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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 21.01.2009
Aktenzeichen: 14 K 1793/08
Rechtsgebiete: VO (EWG) 1408/71, DVO (EWG) 574/72, EStG


Vorschriften:

VO (EWG) 1408/71
DVO (EWG) 574/72
EStG § 32
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63
EStG § 65 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Unter Aufhebung des Bescheids vom 24.4.2008 und der Einspruchsentscheidung vom 24.4.2008, soweit diese den Zeitraum November 2005 bis April 2007 und die Ablehnung einer monatlichen Zahlung über 77 € hinaus betreffen, wird die Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger ist polnischer Staatsbürger und in Deutschland als selbständiger ... tätig. Sein Gewerbe hat er in Deutschland am 3.11.2004 angemeldet (Bl. 39 der KiG-Akte). Er wohnt seit dem 28.10.2004 in L (Anmeldebestätigung der Stadt L, Bl. 40 KiG-Akte).

Im Jahr 2006 beantragte der Kläger Kindergeld für seine in Polen bei seiner Ehefrau lebende am 1.7.1988 geborene Tochter B. Nach seinem Kindergeldantrag befindet sich das Kind in der Zeit von 2004 bis 2007 in Schul- oder Berufsausbildung. Dem Kindergeldantrag fügte der Kläger das Formular E 411 bei (Bl. 8 KiG-Akte). Hiernach wurden für das Kind für den Zeitraum Oktober 2004 bis Oktober 2005 monatliche polnische Familienleistungen in Höhe von 43 und 90 Zloty gezahlt. Weiterhin fügte der Kläger ein polnisches Schreiben vom 4.1.2006 bei (Bl. 7 KiG-Akte). Nach der Übersetzung (Bl. 9 der KiG-Akte) wird hierin bescheinigt, dass die Mutter des Kindes am 3.11.2005 in Polen einen schriftlichen Verzicht auf die Familienbeihilfe für die Tochter B "mit der Erklärung eingelegt (habe), dass die Tochter auf den Unterricht verzichtet hat. Aufgrund des obigen (sei) die weitere Auszahlung der Leistung gemäß polnischer Gesetzgebung eingestellt" worden.

Mit Bescheid vom 22.5.2006 lehnte die Beklagte zunächst den Antrag auf Kindergeld ab (Bl. 16, 17 der KiG-Akte). Auf die Begründung im Bescheid wird im Einzelnen verwiesen. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein.

Während des Einspruchverfahrens legte der Kläger die Formulare E 401 und E 402 vor, sowie eine Bescheinigung über die Erwerbstätigkeit der Ehefrau für die Zeit 25.5.2007 bis 10.6.2008. Des Weiteren erklärte der Kläger, dass er nicht der deutschen Sozialversicherung unterliege. Hierfür legte er eine Bescheinigung der ZUS in Polen vor (Bl. 22 der KiG-Akte). Für die Absicherung des Alters habe er eine private Lebensversicherung abgeschlossen. Des Weiteren teilte er mit, dass er für die Zeit März 2006 bis März 2007 in Polen krankenversichert gewesen sei und ab dem 1.4.2007 bei der H Versicherung AG in L eine Krankenversicherung abgeschlossen habe.

Mit Schreiben vom 18.6.2007 teilte der Kläger zudem mit, dass seine Tochter in diesem Monat Abitur mache und anschließend studieren werde (Bl. 26 der KiG-Akte).

Nach Aktenlage unter Heranziehung der nicht übersetzten Anlagen E 401 und E 402 stellte sich für die Familienkasse der Sachverhalt wie folgt dar (Bl. 47 KiG-Akte):

Zeitraum 10/2004 bis 10/2005 Kläger hat polnische Familienleistungen erhalten

Zeitraum 11/2005 bis 04/2007 Kläger hat keine polnischen Familienleistungen erhalten

Zeitraum 05/2007 bis 06/2008 Kläger hat keine polnischen Familienleistungen erhalten, Ehefrau war in diesem Zeitraum erwerbstätig

Aufgrund dieses Sachverhalts erließ die Beklagte am 24.4.2008 einen Änderungsbescheid. Hiernach wurde dem Kläger Kindergeld für die Tochter B für die Zeit von Oktober 2004 bis April 2007 in Höhe von monatlich 77 € und für die Zeit von Mai 2007 bis Juni 2008 in Höhe von 154 € monatlich gewährt. Mit Einspruchsentscheidung vom 25.4.2008 wurde der Einspruch im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen. In ihrer Einspruchsentscheidung führte die Beklagte aus, dass der Einspruchsführer zwar die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfülle. Für das Kind bestehe aber zugleich auch ein Kindergeldanspruch in Polen. Die Konkurrenz der Ansprüche sei über Art. 10 DVO 574/72 und über Art. 12 VO 1408/71 und 7 DVO zu lösen. Auf die weitere Begründung der Einspruchsentscheidung wird verwiesen (Bl. 53 bis 57 der KiG-Akte).

