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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 21.09.2004
Aktenzeichen: 11 K 258/02
Rechtsgebiete: EStG, AO, FGO


Vorschriften:

AO § 163
FGO § 102
EStG § 3 Nr. 62
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Finanzrechtsstreit

wegen Einkommensteuer 1995 - 2000 (Ablehnung des Erlass von Einkommensteuer gem. § 163 AO)

hat der 11. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg - aufgrund der mündlichen Verhandlung - in der Sitzung vom 21. September 2004 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht ... Richter am Finanzgericht ... ehrenamtliche Richter ...

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Umstritten ist, ob die Voraussetzungen für eine abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO vorliegen.

Die verheirateten Kläger werden beim Beklagten zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Grenzgänger und seit 1995 als Chemiker bei der AG in B beschäftigt. Die Einkommensteuerbescheide des hier strittigen Zeitraumes 1995-2000 haben - bis auf den des Jahres 1995 - noch keine Rechtskraft erlangt. Auf das Verfahren vor dem BFH VI B 112/02 wegen Einkommensteuer 1996 sowie auf die beim Finanzgericht anhängigen Klageverfahren der Folgejahre wird insoweit hingewiesen.

Am 25.10.2001 stellten die Kläger unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG und den Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung beim Beklagten den Antrag, im Wege des § 163 AO 50 v.H. der vom Kläger allein getragenen Krankenversicherungsbeiträge steuerfrei zu belassen. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30.4.2002 ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg; die Einspruchsentscheidung - auf die Bezug genommen wird - erging am 11.10.2002.

Mit ihrer Klage bringen die Kläger unter Weiterführung des bereits im Verwaltungsverfahren Vorgetragenen im wesentlichen Folgendes vor:

1. Die Entscheidungen des Beklagten über die von ihnen gestellten Anträge seien ermessensfehlerhaft (Schriftsatz vom 19. 2. 2003, FG-Aktenblatt 49 bis 58, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird):

Zum einen könne die Prüfung der Unbilligkeit nicht durch den bloßen Hinweis auf die Erfüllung eines Besteuerungstatbestandes ersetzt werden; zum anderen würden sich die Ausführungen des Beklagten - zum Teil floskelhaft - auf die Zitierung von Grundsätzen beschränken. Sachliche und persönliche Billigkeitsgründe seien in den Entscheidungen des Beklagten nicht ausreichend erörtert worden. Die Entscheidungen ließen nicht erkennen, dass das Finanzamt das Für und Wider einer Steuerreduzierung aus sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründen gegeneinander wirklich abgewogen habe. Dies sei aber für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung ein wesentliches Erfordernis.

2. Die Rechtsverletzung durch den Beklagten werde insbesondere auch aus Folgendem ersichtlich:

In Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, die freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert seien, erhielten gem. § 257 Abs. 1 SGB V von ihrem Arbeitgeber als Beitragszuschuss die Hälfte des Beitrags, der für einen versicherungspflichtigen Beschäftigten bei der Krankenkasse, bei der die Mitgliedschaft besteht, zu zahlen wäre, höchstens jedoch die Hälfte des Beitrags, den sie tatsächlich zu zahlen haben. Der Zuschuss sei steuerfrei gem. § 3 Nr. 62 EStG. Gleiches gelte gem. § 61 Abs. 1 SGB XI auch für die Pflegeversicherung. Freiwillig versichern könnten sich in der gesetzlichen Krankenversicherung solche Arbeitnehmer, deren regelmäßiges Jahreseinkommen 75 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten übersteige. Das Einkommen des Klägers habe seit dem 1.3.1995 wesentlich über dieser Grenze gelegenen.

Auf die Aufstellung des Klägers in seinem Schreiben vom 1.12.2002 (FG-Aktenblatt 18) über die von ihm demzufolge im streitigen Zeitraum entrichteten Beiträge wird Bezug genommen.

Die Schweiz kenne keinen 50-prozentigen Arbeitgeberzuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung und dessen Steuerfreistellung. Auch leiste der Arbeitgeber des Klägers nicht freiwillig einen solchen Zuschuss.

