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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 03.12.2008
Aktenzeichen: 11 K 4917/07
Rechtsgebiete: GG, AO, EStG


Vorschriften:

GG Art 3 Abs. 1
AO § 169
AO § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
EStG § 25 Abs. 3
EStG § 52 Abs. 55j
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

11 K 4917/07

Tenor:

Der Beklagte wird verpflichtet, die Einkommensteuerbescheide 1999 bis 2001 entsprechend der ihm vorliegenden Einkommensteuererklärungen zu erlassen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre (1999 - 2001).

Die Kläger sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Mit Schreiben vom .......2006 reichten sie die Einkommensteuererklärungen der Jahre 1999 bis 2003 beim Beklagten ein. Sie erklärten ausschließlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit des Klägers.

Der Beklagte lehnte zunächst die Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen unter Hinweis auf den Ablauf der Antragsfrist nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 Einkommensteuergesetz a.F. (EStG) ab.

Den hiergegen gerichteten Einspruch sowie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte der Beklagte ab.

Gegen die Einspruchsentscheidung vom .....2007 haben die Kläger am ....2007 Klage erhoben.

Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Durchführung der Einkommensteuerveranlagung. Einer Veranlagung stehe keine Festsetzungsverjährung entgegen.

Durch das Jahressteuergesetz 2008 sei aus Gründen des Bürokratieabbaus und als Beitrag zu mehr Bürgerfreundlichkeit die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ersatzlos weggefallen. Dazu beigetragen habe auch, dass sich auf Grund einer Verfassungsbeschwerde herauskristallisiert habe, dass die Gruppe von Arbeitnehmern, die eine Einkommensteuererklärung nicht abgeben müssten, sondern sie nur freiwillig abgeben könnten, durch die Antragsfrist im Gegensatz zu anderen Steuerpflichtigen benachteiligt würden.

Gemäß einer Pressemitteilung des Bundesfinanzministeriums und anderer Mitteilungen im Internet habe nun jeder, der nicht zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet sei, bis zu 7 Jahre Zeit für die Steuererklärung. Dies sei ein Beweis dafür, dass zur Beseitigung der Ungleichheit für alle Steuerpflichtigen § 169 Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO für die Berechnung der Festsetzungsfrist anwendbar sei. Demzufolge sei neben § 169 AO auch die Vorschrift des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu beachten, wonach die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht werde, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folge, in dem die Steuer entstanden sei, beginne. Werde also eine Steuererklärung nicht eingereicht, beginne die Festsetzungsfrist nach Ablauf des dritten Jahres, das auf das Kalenderjahr folge, in dem die Steuer entstanden sei.

Entgegen der Auffassung des Beklagten stehe dem auch nicht der Wortlaut des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO entgegen, denn von dem Arbeitnehmer sei verpflichtend eine Steuererklärung einzureichen, um eine Veranlagung zu erreichen. Die vom Beklagten vorgenommene Beschränkung der Anwendung dieser Vorschrift nur auf z.B. Einzelunternehmer und Freiberufler etc. sei nach der neuen Gesetzeslage nicht mehr zutreffend. Folglich liege ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vor, wenn bei der Veranlagung eines Arbeitnehmers § 169 AO nicht i.V.m. § 170 Abs. 2 AO angewandt werde.

Das vom Beklagten zitierte nicht veröffentlichte BFH-Urteil vom 08.10.1991 sowie das Urteil des FG Hamburg vom 14.10.2006 seien nach der heutigen geänderten Rechtslage überholt. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG sei durch das Jahressteuergesetz beseitigt worden, weil diese Vorschrift gegen den Gleichheitsgrundsatz des Artikel 3 GG verstieße. Um den Gleichheitsgrundsatz in diesem Punkte in vollem Umfang gerecht zu werden, sei in der Folge auch die Vorschrift des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO bei einer Arbeitnehmerveranlagung anzuwenden. In § 25 Abs. 3 EStG sei auch der Grundsatz klar festgelegt, dass der Steuerpflichtige für den abgelaufenen Veranlagungszeitraum eine Einkommensteuererklärung abzugeben habe. In der vorzitierten Vorschrift komme nicht zum Ausdruck, aus welchen Gründen eine Erklärung einzureichen sei, ob freiwillig oder auf Anforderung.

