.

14 Die italienische Regierung hält dem entgegen, dass die Pflicht eines Mitgliedstaats, zu bestimmten Zwecken Beschäftigungszeiten anzuerkennen, die zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt worden seien, von zwei kumulativen Voraussetzungen abhänge: Zum einen müssten die Bereiche der in den beiden Staaten ausgeübten Tätigkeiten vergleichbar sein und zum anderen müsse die in dem anderen Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit mit dem öffentlichen Dienst zusammenhängen.

15 Wenn eine Person, die ihre Tätigkeit in einem bestimmten öffentlichen Sektor ausgeübt habe, im Rahmen eines privatrechtlichen Arbeitsvertrags eingestellt worden sei, ohne ein Auswahlverfahren zu bestehen, sei die zweite Voraussetzung nicht erfüllt. Die Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat erlangten Berufserfahrung und des dort erreichten Dienstalters eines anschließend im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigten EG-Arbeitnehmers setze eine Einstellung im Wege eines Auswahlverfahrens voraus, wie es in Italien der Fall sei.

16 Nach ständiger Rechtsprechung darf eine öffentliche Einrichtung eines Mitgliedstaats, die bei der Einstellung von Personal für Stellen, die nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 39 Absatz 4 EG fallen, die Berücksichtigung der früheren Berufstätigkeiten der Bewerber in einer öffentlichen Verwaltung vorsieht, gegenüber Gemeinschaftsbürgern nicht danach unterscheiden, ob diese Tätigkeiten in diesem oder in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wurden (vgl. u. a. Urteile vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C-419/92, Scholz, Slg. 1994, I-505, Randnr. 12, vom 12. Mai 2005, Kommission/Italien, Randnr. 14, und vom 23. Februar 2006 in der Rechtssache C-205/04, Kommission/Spanien, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 14).

17 Zu Artikel 7 der Verordnung ist zu bemerken, dass dieser Artikel nur als besondere Ausprägung des in Artikel 39 Absatz 2 EG enthaltenen Diskriminierungsverbots auf dem spezifischen Gebiet der Beschäftigungsbedingungen und der Arbeit anzusehen und daher ebenso auszulegen ist wie Artikel 39 Absatz 2 EG (Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 15).

18 Aus all dieser Rechtsprechung folgt, dass EG-Arbeitnehmern die Anerkennung der Berufserfahrung, die sie in einem anderen Mitgliedstaat erlangt haben, und des Dienstalters, das sie dort in Ausübung einer vergleichbaren Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung erreicht haben, bevor sie anschließend im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigt wurden, nicht deshalb verweigert werden darf, weil sie, bevor sie im öffentlichen Sektor des anderen Staates ihre Tätigkeit ausübten, kein Auswahlverfahren bestanden hatten, da - wie die Generalanwältin in Nummer 28 ihrer Schlussanträge bemerkt - nicht alle Mitgliedstaaten die Posten ihres öffentlichen Dienstes allein auf diesem Wege besetzen. Die Diskriminierung kann nur dadurch vermieden werden, dass vergleichbare Beschäftigungszeiten einer gemäß den örtlichen Bedingungen in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eingestellten Person berücksichtigt werden.

19 Außerdem ist die Tatsache, dass ein Gemeinschaftsbürger, wie z. B. der, der die erste bei der Kommission in der vorliegenden Rechtssache eingegangene Beschwerde erhob, einen Vertrag mit Coascit geschlossen hatte, unerheblich, weil dieser Bürger unstreitig seine Unterrichtstätigkeit im Rahmen des staatlichen französischen Bildungswesens aufgrund eines solchen Vertrages ausgeübt hat. Die Italienische Republik hat nicht bestritten, dass der fragliche Bürger diese Tätigkeit gemäß den nationalen französischen Bestimmungen ausgeübt hat.

20 Von den Gründen, die die italienische Regierung zur Verweigerung der Anerkennung der von dem genannten Bürger in einem anderen Mitgliedstaat erlangten Berufserfahrung und des dort erreichten Dienstalters geltend macht, ist daher keiner stichhaltig.

21 Daher ist die Rüge eines Verstoßes gegen Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung begründet, da die italienische Regierung bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist in Bezug auf von Artikel 39 Absatz 4 EG nicht erfasste Stellen nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hatte, um die von EG-Arbeitnehmern in anderen Mitgliedstaaten erlangte Berufserfahrung und das dort erreichte Dienstalter bei ihrer anschließenden Beschäftigung im italienischen öffentlichen Dienst zu berücksichtigen.

22 Nach alledem ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung verstoßen hat, dass sie bei im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigten EG-Arbeitnehmern deren in Ausübung einer vergleichbaren Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats erlangte Berufserfahrung und das dort erreichte Dienstalter nicht berücksichtigt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft verstoßen, dass sie bei im italienischen öffentlichen Dienst beschäftigten EG-Arbeitnehmern deren in Ausübung einer vergleichbaren Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats erlangte Berufserfahrung und das dort erreichte Dienstalter nicht berücksichtigt hat.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Italienische Republik trägt die Kosten.

Ende der Entscheidung

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