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergäben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichten. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz sei jedenfalls verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lasse. Weiterhin sei der allgemeine Gleichheitssatz auch dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt würde, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestünden, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. Zwischen Grenzgängern und in Deutschland Beschäftigten bestünden keine Unterschiede, die die vorliegende Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Wegen der weiteren Ausführungen der Kläger wird auf ihren Schriftsatz vom 1.12.2002 (FG-Aktenblatt 17 bis 33), insbesondere dessen Seiten 4ff verwiesen.

3. Bei der Frage der persönlichen Unbilligkeit beschränke sich die Ablehnung des Finanzamtes auf einen Hinweis auf die Vermögensverhältnisse und den laufenden Arbeitsverdienst der Kläger, ohne dass hierauf im Einzelnen eingegangen worden sei. Für die Kläger stelle die zusätzliche dauernde Belastung eine große Härte dar.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid vom 30.04.2002 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 11.10. 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Bescheide für die

Jahre vom Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag DM

 199527.11.19961363,00
199629.03.20041415,00
199729.03.20041527,00
199829.03.20041527,00
199929.03.20041600,00
200029.03.20044149,00

in der Weise zu ändern, dass bei der Einkommensberechnung jeweils die vorgenannten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge steuerfrei gestellt werden.

Hilfsweise wird beantragt,

das Einkommen in Höhe des für die Streitjahre 1995 bis 2000 gezahlten oben aufgeführten jeweiligen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags nur mit einer Einkommensteuer von 20 % zu versteuern, weiter hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, der angefochtene Bescheid in Fassung der Einspruchsentscheidung lasse Ermessensfehler nicht erkennen und sei rechtmäßig.

Dem Gericht haben die beim Beklagten für die Kläger geführten den Streitfall betreffenden Akten vorgelegen; auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze wird Bezug genommen. Am 21.9.2004 hat in der Streitsache eine mündliche Verhandlung stattgefunden.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Beklagte hat die begehrte abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 Satz 1 AO ermessensfehlerfrei abgelehnt.

1. Nach § 163 AO können die Finanzbehörden eine Steuer u.a. niedriger festsetzen, wenn ihre Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Eine Unbilligkeit kann entweder in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 26.Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297 m.w.N.). Dabei gelten für diesen Billigkeitserlass im Festsetzungsverfahren - trotz unterschiedlicher Rechtsfolgen - die gleichen tatbestandlichen Voraussetzungen wie für den Billigkeitserlass nach § 227 AO im Erhebungsverfahren (Tipke/Kruse/Loose, Kommentar zur AO und FGO, 16. Auflage, § 163 AO Tz. 1).

Die Entscheidung über ein Erlassbegehren aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 31. März 2004 X R 25/03, BFH/NV 2004, 1212 m.w.N.). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Nur ausnahmsweise kann das Gericht eine Verpflichtung zum Erlass aussprechen (§ 101 Satz 1 i.V.m. § 121 FGO), wenn der Ermessensspielraum derart eingeschränkt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (Ermessensreduzierung auf Null; ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. z.B. Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92 a.a.O.)

2. Ermessensfehlerfrei hat das FA zum einen das Vorliegen einer sachlichen Unbilligkeit verneint.

Sachlich unbillig ist die Erhebung einer Steuer vor allem dann, wenn sie im Einzelfall nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. Urteile des BFH vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546, und vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297; außerdem BFH-Urteile vom 21. Januar 1992 VIII R 51/88, BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3, und vom 25. Januar 1996 IV R 91/94, BFHE 180, 61, BStBl II 1996, 289; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur AO und FGO, § 227 AO, Rz. 126 ff. und 250 ff.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 227 AO 1977 Rz. 40 ff.; Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 227 AO 1977 Rz. 77, jeweils m.w.N.). Bei einer solchen Billigkeitsentscheidung müssen, vor allem im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes -GG-), grundsätzlich solche Erwägungen unbeachtet bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt (BFH-Urteile vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546 und vom 26. Oktober 1994 X R 104/92 BStBl II 1995, 297; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Rz. 141; Tipke/Kruse, a.a.O., Rz. 43, jeweils m.w.N.). Aus dem gleichen Grund darf eine Billigkeitsmaßnahme nicht -auch nicht unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten- dazu führen, die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes zu unterlaufen (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Rz. 35 und Rz. 128; Tipke/ Kruse, a.a.O., Rz. 43, m.w.N.).