Zudem seien die Veranlagungen 1999 bis 2001 auch nach den Grundsätzen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durchzuführen. Sie, die Kläger, hätten keinerlei Kenntnis von der möglichen Festsetzungsverjährung gehabt. Sie hätten schuldlos die Steuererklärung zu spät eingereicht. Die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand sei denjenigen zu gewähren, die ohne Verschulden verhindert gewesen seien, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Schuldlos handele nach ständiger Rechtsprechung, wer diejenige Sorgfalt anwende, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Bürger geboten und ihm nach den Gesamtumständen des konkreten Einzelfalles zumutbar sei. Dabei seien die Kenntnisse, Möglichkeiten und Fähigkeiten der Betroffenen zu berücksichtigen. Ausgehend von diesem Verschuldungsbegriffs sei nach ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass ein Rechtsirrtum über Verfahrensrecht, etwa dem Beginn oder das Ende einer Frist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könne. Gleich zu behandeln seien die Fälle, bei denen eine unverschuldete Unkenntnis einer einzuhaltenden gesetzlichen Frist vorliege.

Sie, die Kläger, hätten laut ihrer Kenntnis nicht gewusst, ob sie zu dem Kreis der Pflicht- oder Antragsveranlagten gehörten. Dies ergebe sich für den steuerlichen Laien auch nicht aus den Anleitungen zur Einkommensteuererklärungen oder den üblichen Ratgebern für Lohnsteuerzahler, die ihnen im Übrigen auch nicht vorgelegen hätten. Ihnen hätten daher die notwendigen Kenntnisse über die Beachtung der Fristen gefehlt. Erstmals erfahren hätten sie davon in einem Beratungsgespräch mit dem steuerlichen Berater am 24.10.2006. In diesem Gespräch sei auch der Berater zunächst von einer Pflichtveranlagung ausgegangen und habe auf die Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO hingewiesen.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten zu verpflichten, die Veranlagungen zur Einkommensteuer 1999 bis 2001 erklärungsgemäß durchzuführen,

hilfsweise,

bei abgelaufener Festsetzungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO zu gewähren und die Einkommensteuerveranlagungen durchzuführen,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Durch das Jahressteuergesetz 2008 sei zwar die Zweijahresfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG weggefallen, für die Zeiträume 1999 bis 2001 sei jedoch Festsetzungsverjährung eingetreten. Nach Wegfall der Zweijahresfrist könne der Antrag auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung innerhalb der Festsetzungsfrist gestellt werden. Diese betrage 4 Jahre und beginne mit Ablauf des Kalenderjahres, für das der Antrag auf Einkommensteuerveranlagung gestellt werde (§ 170 Abs. 1 AO). Die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO sei im Streitfall unbeachtlich, da diese Regelung ausschließlich Fälle betreffe, in denen der Steuerpflichtige auf Grund einer gesetzlichen Regelung zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet sei. Sie gelte also nicht für Fälle, in denen der Steuerpflichtige zur Stellung eines Antrages "freiwillig" eine Steuererklärung beim Finanzamt einreiche (Hinweis auf Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 170 AO Rz. 10 und 19; Frotscher in Schwarz, AO, § 170 Rz. 7 und 17; BFH-Urteile vom 09.03.1990 VI R 87/89, BStBl II 1990, 608 und vom 08.10.1991 IX R 162/87, BFH/NV 1992, 174; BFH-Beschluss vom 27.04.1994 VIII B 119/93, BFH/NV 1995, 82 und Urteil des FG Hamburg vom 14.10.2003 I 42/02, [...]).

