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Gericht: Finanzgericht Hamburg
Urteil verkündet am 25.05.2007
Aktenzeichen: 6 K 28/07
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b)
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Hamburg

6 K 28/07

Tatbestand:

Streitig ist der Ansatz von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften (Spekulationsgewinnen aus der Veräußerung von Wertpapieren).

Der Kläger zu 2. tätigte in dem Streitjahr 1996 durch den An- und Verkauf von Wertpapieren Spekulationsgeschäfte i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) EStG i. d. für das Streitjahr gültigen Fassung (EStG 1996) und erzielte hieraus einen Gewinn in Höhe von 4.590 DM. Der Beklagte besteuerte den Gewinn mit dem streitgegenständlichen --gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten-- Einkommensteuerbescheid für 1996 vom 31.08.2000 als sonstige Einkunft gemäß § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996.

Hiergegen erhoben die Kläger am 11.09.2000 (Eingang beim Beklagten) Einspruch und machten geltend, dass die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 verfassungswidrig sei, sodass es für die Erfassung des Spekulationsgewinns an einer Rechtsgrundlage fehle.

Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 13.06.2005 zurück. Zwar habe das BVerfG die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG in der Fassung des Gesetzes vom 16. April 1997 (BGBl. I 1997, 821) für nichtig erklärt; dies gelte aber nicht für die Zeiträume vor 1997 (vgl. BVerfG-Urteil vom 09.03.2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56). Die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 sei daher gemäß BMF-Schreiben vom 12.11.2004 (BStBl I 2004, 1026) weiterhin anzuwenden.

Die Kläger haben am 11.07.2005 (Eingang bei Gericht) Klage erhoben.

Es sei auch für 1996 von einem gleichheitswidrigen Vollzugsdefizit im Bereich der Spekulationseinkünfte auszugehen. Dieses Defizit führe nach den Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG vom 09.03.2004 (2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56) zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Besteuerungsnorm. Es bestehe insofern keine Veranlassung, dem Gesetzgeber, dem die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten bekannt gewesen seien, für die erforderlichen gesetzlichen Nachbesserungen eine über das Streitjahr hinausgehende Frist zuzubilligen.

Die Kläger beantragen,

die Einspruchsentscheidung vom 13.06.2005 betreffend das Jahr 1996 und den Bescheid für 1996 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 31.08.2000 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 1b) EStG 1996 bestünden --wie bereits in der Einspruchsentscheidung

ausgeführt-- nicht. Dem Gesetzgeber sei eine gewisse Übergangszeit --die auch das Streitjahr einschließe-- zur Neuregelung der Problematik zuzubilligen gewesen.

Der Berichterstatter hat den Sach- und Streitstand mit den Beteiligten erörtert. Auf die Sitzungsniederschrift vom 21.03.2007 wird Bezug genommen.

Dem Gericht lag die den Streitfall betreffende Einkommensteuerakte (Steuernummer ... ) vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Das Gericht hält die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 für verfassungsgemäß. Das Verfahren war deshalb nicht gemäß Art. 100 GG zur Einholung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung auszusetzen, sondern vielmehr auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 zu entscheiden, mit der Folge, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.

1. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b), Abs. 3 Satz 1 EStG 1996 bestimmt, dass Einkünfte aus Spekulationsgeschäften u.a. dann vorliegen, wenn ein Steuerpflichtiger Wertpapiere innerhalb der im Streitjahr geltenden Spekulationsfrist von sechs Monaten nach Anschaffung veräußert und aus der Veräußerung einen Überschuss des Veräußerungspreises über die Anschaffungskosten und die Werbungskosten erzielt. Damit erfasst § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 abweichend von dem sonst im Einkommensteuerrecht bestehenden Grundsatz, wonach Einkünfte aus der Veräußerung privater, d.h. nicht zu einem Betriebsvermögen gehörender Wirtschaftsgüter nicht steuerbar sind, innerhalb der Spekulationsfrist realisierte Werterhöhungen der bezeichneten Art im Privatvermögen (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Juli 2002 IX R 62/99, BStBl II 2003, 74).

2. Für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 hat das BVerfG mit Urteil vom 09.03.2004 2 BvL 17/02 (BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56) entschieden, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG in der für diese Zeiträume gültigen Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16.04.1997 (BGBl. I 1997, 821) in Bezug auf Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren verfassungswidrig und nichtig ist. Der Vollzugsbefehl der Vorschrift sei in den Jahren 1997 und 1998 nicht gleichheitsgerecht umgesetzt worden. Dieses Vollzugsdefizit sei dem Gesetzgeber nach den Grundsätzen des Zinsurteils des BVerfG vom 27.06.1991 2 BvR 1493/89 (BVerfGE 84, 239 , BStBl II 1991, 654) mit der erkannten Folge zuzurechnen gewesen.

