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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 18.06.2009
Aktenzeichen: 10 K 10268/06 B
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4
EStG § 70
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Rechtsstreit

...

hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg - 10. Senat -

ohne mündliche Verhandlung

am 18. Juni 2009

durch

den Vizepräsidenten des Finanzgerichts ... als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger erhielt für seinen im Jahre 1985 geborenen Sohn B, der sich vom 01.09.2002 bis Anfang Februar 2006 in einer Berufsausbildung zum ... befand, zunächst Kindergeld bewilligt und ausgezahlt. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 19.09.2003 lehnte der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für die Zeit vom 01.11.2003 bis 28.02.2006 mit der Begründung ab, dem Kind stünden aufgrund prognostischer Berechnung der durch die ... GMBH bescheinigten Ausbildungsvergütung Einkünfte und Bezüge von mehr als dem anteiligen Grenzbetrag in Höhe von 1.198,00 EUR für das Kalenderjahr 2003 und 7.188,00 EUR weiter jährlich zu. Unter dem 22.02.2006 beantragte der Kläger gestützt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005, ihm rückwirkend ab November 2003 Kindergeld für seinen Sohn zu gewähren. Mit Bescheid vom 22.02.2006 setzte der Beklagte für das Kind zwar erneut Kindergeld ab 01.02.2006 fest, lehnte dies jedoch rückwirkend für den Zeitraum von November 2003 bis Januar 2006 mit der Begründung ab, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 zur Anrechnung von gesetzlichen Sozialversicherungsbeträgen könne nur auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Festsetzungszeiträume angewendet werden. Eine Korrektur wegen "revidierter Rechtsanwendungsvorschriften" gebe es nicht. Den hiergegen eingelegten Einspruch, mit dem der Kläger geltend machte, es sei bislang nicht zu einer Überprüfung des nur vorläufigen Prognosebescheides vom 19.09.2003 gekommen, diese führe nunmehr aber unter Berücksichtigung des Arbeitnehmeranteils an den Sozialversicherungsbeiträgen für alle drei Kalenderjahre zu dem Ergebnis der Unterschreitung des maßgeblichen Grenzbetrags, wies der Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 06.04.2006 zurück. In dem Festsetzungsbescheid vom 19.09.2003 sei ein konkreter Regelungszeitraum festgelegt worden, so dass die Bestandskraft und Bindungswirkung auch genau für diesen Zeitraum eintrete. Eine Korrektur gemäß § 70 Abs. 4 Einkommensteuergesetz -EStG- aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts sei grundsätzlich nicht zulässig, weil eine Änderung der Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung kein nachträgliches Bekanntwerden im Sinne dieser Vorschrift darstelle.

Zur Begründung der hiergegen erhobenen Klage vertieft der Kläger sein Vorbringen, die Familienkasse habe die Kindergeldzahlung im vorliegenden Fall allein aufgrund einer Prognose abgelehnt. Die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes könne indessen erst nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres feststehen. Damit liege ein nachträgliches Bekanntwerden der tatsächlichen Höhe der Einkünfte im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG vor. Unabhängig davon habe auf den erneuten Antrag des Klägers Kindergeld deshalb bewilligt werden können, weil sich die Bindungswirkung des bestandskräftigen Ablehnungsbescheides auf den Monat seiner Bekanntgabe beschränkt habe. Soweit der Ablehnungsbescheid den Zeitraum vom 01.11. 2003 bis zum 28.02.2006 angebe, handele es sich lediglich um eine informatorische Angabe des Ausbildungszeitraums ohne Regelungscharakter. Diesem Bescheid sei auch lediglich eine schriftliche Berechnung der Einkünfte und Bezüge für die letzten beiden Monate des Kalenderjahres 2003 beigefügt gewesen.

Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides ... vom 22.02.2006 in Form der Einspruchsentscheidung vom 06.04.2006 zu verpflichten, dem Kläger Kindergeld für seinen Sohn B für den Zeitraum vom 01.11.2003 bis 31.01.2006 zu gewähren, sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält an seiner Auffassung fest, dass der Ablehnungsbescheid vom 19.09.2003 den in ihm bezeichneten konkreten Regelungszeitraum erfasse und vorliegend nicht durch § 70 Abs. 4 EStG korrekturfähig sei.

Die Kindergeldakte (1 Band) hat zur Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit einverstanden waren (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Bescheide, mit denen es der Beklagte abgelehnt hat, dem Kläger aufgrund des unter dem 22.02.2006 erneut gestellten Antrags rückwirkend für den Zeitraum vom 01.11.2003 bis 31.01.2006 Kindergeld für seinen Sohn B zu bewilligen, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 FGO).

Im Ausgangspunkt der rechtlichen Überlegungen ist zunächst festzustellen, dass der Bescheid über die Ablehnung der Festsetzung des Kindergelds vom 19.09.2003 nicht gemäß § 125 Abgabenordnung - AO - nichtig, sondern materiell-rechtlich rechtswidrig ist, weil die maßgeblichen (anteiligen) Jahresgrenzbeträge des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nach Abzug der gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung von den Einkünften des Sohnes des Klägers ersichtlich nicht überschritten werden. Diese Klärung hat das BVerfG mit Beschluss vom 11.01.2005 2 BvR 167/02 (BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) durch die verfassungskonforme Auslegung der Norm in grundsätzlicher Hinsicht herbeigeführt.

Der Beschluss des BVerfG lässt indessen die Bestandskraft des Bescheides vom 19.09.2003 entsprechend § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht -BverfGG- unberührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Die Vorschrift gilt entsprechend, wenn das BVerfG - wie im Streitfall - lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 1 BvR 1905/02, DStR 2006,108).

Entgegen der Auffassung des Klägers hat der Beklagte für den gesamten Streitzeitraum vom 01.11.2003 bis 31.01.2006 eine bestandskräftig gewordene Entscheidung über die Versagung von Kindergeld getroffen und mit der Angabe dieses Zeitraums im Tenor des Ablehnungsbescheides vom 19.9.2003 nicht lediglich den Ausbildungszeitraum informatorisch oder in der Art einer Begründung seiner Entscheidung angesprochen. Allerdings erstreckt sich die Bindungswirkung eines Bescheides, durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, nach der ständigen Rechtsprechung des BFH grundsätzlich nur auf die Vergangenheit und den Monat seiner Bekanntgabe, falls er nicht eine ausdrückliche Einschränkung seines zeitlichen Regelungsbereichs bestimmt (vgl. BFH Urteil vom 28.01.2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004,7869). Als Verwaltungsakt trifft der Ablehnungsbescheid eine Regelung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bescheiderteilung und erschöpft sich damit in der Regelung des Anspruchs für den bis dahin abgelaufenen Zeitraum. Über die in der Zukunft liegenden und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht entstandenen Kindergeldansprüche kann der Ablehnungsbescheid hingegen noch keine Regelung treffen. Eine in die Zukunft weisende Bindungswirkung kommt ihm demnach nicht zu (vgl. BFH Urteil vom 25.07.2001 VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89). Bindungswirkung für die Zukunft haben nach der gesetzlichen Konzeption des § 70 EStG nur positive Kindergeldfestsetzungen. Dagegen soll verhindert werden, dass die Familienkasse an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleibt. Der Gesetzgeber hatte bei der Einführung der Vorschrift vorrangig Fehler, die den Kindergeldberechtigten begünstigen, also positive Kindergeldfestsetzungen, im Blick. Hätten Ablehnungsbescheide Wirkungen für die Zukunft, so dass eine Änderung nach Eintritt der Bestandskraft nur nach Maßgabe der Änderungsvorschriften des § 70 EStG möglich wäre, so läge darin eine unangemessene Benachteiligung derjenigen Berechtigten, die nur Anspruch auf Kindergeld haben, gegenüber solchen Eltern, denen alternativ und unabhängig von der Bestandskraft eines Kindergeldablehnungsbescheides ein Kinderfreibetrag zusteht. Deshalb muss grundsätzlich auch nach Ergehen eines Ablehnungsbescheides ein neuer Antrag auf Gewährung von Kindergeld statthaft sein (vgl. BFH Urteil vom 25.07.2001 VI R 164/89 a.a.O).