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme auch nicht in Betracht.

Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist oder über materielles Recht begründeten eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen Fällen könne dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zugemutet werden, von den Verfahrensrechten in der gebotenen Weise Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren (Hinweis auf BFH-Urteile in BFH/NV 1986, 717, BFH/NV 1990, 530 und in BStBl II 2000, 37).

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Ablehnung der Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen der Streitjahre ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 101 Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Veranlagungen der betreffenden Jahre sind durchzuführen. Einer Veranlagung steht nicht die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Einkommensteuergesetz a.F. (EStG) entgegen. Die Frist ist infolge des Jahressteuergesetzes 2008 ersatzlos weggefallen. Der neue § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist gemäß § 52 Abs. 55j EStG 2008 erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen - wie im Streitfall - am 28. Dezember 2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist. Damit ist eine Entscheidung über die vom Beklagten zunächst noch abgelehnte Wiedereinsetzung in die Antragsfrist hinfällig.

Es ist entgegen der Auffassung des Beklagten auch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.

Die Festsetzungsfrist für das Streitjahr 1999 endete ohne Berücksichtigung einer Ablaufhemmung am 31.12.2006, für 2000 am 31.12.2007, für 2001 am 31.12.2008.

Die Festsetzungsfrist begann für alle drei Jahre gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgte, in dem die Steuer entstanden ist. Für die Einkommensteuer 1999 also mit Ablauf des 31.12.2002, für 2000 mit Ablauf des 31.12.2003 und für 2001 mit Ablauf des 31.12.2004.

Auch für die Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift. Eine Anwendung des § 170 Abs. 1 AO würde zu einer gegen Art. 3 Abs. 1 Grundsgesetz (GG) verstoßenden Ungleichbehandlung derjenigen, die nur auf Antrag zu veranlagen sind, gegenüber denjenigen, für die eine Veranlagungspflicht besteht, führen.

Art. 3 Abs. 1 GG verlangt die Gleichbehandlung "aller Menschen" vor dem Gesetz. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist bereichsspezifisch anzuwenden (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 8. April 1987 2 BvR 909, 934, 935, 936, 938, 941, 942, 947/82, 64/83 und 142/84, BVerfGE 75, 108; und vom 8. Juni 1988 2 BvL 9/85 und 2 BvL 3/86, BVerfGE 78, 249). Er verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden (BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239; BVerfG-Beschluss vom 16. März 2005 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268). Steuerrechtliche Regelungen sind so auszugestalten, dass Gleichheit im Belastungserfolg für alle Steuerpflichtigen hergestellt werden kann.

