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Gericht: Finanzgericht Hessen
Urteil verkündet am 23.04.2008
Aktenzeichen: 3 K 1342/06
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
HESSISCHES FINANZGERICHT

URTEIL

IM NAMEN DES VOLKES

Geschäftsnummer: 3 K 1342/06

In dem Rechtsstreit

wegen Kindergeld betr. das Kind E für die Monate Oktober und November 2004

hat Richter am Hessischen Finanzgericht

als Einzelrichter

mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 23. April 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Bescheid, durch den die Festsetzung von Kindergeld bestandskräftig abgelehnt worden ist, geändert werden kann mit der Begründung, die dem Bescheid zu Grunde liegende Rechtsauffassung habe sich nachträglich geändert. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Klägerin hatte für ihre Tochter E (geboren am ..09.1986) bis einschließlich September 2004 Kindergeld erhalten. Am 02.09.2004 reichte sie bei der Beklagten (der Familienkasse) eine Ausbildungsbescheinigung ein, in der u. a. die monatlich ausgezahlten Ausbildungsvergütungen angegeben sind. Die Familienkasse führte anhand dieser Angaben eine Prognoserechnung über die Einkünfte und Bezüge durch, die der Tochter der Klägerin in den Monaten Oktober bis Dezember 2004 voraussichtlich zufließen würden. Dabei gelangte sie zu dem Ergebnis, der für diesen Zeitraum maßgebende Grenzbetrag von 1.920 € (3/12 von 7.680 €) sei überschritten. Durch Bescheid vom 23.11.2004 lehnte sie sodann mit Hinweis auf das vorstehende Ergebnis die Festsetzung von Kindergeld für die Zeit ab Oktober 2004 ab.

Am 09.01.2006 reichte die Klägerin bei der Familienkasse erneut einen Kindergeldantrag ein. Dem Antrag fügte sie u. a. eine Erklärung zu den Einkünften und Bezügen für das Kalenderjahr 2004 bei. Die Familienkasse führte daraufhin eine abschließende Berechnung zu den Einkünften und Bezügen durch, die der Tochter der Klägerin in der Zeit vom 02.09.2004 bis zum 31.12.2004 zugeflossen waren. Sie kam dabei zu dem Ergebnis, die maßgebende Einkommensgrenze sei unterschritten. Daraufhin erließ sie 20.03.2006 einen Bescheid, in dem sie Kindergeld ab dem Monat Dezember 2004 festsetzte, dabei aber gleichzeitig die Festsetzung für die Monate Oktober und November 2004 ablehnte. Die ablehnende Entscheidung begründete sie u. a. wie folgt: Über die Festsetzung von Kindergeld für die Monate Oktober und November 2004 sei bereits mit Bescheid vom 23.11.2004 bestandskräftig entschieden worden. An diese Entscheidung sei sie, die Familienkasse, gebunden. Eine Neufestsetzung von Kindergeld sei erst ab dem Monat möglich, der auf die Bekanntgabe der Entscheidung folge.