Mit der Klage verfolgt der Kläger die Kindergeldzahlung in voller gesetzlicher Höhe (154 €) für den Zeitraum November 2005 bis April 2007 weiter.

Zur Begründung trägt er vor, dass für den Streitzeitraum in Polen kein Kindergeld bezogen worden sei. In diesem Zeitraum sei die Ehefrau auch nicht erwerbstätig gewesen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Änderungsbescheids vom 24.4.2008 und der Einspruchsentscheidung vom 25.4.2008 soweit diese den Zeitraum November 2005 bis April 2007 und die Ablehnung einer Zahlung über monatlich 77 € hinaus betreffen, die Beklagte zu verpflichten, über den Anspruch auf Kindergeld unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zwar habe der Kläger seit Oktober 2004 grundsätzlich einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG, da er in Deutschland seinen Wohnsitz habe und seine Tochter in einem Mitgliedstaat der EU wohne. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger in Deutschland lebe, die Kindesmutter ihren Wohnsitz in Polen habe und dort im Zeitraum Oktober 2004 bis April 2007 nicht erwerbstätig gewesen sei, würden allerdings die nationalen Ansprüche zweier Staaten auf Festsetzung von Kindergeld bzw. Familienleistungen aufeinander treffen. Diese Konkurrenzsituation sei anhand der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 i.V.m. DVO Nr. 574/72 zu beurteilen. Wie in der Einspruchsentscheidung ausgeführt, seien die Konkurrenzregelungen der Art. 76 - 79 und des Art. 10 DVO nicht anwendbar. Gemäß DA-FamEStG 206.1. Abs. 6 sei die Anspruchskonkurrenz in einem solchen Fall nach Art. 12 Abs. 2 VO i.V.m. Art. 7 Abs. 1 DVO zu lösen. Somit sei im Rahmen des Halbteilungsverfahrens Kindergeld in Höhe von 77 € zu gewähren.

Die Beklagte weist zudem darauf hin, dass ihrer Meinung nach die Ehefrau des Klägers einen polnischen Kindergeldanspruch habe, da sie auf diesen verzichtet habe (Bl. 9 der KiG-Akte). Einen Verzicht setze einen bestehenden Anspruch voraus.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet, soweit sich der Kläger dagegen wendet, dass die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld in Höhe von 154 € mit der Begründung abgelehnt hat, dass nur ein hälftiger Anspruch gemäß Art. 12 Abs. 2 VO (EWG) 1408/71 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 DVO (EWG) 574/72 bestehe. Insoweit ist der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).

Das Gericht ist nicht verpflichtet, bis zur Spruchreife aufzuklären, ob dem Kläger nach inländischem Recht ein Kindergeldanspruch in gesetzlicher Höhe (154 €) zusteht. Es darf sich vielmehr darauf beschränken, die von der Beklagten für die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung über einen monatlichen Betrag von 77 € angeführten Gründe auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen (BFH-Urteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BStBl II 2006, 184). Das Gericht macht von dieser Befugnis Gebrauch, weil es weiterer Aufklärung bedarf, ob der Kläger bzw. seine Ehefrau für den Streitzeitraum einen ausländischen Anspruch auf Kindergeld hatte und und auf diesen verzichtet wurde oder, ob ein Anspruch nicht bestand. Die Beantwortung dieser Frage ist entscheidungserheblich.

Danach waren lediglich der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung in der tenorierten Form aufzuheben.

Das Gericht ist der Auffassung, dass die Beklagte die Frage der Gewährung von deutschem Kindergeld ausgehend von den Regelungen des Einkommensteuergesetzes zu prüfen hat und lediglich in diesem Zusammenhang die Frage zu klären ist, ob der Kindergeldanspruch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist.

1. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dass der Kläger diese Voraussetzung im Streitzeitraum erfüllt, ist nicht streitig.

2. Die Tochter B ist auch nach § 63 EStG i.V. mit § 32 EStG als Kind berücksichtigungsfähig. Sie hat ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG), ist leibliches Kind des Klägers i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG und hat im Streitzeitraum teilweise das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet bzw. befindet sich in Berufsausbildung (bis Juni 2007 Schulausbildung). Der Senat geht davon aus, dass die Beklagte die weiteren Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung nach dem Eintritt der Volljährigkeit geprüft hat (Einkünftegrenze), da sie dem Kläger für diesen Zeitraum hälftiges Kindergeld zugesprochen hat.

3. Ausgeschlossen könnte der Kindergeldanspruch jedoch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sein. Dieser wird auch nicht durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt.

Gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG wird Kindergeld nicht gezahlt, wenn für das Kind Leistungen im Ausland gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.