3. Die für die Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm wegen eines strukturellen Vollzugsdefizits maßgebliche Relation zwischen Norm und Vollzugsrealität kann sich indes im Laufe der Zeit entscheidungserheblich ändern; der Befund eines strukturellen Vollzugsdefizits kann daher nicht ohne weiteres von einem Erhebungszeitraum auf andere Zeiträume übertragen werden (vgl. BVerfG-Urteil vom 09.03.2004 2 BvL 17/02, BStBl II 2005, 56). Auch können normative Defizite ihre verfassungsrechtliche Relevanz dadurch verlieren, dass von der materiellen Steuernorm auf Grund der Marktentwicklung kein wesentlicher Ertrag (mehr) zu erwarten ist, sodass der Vollzugsbefehl der Norm ungeachtet defizitärer Erhebungsregeln leer läuft (vgl. BVerfG, a.a.O.).

Zudem lassen sich für die Beantwortung der Frage, ab welchem Kalenderjahr ein Verstoß gegen die tatsächliche Belastungsgleichheit dem Steuergesetzgeber zuzurechnen ist mit der Folge, dass die materiell-rechtliche Grundlage für die Steuererhebung selbst verfassungswidrig wird, keine allgemein gültigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe entwickeln; die Antwort hängt maßgeblich von Tatsachen ab, die für jeden Einzelfall einer gleichheitswidrig vollzogenen Steuernorm gesondert festzustellen sind (BVerfG-Beschluss vom 18.04.2006 2 BvL 12/05, HFR 2006, 1144). Insoweit entscheidungserhebliche Tatsachen können beispielsweise Zeitpunkt, Art und Ausmaß der in Fachkreisen öffentlich geführten Diskussion, die Entwicklung auf Märkten, auf die die einschlägige Besteuerung abzielt, oder die Ergebnisse von Gutachten anerkannter Institutionen oder verwaltungsinterner Untersuchungen sein (BVerfG, a.a.O.).

4. Nach diesen Grundsätzen kann die Entscheidung des BVerfG zu § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 gültigen Fassung nicht auf die für das Streitjahr gültige, wortgleiche Fassung übertragen werden. Das Gericht kann es insofern dahingestellt sein lassen, ob in 1996 ein verfassungsrechtlich relevantes (strukturelles) Vollzugsdefizit hinsichtlich der Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus der Veräußerung von Wertpapieren bestanden hat. Zweifel bestehen insoweit, als dem Gericht keine Erkenntnisse über das Volumen privater Veräußerungsgeschäfte mit Wertpapieren in 1996 vorliegen. Eine Bezifferung der Aufkommenserheblichkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 kann weder aus dem Abschlussbericht der Arbeitsgruppe "Steuerausfälle" des Landesfinanzministeriums Nordrhein-Westfalen aus 1994 (StB 1994, 399, 446) hergeleitet noch späteren Veröffentlichungen wie u.a. dem Bericht des Bundesrechnungshofs vom 24.04.2002 (BT-Drs. 14/8863) entnommen werden. Soweit ersichtlich, liegen entsprechende Erhebungen überhaupt nicht vor. Es bleibt deshalb fraglich, ob der Vollzugsbefehl der Norm ungeachtet defizitärer Erhebungsregeln in 1996 zu einem wesentlichen Ertrag geführt hätte.

Dem Gesetzgeber wäre ein verfassungsrelevantes Vollzugsdefizit für den Erhebungszeitraum 1996 indes nicht zuzurechnen. Das Streitjahr ist ebenso wie die Vorjahre (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 29.06.2004 IX R 26/03, BFHE 206, 418, BStBl II 2004, 995;vom 01.06.2004 IX R 35/01, BFHE 206, 273, BStBl II 2005, 26; BFH-Beschluss vom 29.11.2005 IX B 80/05, BFH/NV 2006, 719) in die dem Gesetzgeber zuzubilligende Frist zur gleichheitsgerechten Nachbesserung des normativen Umfelds der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 einzubeziehen.