Die Klägerin legte gegen den Bescheid vom 20.03.2006 Einspruch ein. Zur Begründung machte sie sinngemäß geltend: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe durch Beschluss vom 11.01.2005 die Grundlagen für die Berechnung der Einkünfte und Bezüge geändert, die für das Bestehen eines Anspruchs auf Kindergeld bei einem über 18 Jahre alten Kind maßgebend seien. Deshalb müssten auch im vorliegenden Fall die für die Monate Oktober und November 2004 zugeflossenen Einkünfte und Bezüge neu ermittelt werden mit der Folge, dass der Bescheid vom 23.11.2004 aufzuheben sei. Durch Einspruchsentscheidung vom 03.04.2006 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung macht die Klägerin im wesentlichen Folgendes geltend: Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Familienkasse erstmals über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs für die Zeit ab Oktober 2004 zu entscheiden gehabt habe, hätten bei der Berechnung der maßgebenden Einkommensgrenze die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung noch nicht entsprechend berücksichtigt werden können. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Berechnung der Einkommensgrenze des Kindes über die Berücksichtigung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung habe erst Anwendung finden können, nachdem die Familienkasse den Bescheid vom 23.11.2004 erlassen habe. Die Auffassung der Familienkasse, die ablehnende Entscheidung zum Bestehen eines Kindergeldanspruchs für die Monate Oktober und November 2004 sei einer erneuten Überprüfung nicht mehr zugänglich, führe im Streitfall zu einer unangemessenen Benachteiligung des hier betroffenen Kindes. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der ablehnende Bescheid vom 23.11.2004 auf einer Prognoseberechnung beruhe. Aufgrund dieses Umstandes müsste eine Neufestsetzung von Kindergeld nach der Änderungsvorschrift des § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) noch möglich sein. Einer solchen Neufestsetzung stehe das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28.11.2006 III R 6/06 (BStBl II 2007, 717) nicht entgegen. Denn bei der Tochter der Klägerin seien neben den Arbeitnehmerbeiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung noch weitere Werbungskosten einkommensmindernd zu berücksichtigen. So seien während des hier fraglichen Zeitraums insbesondere Fahrtkosten angefallen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 20.03.2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.04.2006 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, betreffend das Kind E Kindergeld für die Monate Oktober und November 2004 festzusetzen.

Die Familienkasse beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer im außergerichtlichen Verfahren geäußerten Rechtsauffassung fest.

Die den Streitfall betreffenden Akten waren Gegenstand des Verfahrens.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

1. Die Familienkasse hatte es in dem angefochtenen Bescheid zu Recht abgelehnt, für die Monate Oktober und November 2004 nachträglich Kindergeld festzusetzen. Dabei ist sie zutreffend davon ausgegangen, dass über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs für den vorgenannten Zeitraum durch den Bescheid vom 23.11.2004 wirksam und bestandskräftig entschieden worden ist und dass diese Entscheidung nicht mehr nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden kann.

Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 2 und 7 EStG besteht kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7.680 € im Kalenderjahr (2004) bzw. einem entsprechenden Teilbetrag hat. Liegen - wie im Streitfall - die Anspruchsvoraussetzungen für ein über 18 Jahre altes Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG für einen Teil des Kalenderjahres (hier drei Monate) vor, bestimmt sich der Teilbetrag nach der Anzahl der betreffenden Monate (hier: 3/12 von 7.680 €, also 1.920 €).

Nach der Rechtsauffassung, die während des Jahres 2004 noch von der Familienkasse vertreten wurde, war im Streitfall der für die Monate Oktober bis Dezember 2004 maßgebende Grenzbetrag in Höhe von 1.920 € überschritten. Demgegenüber war der Grenzbetrag unterschritten nach der Rechtsauffassung, die die Familienkasse im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG vom 11.01.2005 2 BvR 167/02 (BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) nunmehr vertritt. Hiernach sind bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge auch die Beiträge zu berücksichtigen, die das Kind für den betreffenden Zeitraum zur gesetzlichen Sozialversicherung zu leisten hat.

Die Klägerin hat die von der Familienkasse früher vertretene Rechtsauffassung offenkundig für zutreffend gehalten und wohl auch deshalb keinen Einspruch gegen den Bescheid vom 23.11.2004 eingelegt. Demzufolge ist der Bescheid mit Ablauf der Monatsfrist nach § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) bestandskräftig geworden.

Die in dem Bescheid enthaltene Regelung hat damit sowohl für die Klägerin als auch für die Familienkasse bindende Wirkung erhalten. Diese Bindungswirkung gilt bis zum Ende des Monats, in dem der Bescheid der Klägerin bekannt gegeben worden ist, hier also bis zum Ende des Monats November 2004 (vgl. zur Bindungswirkung von Ablehnungsbescheiden zum Kindergeld: BFH-Urteil vom 25.07.2001 VI R 78/98, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 23.11.2004 wird durch die Entscheidung des BVerfG nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt.