Der Einkommensteuergesetzgeber hat die Steuerschuldner in den verschiedenen Einkunftsarten gleich zu behandeln; die Verpflichtung zur Belastungsgleichheit schließt aber nicht aus, dass das Erhebungsverfahren um der Allgemeinheit und Verlässlichkeit der Besteuerung willen je nach Einkunftsart entsprechend den typischen Lebensvorgängen - auch mit messbaren Unterschieden für Gruppen von Steuerpflichtigen - verschieden geregelt wird (BVerfG-Beschluss vom 10. April 1997 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1). Soweit das Einkommensteuerrecht mehrere Einkunftsarten unterscheidet und daran auch unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft, müssen letztere ihre Rechtfertigung - wenn auch in typisierender und generalisierender Weise - in sachlichen Gründen finden. Die systematische Unterscheidung von Einkunftsarten durch den Gesetzgeber kann für sich allein die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen (BVerfG-Beschluss vom 8. Oktober 1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348). Der Gesetzgeber hat demgemäss die Besteuerungstatbestände und die ihnen entsprechenden Erhebungsregelungen aufeinander abzustimmen (BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239). Die hier in Rede stehende verschiedene Behandlung von Einkommensteuerzahlern und Lohnsteuerzahlern muss sich zur Wahrung der Gleichheit vor dem Steuergesetz auf die Punkte beschränken, in denen eine abweichende Regelung durch die Besonderheiten des Veranlagungsverfahrens oder des Lohnsteuerabzugsverfahrens hinreichend sachlich gerechtfertigt ist (BVerfG-Beschlüsse vom 26. Januar 1977 1 BvL 7/76, BVerfGE 43, 231; vom 25. April 1972 1 BvL 38/69, 25/70 und 20/71, BVerfGE 33, 90, und vom 13. Dezember 1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1). Allerdings hat der Gesetzgeber vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen, wie sie insbesondere im Steuerrecht und in der Steuerverwaltung auftreten, einen - freilich nicht unbegrenzten - Spielraum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 8. Oktober 1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348). Die Typisierung setzt jedoch voraus, dass die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (BVerfG-Beschluss vom 8. Oktober 1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348). Wesentlich ist ferner, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären; hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht (vgl. BVerfG-Beschluss vom 8. Februar 1983 1 BvL 28/79, BVerfGE 63, 119, m.w.N.; ständige Rechtsprechung). Der Gesetzgeber hat folglich die für den Steuerpflichtigen sich ergebenden Vor- und Nachteile aus einer unterschiedlichen Erhebung von Lohnsteuer und sonstiger Einkommensteuer insgesamt in vertretbarer Weise zu gewichten (vgl. BVerfG-Beschluss vom 10. April 1997 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1). Ein dem Art. 3 Abs. 1 GG genügender Vergleich muss in einem Gesamtvergleich die steuererheblichen Unterschiede zwischen den Lohneinkünften und den übrigen Einkunftsarten analysieren und bewerten und dabei die typischerweise zusammentreffenden Vor- und Nachteile für die Belastung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beachten (BVerfG-Beschlüsse vom 21. Februar 1961 1 BvL 29/57, 20/60, BVerfGE 12, 151; vom 14. Oktober 1970 1 BvR 307/68, BVerfGE 29, 221; vom 8. Oktober 1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348, und vom 10. April 1997 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1).

Beide Gruppen, d.h. pflicht- und antragsveranlagte Steuerpflichtige, befinden sich im Hinblick auf die Frage, innerhalb welcher Frist eine Veranlagung durch die Finanzverwaltung durchzuführen ist, in einer vergleichbaren Lage. Zwar bestehen bei einer Veranlagung von Amts wegen einerseits und einer Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG andererseits Unterschiede. So sind von Amts wegen zur Einkommensteuer zu veranlagende Steuerpflichtige verpflichtet, eine Steuererklärung abzugeben (vgl. § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 EStDV). Die Nichtabgabe einer Steuererklärung oder ihre verspätete Abgabe ist in mehrfacher Hinsicht sanktioniert. Die Finanzbehörde kann zur Abgabe der Steuererklärung Zwangsmittel verhängen (§ 328 ff. AO) und gemäß § 152 AO einen Verspätungszuschlag festsetzen. Die Nichtabgabe der Steuererklärung kann zudem den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllen (§ 370 Abs. 1 und 4 AO). Soweit Bezieher von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG von Amts wegen zur Einkommensteuer veranlagt werden, liegt den Veranlagungstatbeständen häufig die Vorstellung des Gesetzgebers zu Grunde, die einbehaltenen Steuerabzugbeträge könnten möglicherweise nicht ausreichen, um die tatsächlich entstandene Steuerschuld zu decken. Sind die Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen dagegen nicht gegeben, steht es dem Steuerpflichtigen grundsätzlich frei, die Veranlagung im vorrangig eigenen Interesse durchführen zu lassen oder darauf zu verzichten. Die Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen der auf Antrag und der von Amts wegen zu veranlagenden Steuerpflichtigen ändern aber nichts daran, dass hinsichtlich der zeitlichen Grenze für die Durchführung einer Veranlagung vergleichbare Sachverhalte vorliegen. Denn für beide Vergleichsgruppen geht es jeweils darum, innerhalb welcher Frist sie die Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer durch eine Veranlagung erreichen können und damit die Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen hergestellt werden kann. Der Landwirt, Gewerbetreibende oder Freiberufler, der Einkommensteuer-Vorauszahlungen geleistet hat, befindet sich insoweit in keiner anderen Lage als der Arbeitnehmer, der dem Steuerabzug unterliegt. Die damit unterschiedliche Behandlung der Vergleichgruppen ist auch nicht gerechtfertigt. Insbesondere ist eine solche Rechtfertigung nicht im Interesse der Allgemeinheit an einer funktionsfähigen und möglichst sparsam arbeitenden Finanzverwaltung, wichtigen fiskalischen Erwägungen oder dem Gesichtspunkt einer verhältnismäßig kleinen Zahl betroffener Personen und eines nicht sehr intensiven Verstoßes gegen den Gleichheitssatz gegeben (BFH-Beschluss vom 22.05.2006 VI R 46/05, BFHE 213, 536, BStBl II 2006, 820).

