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Gericht: Finanzgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 07.03.2008
Aktenzeichen: 14 K 2266/06 Kg
Rechtsgebiete: EStG, AO


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 S. 2
EStG § 70 Abs. 4
AO § 89
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Düsseldorf

14 K 2266/06 Kg

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger für seinen Sohn Andreas (geboren am 09.02.1985) für den Zeitraum Januar bis September 2004 Kindergeld zu gewähren ist. Der Sohn absolvierte im Jahr 2004 eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann.

Der Kläger stellte im März 2004 einen Antrag auf Weiterzahlung von Kindergeld unter Vorlage einer Erklärung zu den Einkünften und Bezügen und einer Ausbildungsbescheinigung vom 30.01.2003. Daraus ergaben sich für das Jahr 2004 voraussichtliche Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 10.100 Euro (7 x 800 Euro und 5 x 900 Euro) und Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen für 2002 von 193,40 Euro bzw. 154,00 Euro. Als zu berücksichtigende Werbungskosten gab der Kläger Fahrtkosten zur Arbeitsstätte von monatlich 53 Euro sowie Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung an.

Der Beklagte hob im Bescheid vom 22.06.2004 die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab Januar 2004 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung führte er aus: Nach § 70 Abs. 2 EStG sei die Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen seien nicht erfüllt, weil das Kind Andreas Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.680 Euro im Kalenderjahr 2004 habe. Die sogenannte unechte doppelte Haushaltsführung sei durch die gesetzliche Neuregelung ab 01.01.2004 abgeschafft worden. Zugleich forderte der Beklagte unter Berücksichtigung der Verringerung der Kindergeldhöhe für vier weitere Kinder gezahltes Kindergeld in Höhe von 1.253 Euro für die Zeit vom 01.01.2004 bis 31.07.2004 Euro zurück.

Gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid legte der Kläger unter dem 13.08.2004 Einspruch ein und teilte zugleich mit, dass er den Bescheid erst am 03.08.2004 erhalten habe, nachdem er nach dem Erhalt seiner Gehaltsmitteilung für den Monat Juli 2004 sofort bei seiner Dienststelle angerufen und nachgefragt habe, warum ihm Gehalt abgezogen worden sei, obwohl er keinen Bescheid erhalten habe. Daraufhin sei ihm der Kindergeldbescheid erneut unter dem 03.08.2004 übersandt worden.

Er habe das Kindergeld guten Glaubens für die monatlich anfallenden Haushaltsausgaben ausgegeben. Er sei sich keiner Schuld bewusst, irgendetwas falsch gemacht zu haben und bitte deshalb um Überprüfung, ob er trotzdem die Zuvielzahlung zurückzahlen müsse.

Der Beklagte wies den Einspruch in der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 unter Wiederholung der Begründung des vorrangegangenen Bescheides als unbegründet zurück. Ergänzend führte er aus, dass es sich bei der ursprünglichen Kindergeldgewährung um keine endgültige Festsetzung gehandelt habe. Dem Kläger habe bewusst sein müssen, dass - wie jedes Jahr - die Kindergeldfestsetzung erst abschließend geprüft werden könne, sobald Unterlagen über die tatsächlichen Einkünfte des Kindes vorlägen und feststehe, dass der jährliche Grenzbetrag in jedem Fall unterschritten werde. Im Fall des Klägers sei ganz offensichtlich, dass der Sohn den Grenzbetrag von 7.680 Euro ohne Anerkennung der Werbungskosten für die doppelte Haushaltsführung überschreiten werde. Um eine höhere Rückzahlung zu vermeiden sei der Festsetzungsbescheid schon jetzt aufgehoben worden. Da ausschließlich die Überschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG für die Aufhebung der Festsetzung entscheidend sei, seien etwaige Vertrauensschutzaspekte unbeachtlich.

Mit Schreiben vom 22.12.2005 beantragte der Kläger unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.01.2005 (Aktenzeichen 2 BvR 167/02) die nachträgliche Gewährung von Kindergeld für das Jahr 2004 für seinen Sohn Andreas. Aus den beigefügten Unterlagen ergeben sich ein Bruttoarbeitslohn in Höhe von 12.693 Euro, Arbeitnehmeranteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 2.640,14 Euro sowie Werbungskosten in Höhe von 2.784,40 Euro.

Im Bescheid vom 09.02.2006 setzte der Beklagte Kindergeld ab 01.10.2004 fest. Für den Zeitraum 01.01.2004 bis 30.09.2004 lehnte er eine Kindergeldfestsetzung ab. Zur Begründung verwies er auf die Bestandskraft der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004, deren Bindungswirkung bis einschließlich des Monats der Bekanntgabe reiche. Die Bestandskraft der Einspruchsentscheidung stehe auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des BVerfG vom 11.01.2005 einer erneuten Entscheidung entgegen.

