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Gericht: Finanzgericht Hamburg
Urteil verkündet am 18.01.2007
Aktenzeichen: 5 K 43/05
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977, BVerfGG, GG


Vorschriften:

EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b
AO 1977 § 227
BVerfGG § 78
BVerfGG § 79 Abs. 2 S. 1
BVerfGG § 95 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG verbietet grundsätzlich die Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide über § 227 AO.
Finanzgericht Hamburg

5 K 43/05

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Voraussetzungen für den Erlass von Einkommensteuer für die Jahre 1997 und 1998 aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 09. März 2004 festgestellten und auf Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren beschränkten Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16.04.1997 (BGBl. I Seite 821), erfüllt sind.

Die Kläger erzielten in den Streitjahren durch die Veräußerung von Wertpapieren Einkünfte aus Spekulationsgeschäften. Diese betrugen im Jahr 1997 98.073 DM und im Jahr 1998 732.561 DM und wurden von den Klägern in ihren Einkommensteuererklärungen entsprechend der in den Streitjahren gültigen Fassung des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes vom 16.04.1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 821) - EStG 1997 - angegeben. Erklärungsgemäß setzte der Beklagte mit Bescheiden vom 11.02.1999 für 1997 und vom 15.03.2000 für 1998 die Einkommensteuer für 1997 auf ... DM sowie für 1998 auf ... DM fest. Die Bescheide ergingen jeweils vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 AO hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit privater Schuldzinsen und wurden bestandskräftig.

Der Einkommensteuerbescheid für 1998 wurde am 20.09.2000 durch den Beklagten aufgrund eines Feststellungsbescheides über Beteiligungserträge gem. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO geändert und die Einkommensteuer 1998 auf ... DM festgesetzt. Gegen den geänderten Bescheid legten die Kläger Einspruch ein. Daraufhin änderte der Beklagte nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 für die Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 und im Rahmen des § 351 Abs. 1 AO den Einkommensteuerbescheid für 1998 erneut und setzte mit Bescheid vom 06.07.2004 die Einkommensteuer 1998 wieder auf ... DM fest; dabei legte er sonstige Einkünfte aus Spekulationsgewinnen in Höhe von 727.201 DM zugrunde.

Mit Schreiben vom 27.4.2004 beantragten die Kläger, die Einkommensteuer 1997 und 1998 aus Gründen der sachlichen Billigkeit abweichend festzusetzen oder zu erlassen, soweit die Einkommensteuer auf Spekulationsgewinne festgesetzt worden war (§§ 163, 227 AO). Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10.5.2004 ab. Zur Begründung verwies er auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 19.3.2004 (- IV D 2 - S 0338 - 11/04 -, BStBl I 2004, 361), wonach § 79 Abs. 2 BVerfGG die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne des §§ 163, 227 AO verbiete.

Hiergegen legten die Kläger am 07.06.2004 Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 09.02.2005 u.a. deshalb als unbegründet zurückwies, weil es den Klägern nicht unzumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerbescheide rechtzeitig zu wehren. Mangelnde Zumutbarkeit liege nicht bereits deshalb vor, weil die Einlegung von Rechtsbehelfen im Hinblick auf eine - später geänderte - höchstrichterliche Rechtsprechung oder wegen entschuldbarer Rechtsunkenntnis unterblieben sei. Grundsätzlich sei es Sache des Steuerpflichtigen, seine Rechte durch Einlegung von Rechtsbehelfen zu wahren. Eine hiervon abweichende Korrektur im Billigkeitswege könne nur in besonderen Ausnahmefällen erfolgen, worunter eine geänderte Rechtsauffassung oder Gesetzesinterpretation nicht falle.

Die Kläger haben mit Schreiben am 10.03.2005 Klage erhoben.