Der Senat wendet die vorstehend auszugsweise wiedergegebenen Grundsätze des BFH-Beschlusses vom 22.05.2006, die der BFH zunächst nur für die Frage, ob die frühere zweijährige Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. zu einer Ungleichbehandlung führt, aufgestellt hat, auch auf die Problematik des Streitfalls an. Auch hier rechtfertigen die genannten Unterschiede zwischen Pflicht- und Antragsveranlagten aus den gleichen Gründen keine unterschiedlichen Festsetzungsfristen. Davon ist auch der BFH, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch jedenfalls erkennbar, im zitierten Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht vom 22.05.2006 ausgegangen. Dort ging er - bei unterstellter Verfassungswidrigkeit und damit Unwirksamkeit der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. - von der Anwendung der Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch auf die Fälle der Antragsveranlagung aus. Der Kläger im dortigen Fall, der zur Gruppe der Antragsveranlagten nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. gehörte, stritt um die Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1996. Die entsprechende Steuererklärung hatte er am 30.12.2002 abgegeben. Der BFH ermittelte unter B IV. 2. im Vorlagebeschluss vom 22.05.2006 den Ablauf der regelmäßigen Festsetzungsfrist auf den 31.12.2003. Dabei maß er der Frage, ob der Kläger vom Beklagten zur Abgabe einer Steuererklärung aufgefordert worden war (§ 149 Abs. 1 Satz 2 AO) oder aber die Erklärung freiwillig abgegeben hat, keine Bedeutung bei. Zu diesem Lauf der Festsetzungsfrist konnte der BFH aber nur unter Einbeziehung der Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO kommen. Bei Zugrundelegung eines Beginns der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO hätte diese bereits mit Ablauf des 31.12.2000 geendet.

Der demnach bei Anwendung des § 170 Abs. 1 AO auf die Fälle der Antragsveranlagung eintretende Gleichheitsverstoß kann durch eine verfassungskonforme Auslegung von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO behoben werden.

Aus der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gebot, ein Gesetz im Zweifel verfassungskonform auszulegen. Das gilt jedoch nur, soweit unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen der betreffenden Bestimmung möglich sind, von denen zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt. Durch den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen. Ein Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers steht, kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden. Anderenfalls würde man der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen (BVerfG-Beschluss vom 14.10.2008, [...], m.w.N.; vgl. BVerfG-Beschluss vom 11.01,2005 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164, 183).