Gegen den Bescheid legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein und machte geltend: Auf eine der Kindergeldgewährung für die Monate Januar bis September 2004 entgegen stehende Bestandskraft des Bescheides vom 22.06.2004 bzw. der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 könne sich der Beklagte bereits deshalb nicht berufen, weil im Bescheid vom 22.06.2004 das Überschreiten des maßgeblichen Grenzbetrages nur geschätzt worden sei. In der nachfolgenden Einspruchsentscheidung werde zudem ausgeführt, dass ganz offensichtlich sei, dass Andreas den Grenzbetrag von 7.680 Euro überschreiten werde. Daraus folge, dass bei Nichteintreten der Prognose eine Änderung der Veranlagung zu erfolgen habe.

Maßgeblich für die Bestandskraft könne zudem allenfalls der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 22.06.2004 sein, weshalb zumindest ab Juni 2004 Kindergeld zu gewähren sei. In der Einspruchsentscheidung gehe der Beklagte auch selbst davon aus, dass die Kindergeldfestsetzung für Andreas nur vom 01.01.2004 bis 31.07.2004 aufgehoben worden sei.

Der Beklagte wies den Einspruch in der Einspruchsentscheidung vom 28.04.2006 als unbegründet zurück und führte ergänzend aus: Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 22.06.2004 sei erst durch die Einspruchsentscheidung, gegen die der Kläger keine Klage erhoben habe, bestandskräftig geworden.

Die Voraussetzungen einer Rechtsnorm zur Änderung der bestandskräftigen Festsetzung seien nicht erfüllt. Insbesondere sei eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG auf Grund des Beschlusses des BVerfG nicht möglich, weil sich nicht die Einkünfte-/Bezügesituation des Kindes, sondern nur die Berechnungsform geändert habe.

Mit seiner am 30.05.2006 erhobenen Klage führt der Kläger aus: Da der Beklagte bei seinen Begründungen im vorangegangenen Verwaltungsverfahren selbst auf die Vorläufigkeit seiner Festsetzung verwiesen habe, scheide eine Berufung auf die Bestandskraft bereits aus Vertrauensschutzgesichtspunkten aus. Der Beklagte habe ihm den Eindruck vermittelt, dass eine endgültige Entscheidung über die Gewährung von Kindergeld für Andreas im Jahre 2004 erst dann erfolgen könne, wenn das Kalenderjahr verstrichen sei und die tatsächlichen Bezüge von Andreas feststehen würden. Diese Ausführungen hätten ihn davon abgehalten, bereits seinerzeit ein gerichtliches Verfahren anzustreben. Die vom Beklagten geäußerte Auffassung sei auch einleuchtend gewesen, da im Zeitpunkt des geführten Schriftwechsels das Jahr 2004 noch lief und tatsächlich nur Prognosen über das Einkommen von Andreas hätten angestellt werden können.

Der vom Beklagten für die erneute Kindergeldfestsetzung gewählte Zeitpunkt ab Oktober 2004 sei nicht nachvollziehbar. Zumindest ab Juli 2004 sei Kindergeld für Andreas nachzuzahlen, selbst wenn für die Zeit davor eine Bestandskraft des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 22.06.2004 gegeben sein sollte.

Außerdem sei nach § 70 Abs. 4 EStG eine Kindergeldfestsetzung zu ändern, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Bezüge des Kindes den Grenzbetrag des § 32 Abs. 2 EStG über- oder unterschritten haben. Die Kindergeldgewährung habe unabhängig von der Entscheidung des BVerfG vom 11.01.2005 zu erfolgen. Denn bei der Ermittlung der endgültigen Kindergeldfestsetzung, die ausdrücklich vorbehalten worden sei, sei das geltende Recht anzuwenden.

Der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - könne nicht gefolgt werden. An der vorausgegangenen abweichenden Rechtsprechung des Finanzgerichts Düsseldorf sei festzuhalten.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, ihm unter Änderung des Bescheides vom 09.02.2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.04.2006 für die Zeit von Januar bis September 2004 Kindergeld in gesetzlicher Höhe für seinen Sohn Andreas zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf die Gründe der Einspruchsentscheidung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist nicht begründet.

Die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis September 2004 durch den Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass der begehrten Kindergeldfestsetzung die Bestandskraft des Bescheides vom 22.06.2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 entgegensteht und auch die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht erfüllt sind.