Indessen kann sich der Kläger auf die genannte Rechtsprechung des BFH im vorliegenden Streitfall nicht mit Erfolg berufen. Denn der Beklagte hat in dem Bescheid vom 19.09.2003 nicht die Festsetzung von Kindergeld für einen konkreten abgelaufenen Zeitraum oder schlechthin ab einem bestimmten Zeitpunkt aufgehoben, sondern in systemwidriger Weise für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft abgelehnt, nämlich hier die erst nach der Bekanntgabe des Bescheides liegende Zeit vom 01.11.2003 bis 31.01.2006. Die vom Beklagten getroffene Regelung ist eindeutig und beruhte erkennbar auf der Einschätzung, dass der Sohn des Klägers im Regelungszeitraum die bescheinigte Ausbildung durchlaufen, hierbei die ebenfalls für den gesamten Ausbildungszeitraum bescheinigten Ausbildungsvergütungen sowie Zusatzleistungen erhalten und insoweit prognostisch den Grenzbetrag überschreitende Einkünfte und Bezüge im Sinne des § 33 Abs. 4 Satz 2 EStG haben würde. Ob eine solche nicht nur auf einen längeren Zeitraum angelegte, sondern diesen Zeitraum regelnde "Prognoseentscheidung" wegen ihrer Systemwidrigkeit nicht als rechtmäßig angesehen werden könnte, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls erscheint sie nicht als nichtig und damit ins Leere gehend (vgl. Urteil des Finanzgerichts Berlin vom 22.12.2005 10 K 10293/05, EFG 2006, 1258). Der Kläger hatte es in der Hand, gegen den Bescheid vom 19.09.2003 mit der Begründung Einspruch einzulegen, dass ihn eine solche weit in die Zukunft wirkende Regelung die Verfolgung seiner Rechte unverhältnismäßig erschweren könnte, was gerade im vorliegenden Fall mit Blick auf die in der Folge einer späteren Änderung der Rechtsprechung fehlenden Korrekturmöglichkeiten augenfällig wird.

Der bestandskräftige Bescheid kann aber auch nicht nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden. Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Die Norm setzt voraus, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (vgl. BFH Urteil vom 28.06.2006 III R 13/06, BStBl II 2007, 714). § 70 Abs. 4 EStG soll nach der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht überschreiten. Der Ablehnungsbescheid vom 19.09.2003 stellt eine - wenn hier auch wegen Systemwidrigkeit angreifbare - Prognoseentscheidung im vorgenannten Sinne dar. Gleichwohl ist eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG dennoch nicht möglich, weil im Streitfall der jeweilige (anteilige) Jahresgrenzbetrag nunmehr - ebenso wie nach den im Zeitpunkt des Bescheides vom 19.09.2003 bekannten Verhältnissen - allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (vgl. BFH Urteil vom 28.11.2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338). Dieser Auslegung der Norm durch den BFH hat sich auch der erkennende Senat des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg angeschlossen, weil sie durch die Systematik der übrigen Änderungsvorschriften des § 70 EStG bestätigt wird (vgl. BFH Urteil vom 28.11.2006 a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, weil die Frage der Bindungswirkung eines systemwidrig zukünftige Zeiträume konkret regelnden Kindergeldablehnungsbescheides noch klärungsbedürftig erscheint.

Ende der Entscheidung

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