Die Kläger tragen vor, dass der grundsätzliche Ausschluss des § 227 AO durch § 79 Abs. 2 BVerfGG im Streitfall eine Ausnahme erfahren müsse, denn die Steuerfestsetzung sei offensichtlich und eindeutig unrichtig. Sie hätten aus ihnen nicht anzulastenden Gründen keinen Rechtsbehelf gegen die Steuerfestsetzung eingelegt.

Eine Einkommensteuerfestsetzung auf Spekulationsgewinne aus Wertpapiergeschäften habe aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 09. März 2004 offensichtlich und eindeutig nicht erfolgen dürfen. Es könne ihnen nicht angelastet werden, dass sie bis zum Ablauf der für die Einkommensteuerbescheide 1997 und 1998 maßgeblichen Rechtsbehelfsfristen keinen Einspruch eingelegt hätten.

Für sie sei es nicht absehbar gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht die Besteuerung aufgrund eines Erhebungsdefizits für verfassungswidrig erklären würde, denn Grundlage für die Feststellung des Erhebungsdefizits seien - ausweislich der Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts - der Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24.02.2002 sowie der Jahresbericht 2002 des Niedersächsischen Landesrechnungshofs, die beide erst im Jahre 2002 bzw. 2003 veröffentlicht worden seien.

Kenntnis von diesen verwaltungsinternen Tatsachen hätten sie vor Bestandskraft der angefochtenen Steuerbescheide nicht haben können. Insofern sei die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht anwendbar, nach der es nicht unbillig sei, dem Steuerpflichtigen zuzumuten, offene Rechtsfragen selbst einer Entscheidung zuzuführen. Dies dürfe nicht bedeuten, dass der Steuerpflichtige sich auch Kenntnis von verwaltungsinternen Vorgängen zu verschaffen habe.

Ein Anspruch auf Aufhebung der Besteuerung ergebe sich auch daraus, dass es anderenfalls zu einer gleichheitswidrigen Situation komme. Denn der Steuerpflichtige, der sich im Hinblick auf in den Jahren 1997 und 1998 erzielte Spekulationsgeschäfte gesetzeswidrig verhalten habe, bleibe wegen der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 straffrei und habe keine Steuer auf die Spekulationsgewinne zu entrichten, während der gesetzeskonform Handelnde zu einer Besteuerung herangezogen werde.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 10.05.2004 und der Einspruchsentscheidung vom 09.02.2005 zu verpflichten, die Einkommensteuer der Kläger für die Jahre 1997 und 1998 aus Gründen der sachlichen Unbilligkeit insoweit zu erlassen, als Einkünfte aus Spekulationsgeschäften berücksichtigt worden sind.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist auf seine Einspruchsentscheidung vom 09.02.2005, wonach eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO auf Grund der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht in Betracht komme und eine auf Billigkeitserwägungen beruhende Ausnahme hiervon nicht ersichtlich sei.

Ergänzend trägt er vor, dass die Kläger bereits im Jahre 1999 und 2000 Kenntnis von den keinesfalls verwaltungsinternen Erhebungsproblemen hätten erlangen können. Es sei den Klägern möglich gewesen, mit der notwendigen Begründung Einspruch einzulegen. Das zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führende Verfahren sei bereits im Januar 1999 beim Finanzgericht Schleswig-Holstein und im Verlauf des Jahres 1999 beim Bundesfinanzhof anhängig gewesen, so dass sich zumindest im Jahr 2000 ein Einspruch gegen den Steuerbescheid 1998 hätte aufdrängen müssen.

Am 18.01.2007 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden; auf die Niederschrift über diesen Termin wird Bezug genommen.

Dem Gericht hat die Rechtsbehelfsakte zur Steuernummer ... vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Beklagte hat die beantragten Billigkeitsmaßnahmen im Sinne der § 227 AO zu Recht abgelehnt. Hierbei handelt es sich um Ermessensentscheidungen, die nur einer bedingten gerichtlichen Überprüfung dahin zugeführt werden können, ob die gesetzlichen Ermessensgrenzen überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 102 FGO). Ein derartiger Ermessensfehlgebrauch lässt sich im Streitfall nicht feststellen.