§ 65 EStG findet aber nur dann Anwendung, wenn die Vorschriften der vorrangig anwendbaren VO (EWG) 1408/71 nicht eingreifen. Ein Anwendungsvorrang ist vorliegend ausgeschlossen, da der Kläger nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der VO fällt.

a. Die VO gilt grundsätzlich auch für Selbständige (Art. 1 Buchstabe a, Art. 2 und Art. 73 der EU-VO Nr. 1408/71), die gegen mindestens ein Risiko der Sozialversicherung versichert sind. Die Mitgliedstaaten haben aber in Anhang I zu der VO den persönlichen Geltungsbereich für Selbständige i.S. von Art. 1 Buchst. a der VO näher geregelt. In Anhang I Teil I. unter E. Buchstabe b) wird ausgeführt, dass wenn ein deutscher Träger für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, als Selbständiger nur gilt, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- und beitragspflichtig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.

Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht.

aa. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass die Regelung in Anhang I Teil I den allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 ausschließt (FG Düsseldorf Urteile vom 11. Februar 2008, 10 K 2579/06 Kg und vom 2. Januar 2008 14 K 2546/07 Kg [...] ; FG München Urteil vom 28. Februar 2008, 5 K 1582/06 [...]; FG Baden-Württemberg Urteil vom 18. November 2008, 4 K 4293/08 [...] mwN). Hier nach schließt die VO -mangels Eröffnung des Anwendungsbereichs - die Anwendbarkeit des § 65 EStG nicht aus.

bb. Soweit die Ansicht vertreten wird, dass die Vorschrift keine Einschränkung des allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 darstellt sondern lediglich eine Einschränkung ihres persönlichen Anwendungsbereichs hinsichtlich der Familienleistungen (FG Düsseldorf Urteil 22. Dezember 2008 10 K 404/08 Kg, www.fg-duesseldorf.nrw.de), verdrängt die Vorschrift ebenfalls nicht die Anwendbarkeit des § 65 EStG, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen des Anhang I Teil I Buchstabe E VO 1408/71 nicht erfüllt.

Nach dem somit maßgeblichen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wäre der Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld nach dem EStG ausgeschlossen, wenn und soweit dem Kläger oder seiner Ehefrau in Polen Leistungen gewährt wurden bzw. bei entsprechender Antragstellung zu gewähren gewesen wären, die dem Kindergeld vergleichbar sind.

b. Die Frage lässt sich zur Zeit nicht abschließend klären.

Nach dem teilweise übersetzten Formular E 411 und der Mitteilung des polnischen Landratsamts (Bl. 9 der KiG-Akte) soll die Ehefrau einen schriftlichen Verzicht erklärt haben, weil die Tochter auf den Unterricht verzichtet habe. Das Gericht kann dieser Mitteilung nicht ohne weitere Angaben des Landratsamts bzw. der zuständigen polnischen Behörden entnehmen, ob die Familienleistungen ohne den Verzicht der Ehefrau des Klägers weitergewährt worden wären oder bei entsprechender Antragstellung zu gewähren wären. Es stellt sich auch die Frage, was der Verzicht der Tochter auf den "Unterricht" bedeutet. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, ob es sich bei dem "Verzicht" auf "Familienbeihilfe" um Leistungen nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG gehandelt hat. Des Weiteren ist auch nicht eindeutig, auf welchen monatlichen Betrag verzichtet worden ist. Gegebenenfalls ist die Aussage des BVerfG, dass bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen die funktionelle Vergleichbarkeit entfallen könnte (vgl. Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 142 unter C.II.3.b) aa) (1)(a) letzter Satz) zu berücksichtigen. Insoweit muss auch die Höhe des Leistungsanspruchs festgestellt werden, auf den gegebenenfalls verzichtet worden ist.

aa. Sollte sich ergeben, dass die Ehefrau des Klägers auf vergleichbare Familienleistungen in Polen für ihre Tochter verzichtet hat, so wäre der inländische Anspruch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.

bb. Sollte sich hingegen ergeben, dass dem Kläger bzw. seiner Ehefrau kein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen in Polen im Streitzeitraum zugestanden hat, so kann die Festsetzung von Kindergeld in Höhe der Hälfte des gesetzlich vorgesehenen Betrags auch nicht auf Art. 12 Abs. 2 der VO 1408/71 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 der DVO 574/72 gestützt werden. Denn diese Vorschriften würden voraussetzen, dass aufgrund des Zusammentreffens von Leistungsansprüchen verschiedener EU-Staaten eine Leistungskürzung oder ein Leistungsausschluss in den betreffenden Staaten gedroht hätte (FG Düsseldorf Urteil vom 22. Januar 2008 10 K 1462/07 Kg, EFG 2008, 695).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

5. Zur Fortbildung des Rechts wird die Revision zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).

Ende der Entscheidung

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