Auf den Streitfall bezogen stehen Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO einer verfassungskonformen Auslegung bereits deshalb nicht entgegen, weil es sich um eine Vorschrift des Verfahrensrecht handelt, die erst unter Hinzuziehung des jeweiligen materiellen Steuergesetzes eine Aussage hinsichtlich des Eintritts einer Anlaufhemmung treffen kann (vgl. § 149 Abs. 1 Satz 1 AO). Die vom Senat befürwortete verfassungskonforme Auslegung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO steht auch nicht im Widerspruch zum Gesetzeszweck. Durch die Vorschrift sollte nach Auffassung des Gesetzgebers verhindert werden, dass durch Nichtabgabe oder späte Einreichung der Steuererklärung die der Finanzbehörde zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit verkürzt wird (vgl. Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 170 AO Rz. 11). Dabei hatte der Gesetzgeber zwar vor allem die Fälle im Auge, in denen die Steuererklärung - im Gegensatz zum Regelfall bei der Antragsveranlagung - zu einer Nachzahlung führt und der Regelbeginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO den Steuerpflichtigen eher in die Möglichkeit versetzte, durch späte Abgabe der Erklärung auf einen Eintritt der Festsetzungsverjährung zu hoffen und damit eine Steuer(nach)zahlung zu verhindern. Doch im Bereich der Einkommensteuer kommen auch bei der Pflichtveranlagung Erstattungsfälle und sonstige Fälle ohne Nachzahlung, z.B. aufgrund einer auf 0 EUR lautenden Steuerfestsetzung vor. Auch diese, durchaus häufig vorkommenden Fälle, hatte der Gesetzgeber vor Augen und bezog sie in den Regelungsbereich der Vorschrift mit ein. Damit entspricht eine Anwendung der Vorschrift auf die Antragsveranlagung im Wege der verfassungskonformen Auslegung zwar nicht dem primären Gesetzeszweck, steht aber auch nicht in einem klaren Widerspruch zu diesem.

Auch der Wortlaut der Vorschrift steht einer verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Nach dem Wortlaut greift die Ablaufhemmung u.a. ein, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist. Wann dies der Fall ist, regelt § 149 Abs. 1 AO i.V.m. dem materiellen Steuergesetz. Für die Einkommensteuer geht § 25 Abs. 3 EStG von dem Grundsatz aus, dass jeder Steuerpflichtige eine Einkommensteuererklärung abzugeben hat. Auch wenn § 56 Einkommensteuerdurchführungsverordnung (EStDV) und § 46 Abs. 2 EStG Ausnahmen hierzu regeln, reicht nach Auffassung des Senats die grundsätzliche Erklärungspflicht gemäß § 25 Abs. 3 EStG aus, um sich mit der hier vertretenen verfassungskonformen Auslegungen nicht in Widerspruch zum Wortlaut des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu setzen (im Ergebnis ebenso: FG Düsseldorf, Urteil vom 24.04.2008 12 K 4730/04 E, EFG 2008, 1088).

Die damit im Streitfall nach §§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 , 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO zu berechnende Festsetzungsfrist war für alle Streitjahre im Zeitpunkt der am ......2006 durch Abgabe der Einkommensteuererklärung 1999 bis 2001 beim Beklagten erfolgten Antragstellung auf Steuerfestsetzung noch nicht abgelaufen. Seit diesem Zeitpunkt greift die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO.

Die Veranlagung ist entsprechend den eingereichten Steuererklärungen durchzuführen. Einwände hiergegen hat der Beklagte nicht erhoben; Gründe für ein Abweichen von den Steuererklärungen sind auch nicht ersichtlich.

Über die klägerseits beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Festsetzungsfrist ist aufgrund der im Streitfall noch nicht eingetretenen Festsetzungsverjährung nicht mehr zu entscheiden.

Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen. Die hier relevante Rechtsfrage hat für eine Vielzahl von Fällen Bedeutung und ist nach dem Wegfall der Frist für die Antragsveranlagung vom BFH noch nicht entschieden worden. Zudem ist zur gleichen Frage ein Revisionsverfahren beim BFH unter dem Az. VI R 23/08 anhängig .

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 151 Abs. 1, Abs. 3, 155 FGO i.V.m. § 709 ZPO.

Ende der Entscheidung

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