Die Nichtigerklärung der Vorschrift des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 für die Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 durch das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 9.03.2004 (2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BGBl. I 2004, 591, BStBl II 2005, 56) rechtfertigt nicht in Fällen bestandskräftiger Verwaltungsakte die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO. Im Streitfall beruht die Festsetzung der Einkommensteuer 1997 und 1998 in den bestandskräftigen Bescheiden hinsichtlich der von den Klägern erklärten Spekulationsgewinne aus Wertpapiergeschäften auf dem für nichtig erklärten § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997; sie ist einer Billigkeitsregelung auf Grund des § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - BVerfGG - nicht mehr zugänglich.

1. Nach § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Danach kann keine Rückabwicklung der auf einem für nichtig erklärten Gesetz beruhenden Normvollzugsakte erfolgen.

Dieses in § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG enthaltene Rückabwicklungsverbot ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenngleich es auch zu einer Besserstellung jener Steuerpflichtigen führt, die entweder rechtzeitig einen Rechtsbehelf gegen die auf § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 beruhende Einkommensteuerfestsetzung für 1997 oder 1998 eingelegt oder aber ihre Einkünfte aus Spekulationsgeschäften erst gar nicht erklärt haben. Denn der Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise zwischen den im Rechtsstaatsprinzip begründeten Verfassungsgrundsätzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten einerseits und der Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits zu Gunsten der Rechtssicherheit entschieden (BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1957, 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195, BStBl I 1958, 52; vom 14.03.1963, 1 BvL 28/62, BVerfGE 15, 313). Das Prinzip der Rechtsicherheit steht der Einzelfallgerechtigkeit gleichrangig gegenüber, so dass der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei war, welchem Grundsatz er den Vorzug geben wollte. Die dabei eintretende Ungleichbehandlung zum Nachteil, möglicherweise aber auch zum Vorteil der Betroffenen, die die betreffenden Steuerbescheide rechtskräftig werden ließen, gegenüber jenen, die mit Rechtsmitteln gegen sie vorgingen, hat der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen. Die Ungleichbehandlung von noch offenen und bereits bestandskräftig entschiedenen Fällen verletzt auch nicht den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr ist die Ungleichbehandlung durch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit gerechtfertigt (BFH, Urteil vom 11.02.1994, III R 50/92, BFHE 173, 383, BStBl II 1994, 389; BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1957, 1 BvR 678/57 a.a.O; vom 14.03.1963, 1 BvL 28/62 a.a.O.; vom 16.01.1980, 1 BvR 127/78, 1 BvR 679/78, BVerfGE 53, 115, 131).

2. Eine Ausnahme von dem Rückabwicklungsverbot des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG aus sachlichen Billigkeitsgründen i.S. des § 227 AO ist nicht zu machen.

a) Die Vorschrift des § 227 AO, nach der Steuern zu erlassen bzw. zu erstatten sind, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, erlaubt eine Abweichung von der aus der Anwendung der Steuergesetze auf einen konkreten Sachverhalt resultierenden Rechtsfolge. Eine solche Billigkeitsmaßnahme ist gerechtfertigt, wenn der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Besteuerung aber im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, mithin den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft.

Eine Billigkeitsmaßnahme ist hingegen ausgeschlossen, wenn sie die einer gesetzlichen Regelung innewohnenden Wertungen des Gesetzgebers generell durchbricht oder korrigiert (BVerfG, Beschluss vom 05.04.1978, 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102, BStBl II 1978, 441; BFH, Urteile vom 17.09.1987, III R 225/83, BFHE 151, 373, BStBl II 1988, 324; vom 09.09.1994, III R 17/93, BFHE 175, 395, BStBl II 1995, 8, 10). Dies gilt selbst unter der Voraussetzung, dass die gesetzliche Regelung Härten enthält, die der Gesetzgeber bei Ausgestaltung der Norm bewusst in Kauf genommen hat.

b) Im Streitfall liegt ein atypischer und den Wertungen des Gesetzgebers zuwider laufender Sachverhalt nicht vor.