1. Der Beklagte hat im Bescheid vom 22.06.2004 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben, weil nach seiner Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes für das Jahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen und diese Entscheidung in der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 bestätigt. Gegen die Einspruchsentscheidung hat der Kläger innerhalb der Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) keine Klage erhoben, so dass Bestandskraft eingetreten ist.

Der Bescheid vom 22.06.2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist nicht gemäß § 125 der Abgabenordnung (AO) nichtig, sondern materiell-rechtlich rechtswidrig, da der für das Jahr 2004 maßgebliche Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nach Abzug der gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung von den Einkünften der Sohnes nicht überschritten wird. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist nach dem Beschluss des BVerfG vom 11.01.2005 2 BvR 167/02 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2005, Beilage 3, 260) verfassungskonform so auszulegen, dass nicht nur Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den Jahresgrenzbetrag der Vorschrift einfließen, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt und geeignet sind. Die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sind nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt, da sie von Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht zur Verfügung stehen und deshalb keine Entlastung bei den Eltern bewirken.

Der Beschluss des BVerfG vom 11.01.2005 2 BvR 167/02 lässt die Bestandskraft des Bescheides vom 22.06.2004 analog § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) unberührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Normen beruhen, unberührt. Die Vorschrift gilt analog, wenn das BVerfG - wie im Streitfall - lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (vgl. Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 1 BvR 1905/02, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2006, 108).

Dem Beklagten ist es auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Bestandskraft des Bescheides vom 22.06.2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung zu berufen.

Die Hinweise auf die nicht abschließende Entscheidung im Rahmen der Prognose zu den Einkünften und Bezügen sind nicht als Zusage des Beklagten zu beurteilen, er werde den Bescheid in jedem Fall ändern, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Änderungen ergeben sollten. Aus einer verbindlichen Zusage außerhalb einer Außenprüfung (§§ 204 ff. AO) können nach der Rechtsprechung des BFH Rechtswirkungen nur abgeleitet werden, wenn - neben weiteren Voraussetzungen - der Steuerpflichtige eine verbindliche Zusage beantragt und die Behörde eine solche ohne Einschränkung erteilt hat (vgl. BFH-Urteil vom 15.03.2007 II R 39/06, BFH/NV 2007, 1459). Im Streitfall fehlt es bereits an einem Antrag des Klägers.

Die Behörde ist ferner nur dann nach Treu und Glauben gebunden, wenn sie einem Steuerpflichtigen zusichert, einen konkreten Sachverhalt, dessen steuerrechtliche Beurteilung zweifelhaft erscheint und der für die wirtschaftliche Disposition des Steuerpflichtigen bedeutsam ist, bei der Besteuerung in einem bestimmten Sinne zu beurteilen (vgl. BFH-Urteil vom 16.11.2005 X R 3/04, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2006, 155). Erforderlich ist u. a. ein erkennbarer Bindungswille der Behörde (vgl. BFH-Urteil vom 05.02.1986 I R 124/84, BFH/NV 1986, 601). Für die Beurteilung, ob und in welchem Umfang eine Bindung besteht, kommt es auf den durch Auslegung zu ermittelnden Sinngehalt des behördlichen Verhaltens aus der Sicht desjenigen an, dem die Zusage erteilt worden sein soll, wobei allerdings alle den Beteiligten bekannten und erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (BFH, BFH/NV 2007, 1459).

Nach diesen Grundsätzen lässt sich den Ausführungen des Beklagten im Aufhebungsbescheid vom 22.06.2004 und der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 nicht entnehmen, dass sich die Behörde hinsichtlich einer künftigen Änderung des Bescheides binden wollte und auch im Falle einer Änderung der rechtlichen Beurteilung ohne eine gleichzeitige maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu eine Änderung der Entscheidung über die Aufhebung des Kindergeldes ab Januar 2004 verpflichten wollte (vgl. BFH, BFH/NV 2007, 1459). Im Streitfall gilt dies auch insbesondere deshalb, weil der Beklagte in der Einspruchsentscheidung ausdrücklich darauf hinweist, dass eine abschließende Prüfung der Kindergeldfestsetzung erst dann vorgenommen werden könne, sobald Unterlagen über die tatsächlichen Einkünfte des Kindes vorlägen.