Dies gilt analog, wenn das BVerfG - wie im Streitfall - lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (vgl. BFH-Urteil vom 28.06.2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204). Es gilt insofern grundsätzlich ein Rückabwicklungsverbot für bestandskräftige bzw. rechtskräftige Entscheidungen der staatlichen Organe (vgl. Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 18.12.2007 2 K 2211/06, EFG 2008, 350).

2. Der nach den vorstehenden Grundsätzen bestandskräftig gewordene Bescheid vom 23.11.2004 kann aufgrund der im Streitfall gegebenen Umstände nicht nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben oder geändert werden. Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

Nach seinem Wortlaut betrifft § 70 Abs. 4 EStG die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung. Unter Kindergeldfestsetzung ist nicht nur ein Bescheid zu verstehen, mit dem Kindergeld festgesetzt wird, sondern auch ein Bescheid, mit dem - wie hier - ein Antrag auf Kindergeld abgelehnt wird. § 70 Abs. 4 EStG rechtfertigt eine Aufhebung oder Änderung des Kindergeldbescheids aber nur, wenn nachträglich bekannt wird, dass sich die Einkünfte und Bezüge entgegen der ursprünglichen Prognose im Laufe des Kalenderjahrs bzw. der betreffenden Monate erhöht oder vermindert haben, nicht aber, wenn sich einer von der Prognose abweichender Betrag ergibt, weil sich nach Erlass des Kindergeldbescheids - wie hier aufgrund einer Entscheidung des BVerfG - die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (vgl. BFH-Urteil in BStBl II 2007, 717).

Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn sich die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes im Laufe des Kalenderjahres bzw. der betreffenden Monate gegenüber den prognostizierten Beträgen geändert haben und allein deshalb der Grenzbetrag unterschritten ist. Denn das nachträgliche Bekanntwerden vom Überschreiten oder vom Unterschreiten des Jahresgrenzbetrags bezieht sich in diesem Fall auf Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes. Die tatsächlichen Verhältnisse sind insofern von den rechtlichen Verhältnissen zu unterscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 10.05.2007 III R 103/06, BFH/NV 2007, 1581).

Ob die tatsächlichen Verhältnisse sich in dem vorgenannten Sinne geändert haben, hat der Kindergeldberechtigte gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG darzulegen und notfalls nachzuweisen. Kann der Sachverhalt diesbezüglich nicht aufgeklärt werden, weil der Berechtigte seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, hat dieser im Prozess regelmäßig die objektive Beweislast (Feststellungslast) zu tragen (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 96 FGO Tz. 86).

Die Klägerin macht zwar geltend, bei ihrer Tochter seien weitere Werbungskosten angefallen. Irgendwelche schriftlichen Nachweise, aus denen sich das Anfallen entsprechender Aufwendungen ergeben könnte, hat sie jedoch nicht vorgelegt. Sie hat lediglich durch ihren Prozessbevollmächtigten (siehe Schriftsatz vom 26.3.2007) einen sog. Ausbildungsplan eingereicht. Aus diesem Plan ist nur zu entnehmen, dass die Tochter der Klägerin in der Zeit von September 2003 bis August 2006 verschiedene Ausbildungsstationen durchlaufen sollte. Weitere Angaben, insbesondere zu irgendwelchen Kostenpunkten, enthält der Plan nicht.

Der erkennende Einzelrichter hat sich am 20.12.2007 telefonisch an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gewandt und diesen hierbei darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 23. 11. 2004 noch geändert werden könnte, wenn im ausreichenden Maße weitere Werbungskosten nachgewiesen würden. Hierauf hat die Klägerin nicht reagiert. Angesichts dieses Verhaltens hat das Gericht keinen Anlass gesehen, den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären.

Im Übrigen hat das Gericht sehr wohl die Härten berücksichtigt, die sich für die Klägerin durch die Besonderheiten des vorliegenden Verwaltungsverfahrens ergeben.

Gleichwohl muss es die allgemein gültigen Grundsätze zur Bestandskraft von Verwaltungsakten beachten. Diese Grundsätze sind nämlich Ausdruck der Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit und haben als solche Verfassungsrang (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a. a. O., Vor § 172 AO Tz. 2).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Ende der Entscheidung

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