Ein atypischer Fall setzt voraus, dass die Einziehung oder Vollstreckung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall den Geboten der Gleichheit und des Vertrauensschutzes, den Grundsätzen von Treu und Glauben, dem Erfordernis der Zumutbarkeit oder dem der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Zweck widerspricht (BFH, Urteil vom 26.10.1994, X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297). Dem steht die Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung zwar grundsätzlich nicht entgegen (BVerfG, Beschluss vom 05.4.1978, 1 BvR 117/73, a.a.O; BFH, Urteil vom 8.10.1980, II R 8/76, BFHE 131, 446, BStBl II 1981, 82). Jedoch muss sich der Steuerpflichtige grundsätzlich daran festhalten lassen, Einwendungen gegen den festgesetzten Anspruch nicht rechtzeitig vorgebracht zu haben, denn Billigkeitsmaßnahmen sind nicht dazu bestimmt, die Folgen schuldhafter Versäumnis eines Rechtsbehelfs auszugleichen. Ein Billigkeitserlass kommt nach ständiger Rechtsprechung nur in Betracht, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (BFH, Urteile vom 11.08.1987, VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom 13.01.2005, V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, 461).

aa) Es ist bereits zweifelhaft, ob die erste Voraussetzung erfüllt ist und die Einkommensteuerfestsetzungen für 1997 und 1998 offensichtlich und eindeutig unrichtig sind. Denn im Zeitpunkt des Erlasses der bestandskräftigen Steuerbescheide für 1997 am 11.02.1999 und für 1998 am 15.03.2000 entsprachen sie der geltenden Rechtslage; die Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 stand noch nicht fest. Eine Entscheidung dieser Frage kann indes dahinstehen, da es entgegen der Auffassung der Kläger an der Erfüllung der zweiten Voraussetzung fehlt.

bb) Den Klägern war es auch möglich und zumutbar, sich rechtzeitig - vor Eintritt der Bestandskraft - gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerbescheide für die Jahre 1997 und 1998 zu wehren. Sinn und Zweck des § 227 AO verbieten es, die Bestandskraft einer Steuerfestsetzung zu durchbrechen, sofern nicht ausnahmsweise ganz besondere Gründe dafür vorliegen. Dies entspricht der mit § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG korrespondierenden Zielsetzung, wonach eine generelle Rückabwicklung ausgeschlossen, jedoch keine darüber hinausgehende erhöhte Bestandskraft gesichert werden soll (Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, Stand: März 2006, § 79 Rn. 44 ff., 54). Wenn der Gesetzgeber im Fall der Unanfechtbarkeit eines Steuerbescheides dem Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall einräumt, ist diese Grundsatzentscheidung auch bei der Anwendung des § 227 AO zu berücksichtigen. Die Nichtigerklärung durch das BVerfG rechtfertigt nur dann Billigkeitsmaßnahmen, wenn Gründe vorgetragen werden, die es insbesondere unter Berücksichtigung, dass es grundsätzlich Sache des Steuerpflichtigen ist, seine Rechte und Interessen durch fristgerechte Einlegung von Rechtsbehelfen selbst zu wahren, verständlich machen und rechtfertigen, dass von den Rechtsbehelfen kein Gebrauch gemacht worden ist (BFH, Urteil vom 11.08.1987, VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512).