Ein Verstoß gegen die Grundsätze von Treu und Glauben ergibt sich darüber hinaus auch nicht aus der Tatsache, dass der Beklagte trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Frage der Berücksichtigung der Arbeitnehmersozialversicherungsbeiträge im Rahmen der Grenzbetragsverrechnung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG den Aufhebungsbescheid vom 22.06.2004 nicht mit einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO erlassen hat. Voraussetzung wäre eine entsprechende Handlungspflicht des Beklagten, für die es jedoch an einer Grundlage fehlt. Eine solche Handlungspflicht des Beklagten könnte nur dann angenommen werden, wenn er verpflichtet gewesen wäre, den Kläger auf die verfassungsrechtlichen Bedenken und die spätestens ab Februar 2002 anhängige Verfassungsbeschwerde hinzuweisen. Nach § 89 AO trifft die Behörde die Verpflichtung, die Beteiligten bei der Abgabe von Erklärungen und der Stellung von Anträgen zu beraten, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder nicht abgegeben worden sind, und den Beteiligten - soweit erforderlich - über ihre Rechte und Pflichten Auskunft zu geben. Die Auskunfts- und Betreuungspflichten sind jedoch auf die formellen Rechte und Pflichten der Beteiligten beschränkt (vgl. Klein/Bröckmeyer, AO, 8. Auflage, § 89 Rdnr. 4; Korella in Pump/Leitner, AO, § 89 Rdnr. 9; a. A. Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 89 Rz. 37). Eine Verpflichtung, den Bürger unaufgefordert auf die materielle Rechtslage hinzuweisen, kann aus § 89 AO nicht abgeleitet werden (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 02.10.2003 III ZR 420/02, Die öffentliche Verwaltung 2004, 217).

Bei einem Vorläufigkeitsvermerk handelt es sich um eine Nebenbestimmung im Sinne des § 120 Abs. 1 AO. Erfolgt eine Steuerfestsetzung - bzw. wie im Streitfall eine Kindergeldfestsetzung - hinsichtlich einer bestimmten Festsetzungsgrundlage ohne Vorläufigkeitsvermerk, so muss der Kindergeldberechtigte dagegen Einspruch einlegen, den er auf die Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks beschränken kann. Eines vorherigen gesonderten Ablehnungsbescheides der Behörde bedarf es nicht. Der Kindergeldberechtigte kann sich vielmehr darauf beschränken, sein Begehren auf Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens zu machen. Der Kläger hätte somit einen Antrag auf Anbringung des Vorläufigkeitsvermerks stellen müssen.

2. Die Bindungswirkung des Bescheides vom 22.06.2004, durch den die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben worden ist, reicht nach Auffassung des Senats bis zum Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004, also bis Ende September 2004.

Die Bindungswirkung eines Bescheides, durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, erstreckt sich nach der ständigen Rechtsprechung des BFH auf die Vergangenheit und den Monat seiner Bekanntgabe, falls er nicht eine ausdrückliche Einschränkung seines zeitlichen Regelungsbereiches bestimmt (vgl. BFH-Urteil vom 28.01.2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786 m.w.N.). Der Bescheid vom 22.06.2004 enthält hinsichtlich der in dem Bescheid ausgesprochenen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 keine Einschränkung seines Regelungsbereiches. Eine Befristung des Zeitraums ergibt sich lediglich hinsichtlich der in dem Bescheid zugleich ausgesprochenen Rückforderung des zuviel gezahlten Kindergeldes für den Zeitraum Januar bis Juli 2004. Da es sich bei der Kindergeldaufhebung einerseits und der Kindergeldrückforderung andererseits um zwei verschiedene Verwaltungsakte handelt, resultieren aus der zeitlichen Befristung der Rückforderung - entgegen der Auffassung des Klägers - keinerlei Beschränkungen des zeitlichen Regelungsbereiches für die in dem Bescheid zugleich ausgesprochene Aufhebung der Kindergeldfestsetzung.

Demnach regelt der Bescheid vom 22.06.2004 den Zeitraum ab Januar 2004 bis zu seiner Bekanntgabe. Da der Bescheid infolge der wirksamen Einspruchseinlegung des Klägers aber nicht bestandskräftig geworden ist, wird von der Bindungswirkung auch der Zeitraum bis zum Ablauf des Monats, in dem die Einspruchsentscheidung bekannt gegeben worden ist, erfasst.