Zwar war dem Gesetzgeber seit dem Zinsurteil des BVerfG vom 27.06.1991 (2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654) klar, welchen gleichheitsrechtlichen Anforderungen auch der Vollzug der materiellen Steuernorm des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 zu genügen hatte; ebenso klar war, dass auch hinsichtlich der in Frage stehenden Spekulationseinkünfte ein gleicher Belastungserfolg "prinzipiell", d.h. durch die Regelungen des Erhebungsverfahrens strukturell bedingt, nicht erreicht werden konnte (vgl. BVerfG-Urteil vom 09.03.2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56). Doch ist für die Frage, ab wann dem Gesetzgeber ein struktureller Erhebungsmangel in verfassungsrechtlich relevanter Weise zuzurechnen ist, zwischen der dem Zinsurteil zugrunde liegenden Norm des § 20 EStG und der in diesem Verfahren zu beurteilenden Vorschrift des § 23 EStG gleichwohl zu unterscheiden. Denn da die Frage des gleichheitswidrigen Vollzugsdefizits in der Fachwelt für die Vorschrift des § 23 EStG deutlich später aufgeworfen worden ist als für die Vorschrift des § 20 EStG (vgl. BFH-Urteile vom 29.06.2004 IX R 26/03, BFHE 206, 418, BStBl II 2004, 995;vom 01.06.2004 IX R 35/01, BFHE 206, 273, BStBl II 2005, 26), ist für die Bemessung der dem Gesetzgeber bei der Spekulationssteuer zuzubilligenden Nachbesserungsfrist auch von einem anderen Fristverlauf auszugehen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 18.04.2006 2 BvL 12/05, HFR 2006, 1144). Insofern ist nach Auffassung des Gerichts auf folgende Überlegungen abzustellen:

Die erste größere Fachpublikation, die sich (auch) mit dem Vollzugsproblem im Bereich der Spekulationseinkünfte befasst hat, ist der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe "Steuerausfälle" des Landesfinanzministeriums Nordrhein-Westfalen aus dem Oktober 1994 (StB 1994, 399, 446). Nach den Feststellungen der Arbeitsgruppe wurden Spekulationsgewinne i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG gegenüber der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung weitgehend nicht erklärt. Angaben zu dem entsprechenden Volumen konnte die Arbeitsgruppe nicht machen. Da die Daten der Arbeitsgruppe als Ergebnis einer regionalen Erhebung für das Bundesgebiet nicht repräsentativ waren und zudem keine Aussage zu der Höhe des aus dem defizitären Vollzug des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG folgenden Steuerausfalls enthielten, konnte auf ihrer Grundlage noch kein Gesetzgebungsverfahren initiiert werden. Der Gesetzgeber hätte allerdings die Ergebnisse der Arbeitsgruppe zum Anlass nehmen müssen, die durch den Bericht konkret aufgeworfene Infragestellung des gleichheitsgerechten Vollzugs des § 23 EStG unverzüglich durch weitere Erhebungen untersuchen zu lassen. Zudem wäre eine Bewertung des Aktienmarktes anzustrengen gewesen, um aus präsumtiven Kursentwicklungen auf das Marktgeschehen im Bereich privater Wertpapiergeschäfte und auf die hieraus abzuleitenden Volumina von Spekulationseinkünften schließen zu können. Die Erhebung dieser für eine Gesetzesinitiative erforderlichen Daten hätte sich nach Auffassung des Gerichts --zumindest-- bis in die Mitte des Jahres 1995 hineingezogen. Ab diesem Zeitraum hätte sich dem Gesetzgeber sodann die Notwendigkeit einer gesetzlichen Korrektur struktureller Erhebungsmängel auch im Bereich der Spekulationseinkünfte aufdrängen müssen, mit der Folge, dass diese Defizite binnen angemessener Frist zu beseitigen gewesen wären. Geht man davon aus, dass die durchschnittliche Dauer eines (Zustimmungs)Gesetzes in der 13. Legislaturperiode ebenso wie in der 14. und 15. Legislaturperiode 217 Tage betragen hat (vgl. hierzu Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Working Paper 6/06, Burkhart/Manow: Was bringt die Föderalismusreform?, Oktober 2006), dann kann man nicht mit der für die hier zu entscheidende Frage erforderlichen Überzeugung annehmen, dass eine gesetzliche Nachbesserung mit Wirkung für den Veranlagungszeitraum 1996 durchführbar war.

5. Auf der Grundlage des danach gültigen § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) EStG 1996 hat der Beklagte dem Grunde und der Höhe nach zutreffend sonstige Einkünfte des Klägers aus Spekulationsgeschäften für das Streitjahr festgesetzt.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die Zulassung der Revision aus § 115 Abs. 2 FGO.



Ende der Entscheidung

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