Im Streitfall hatten die Kläger keinen Anlass, auf die Einlegung von Einsprüchen etwa aus Gründen zu verzichten, die sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles ergeben. Unterlässt der Steuerpflichtige die Rechtsmitteleinlegung, so kann die eingetretene Rechtsfolge im Billigkeitswege nur korrigiert werden, wenn besondere Umstände, die im konkreten Verhältnis zur Behörde ihre Grundlage haben, dies rechtfertigen. Ein Ausnahmefall ist nicht etwa darin zu sehen, dass Rechtsauffassungen und Gesetzesinterpretationen der Verwaltung, auch wenn sie durch die Rechtsprechung oder Kommentierung abgesichert sind, durch die Gerichte korrigiert werden und angesichts der vorherrschenden Auffassung auf ein Rechtsmittel verzichtet worden ist. Der Steuerpflichtige hat selbst die Chance einer Korrektur durch Einlegung eines Rechtsmittels unter Übernahme des Kostenrisikos. Unterlässt er es, so ist es grundsätzlich nicht unbillig, wenn ihn dann die gesetzlichen Rechtsfolgen der Unanfechtbarkeit treffen (BFH, Urteil vom 31.03.1981, VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507).

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 09.03.2004, worauf die Kläger zu Recht hingewiesen haben, nicht die Auffassung vertreten, dass eine Besteuerung der Spekulationsgewinne generell verfassungswidrig sei; es hat vielmehr auf das Vollzugsdefizit bei der Erhebung der Steuer für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 zur Begründung der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 abgestellt. Grundlage hierfür waren unter anderem die in den Jahren 2002 und 2003 veröffentlichten Berichte des Bundesrechnungshofs und des Niedersächsischen Landesrechnungshofs.

Ein Erhebungsdefizit war aber bereits vorher bekannt. Schon 1994 hatte das Landesfinanzministerium Nordrhein-Westfalen zur Überprüfung der Möglichkeiten zur vollständigen Ausschöpfung von Steuerquellen eine Arbeitsgruppe "Steuerausfälle" eingesetzt, die in ihrem Abschlussbericht (veröffentlicht in: Der Steuerberater 1994, 399 und 446, 449 f.) bemerkt hatte, dass Spekulationsgewinne weitestgehend nicht erklärt würden. Auch in der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (BT-Drucks 14/23) am 19.01.1999 war die Besteuerungsrealität bei Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften von den Sachverständigen kritisch gewürdigt worden. Schließlich war in der Zeitschrift "Die Wirtschaftswoche" Nr. 6 vom 04.02.1999 (S. 104 und 114), d.h. vor Erlass der hier in Rede stehenden Steuerbescheide, auf ein Erklärungsdefizit hingewiesen worden. Insofern waren zumindest deutliche Hinweise vorhanden, die die Kläger zur Erhebung eines Einspruchs hätten veranlassen können.

3. Schließlich lässt sich eine Billigkeitsmaßnahme auch nicht aus § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG herleiten. Danach dürfen Entscheidungen, die auf einer nichtigen Norm beruhen, nicht vollstreckt werden. § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG "friert" die Abwicklung auf dem Stand ein, den sie zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erreicht hat (Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, 1991, § 20 Rn. 78; Schaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Auflage, 2001, Rn. 379 ff.). Lediglich für den Fall, dass der Rechtsdurchsetzungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, tritt das Anliegen des Schutzes der Rechtsbeständigkeit zurück. Nur in diesem Fall gibt das Gesetz der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang. Dies begründet aber keine Rechtfertigung, die auf der nichtigen Norm beruhende Steuerfestsetzung im Wege der Billigkeit zu mindern oder die festgesetzten oder gezahlten Steuern zu erlassen bzw. zu erstatten. Ist die Erhebung bzw. Vollstreckung beendet - im Streitfall hatten die Kläger das Leistungsgebot entsprechend den Einkommensteuerbescheiden 1997 und 1998 erfüllt -, berechtigt die Nichtigerklärung nicht zu einer Rückabwicklung. Es bleibt dann bei der Fortbestandsgarantie des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG (Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, Stand: März 2006, § 79 Rn. 57 f.).

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision folgt aus § 115 Abs. 2 FGO.

Ende der Entscheidung

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