Eine Unbilligkeit kann sich deshalb nicht aus Umständen ergeben, die der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat. Anderenfalls würde durch die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen die vorgesehene Besteuerung außer Kraft gesetzt. Das steht weder der Finanzverwaltung noch den Gerichten zu. Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für die abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO 1977 wie für den Erlass nach § 227 AO 1977 (vgl. BFH-Beschluss vom 20.10.2000 I B 47/00, BFH/NV 2001, 442).

Das FA ist in seiner Einspruchsentscheidung zutreffend davon ausgegangen, dass es eindeutig der geltenden Rechtslage entspricht, dass Krankenkassenbeiträge der Grenzgänger zur Schweiz nicht zur Hälfte vom steuerlichen Arbeitslohn abzuziehen sind (BFH-Beschluss vom 25.01.2000 VI B 108/98, BFH/NV 2000, 836 sowie vom 20.12.2001 VI B 198/99, BFH/NV 2002, 659). Es hat sodann dargelegt, dass diese Rechtslage dem Willen des Gesetzgebers entspricht und mithin solche (Billigkeits-)

Erwägungen unbeachtet bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt. Es ist sodann darauf eingegangen, dass auch Art. 3 Abs. 1 GG nicht zur Annahme einer Unbilligkeit führe, da eben keine vergleichbaren Sachverhalte ungleich behandelt worden seien. Diese Erwägungen lassen nach Ansicht des Gerichts unter Zugrundelegung der von § 102 FGO gezogenen Grenze (s.o.) Ermessensfehler nicht erkennen, da der allgemeine Gleichheitssatz nur verletzt ist, wenn sich ein sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt oder eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sich die unterschiedliche Belastung rechtfertigen lässt (vgl. BFH-Urteil vom 07.07.2004 II R 3/02, BFH/NV 2004, 1439 m.w.N.)

Zwischen dem Fall des Klägers, der als Grenzgänger weitgehend in das wirtschaftliche System der Schweiz eingegliedert ist, insbesondere in den Arbeitsmarkt und das dortige arbeits- und sozialrechtliche System, und einem in Deutschland tätigen Arbeitnehmer bestehen solche Unterschiede, die eine Ablehnung der vom Kläger begehrten - dem Gesetz widersprechenden - Gleichbehandlung zumindest nicht ermessensfehlerhaft erscheinen lassen. Das FA hat dies ausreichend erwogen und in seinen Entscheidungen dargelegt.

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Hinweis der Klägerseite auf die Billigkeitsregelungen im Erlass des Ministers der Finanzen Saarland vom 28. Juni 1985, DStR 1985, 525 zu den Sozialversicherungsbeiträgen von deutschen Arbeitnehmern exterritorialer Arbeitgeber, da dieser Erlass im Hinblick auf Pflichtbeiträge ergangen ist, die im Streitfall gerade nicht vorliegen.

3. Ermessensfehlerfrei hat das FA auch das Vorliegen einer persönlichen Unbilligkeit verneint.

Persönliche Unbilligkeit in Form der Erlassbedürftigkeit ist gegeben, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Das ist der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann (BFH-Urteil vom 27.09.01 - X R 134/98, BStBl II 2002, 176 m.w.N.).

Das FA ist in seiner Einspruchsentscheidung aufgrund seiner Kenntnis der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Kläger zu der Auffassung gelangt, dass eine solche Existenzgefährdung nicht vorliegt; diese Erwägungen lassen wiederum unter Zugrundelegung der von § 102 FGO gezogenen Grenze Ermessensfehler nicht erkennen.

4. Von daher konnte der Hauptantrag der Kläger keinen Erfolg haben; ihrem hilfsweise gestellten Antrag, das Einkommen in Höhe des für die Streitjahre 1995 bis 2000 gezahlten jeweiligen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags nur mit einer Einkommensteuer von 20 % zu versteuern, war der Erfolg unter entsprechender Berücksichtigung des oben Ausgeführten ebenfalls zu versagen.

5. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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