Die Frage des Umfangs der Bindungswirkung in Fällen, in denen der Aufhebungsbescheid auf Grund einer Einspruchseinlegung erst mit dem Ergehen der Einspruchsentscheidung bestandskräftig wird, ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 19.04.2004 III R 106/06, n.v., welches die Frage ausdrücklich offen lässt). Der Senat folgt der vom 10. Senat des Finanzgerichts - FG - Düsseldorf (Urteil vom 23.01.2007 10 K 5107/05, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2007, 600) und vom Niedersächsischen FG (Urteil vom 09.07.2007 15 K 427/05, EFG 2007, 1787) für den Fall eines Kindergeld-Ablehnungsbescheides vertretenen Auffassung (anderer Ansicht Wüllenkemper, Anmerkung in EFG 2007, 1341 und Lange/Novak/Sander/Stahl/Weinhold, Kommentar zum Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst § 70 EStG III/A.90 Seite 10.55), wonach im Falle einer Einspruchseinlegung die Bindungswirkung bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung reicht. Bei einer Einspruchseinlegung ist die Sache im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 AO in vollem Umfang zu prüfen und der ursprüngliche Verwaltungsakt wird in Gestalt der Einspruchsentscheidung nach § 44 Abs. 2 FGO Gegenstand der gerichtlichen Prüfung. Der Verfahrensgegenstand beschränkt sich in Fällen, in denen die Behörde über die Rechtmäßigkeit eines Dauerverwaltungsaktes in Form der Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung ab einem bestimmten Zeitpunkt im laufenden Kalenderjahr auf Grund eines Überschreitens des Jahresgrenzbetrages zu entscheiden hat, nicht auf den Zeitpunkt des ablehnenden Bescheides, sondern bezieht bei einem nicht bestandskräftig gewordenen Bescheid auch die Verhältnisse bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung ein.

3. Der bestandskräftige Bescheid kann auch nicht nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden. Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift setzt voraus, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (vgl. BFH-Urteil vom 28.06.2006 III R 13/06, BStBl II 2007, 714). § 70 Abs. 4 EStG soll nämlich nach der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht überschreiten (vgl. BT-Drucks. 14/6160, S. 14).

Der Aufhebungsbescheid vom 22.06.2004 stellt zwar grundsätzlich eine Prognoseentscheidung im vorgenannten Sinne dar. Eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG ist aber dennoch nicht möglich, weil im Streitfall der Jahresgrenzbetrag nunmehr - ebenso wie nach den im Zeitpunkt des Bescheides vom 22.06.2004 und der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2004 bekannten Verhältnissen - allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (vgl. BFH-Urteil vom 28.11.2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338). Wie der BFH in dem vorgenannten Urteil ausgeführt hat, wird eine Prognose hinsichtlich der im Laufe des Kalenderjahres erst zufließenden Einnahmen und der voraussichtlich anfallenden Ausgaben getroffen. Das nachträgliche Bekanntwerden vom Überschreiten oder Nichtüberschreiten des Jahresgrenzbetrages bezieht sich somit auf von der Prognose abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen.

Diese Auslegung, der sich der Senat nunmehr anschließt, folgt aus dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG sowie der Gesetzessystematik. Mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG durch Artikel 1 Nr. 21 i.V.m. Artikel 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16.08.2001 (BStBl I 2001, 533) sollte sicher gestellt werden, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag "entgegen einer früheren Prognoseentscheidung der Familienkasse" unterschreiten oder nicht überschreiten (BTDrucks 14/6160, S. 14). Eine Prognose (auch Vorhersage) wird hinsichtlich der im Laufe des Kalenderjahres zufließenden Einnahmen und der voraussichtlich anfallenden Ausgaben (Werbungskosten) getroffen. Das nachträgliche Bekanntwerden vom Überschreiten oder Nichtüberschreiten des Jahresgrenzbetrages bezieht sich somit auf von der Prognose abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen.

Die Systematik der Änderungsvorschriften des § 70 EStG bestätigt dieses Auslegungsergebnis. Nach § 70 Abs. 2 EStG sind Änderungen der für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse auch rückwirkend zu berücksichtigen. Hingegen sind nach § 70 Abs. 3 Satz 2 EStG materielle Fehler eines Kindergeldbescheides, d.h. Rechtsanwendungsfehler nur mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder Aufhebung folgenden Monat - mit Wirkung für die Zukunft - korrigierbar. Anders als in § 70 Abs. 3 EStG ist in § 70 Abs. 4 EStG auch keine entsprechende Anwendung des § 176 AO angeordnet, der das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Bestandskraft von Steuerbescheiden, soweit sie auf einer ihm günstigen Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschrift beruhen, schützt. Hätte der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 70 Abs. 4 EStG auch Korrekturen von bestandskräftigen Kindergeldbescheiden bei Änderung der Auslegung einer Norm durch die Rechtsprechung ermöglichen wollen, hätte er in § 70 Abs. 4 EStG ebenfalls auf § 176 AO verwiesen (BFH, BFH/NV 2007, 338).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, weil bislang die Frage des Umfangs der Bindungswirkung eines erst nach einer Einspruchsentscheidung bestandskräftig gewordenen Kindergeldbescheides nicht höchstrichterlich geklärt ist.

Ende der Entscheidung

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