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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 17.09.2009
Aktenzeichen: 5 K 2158/08
Rechtsgebiete: AufenthG, EStG


Vorschriften:

AufenthG § 25 Abs. 3
EStG § 62 Abs. 2
EStG § 62 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In der Streitsache

...

hat der 5. Senat des Finanzgerichts München

ohne mündliche Verhandlung

am 17. September 2009

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Streitig ist der Anspruch auf Kindergeld für eine erwerbsunfähige äthiopische Staatsangehörige, die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ist.

Die Klägerin hält sich seit Juni 2003 mit ihrem am 16. Juli 2000 geborenen Sohn S in Deutschland auf und ist ausweislich des vorgelegten Aufenthaltstitels seit 6. November 2007, nach ihrer Behauptung bereits seit 16. Oktober 2007, im Besitz einer bis zum 15. Oktober 2008 befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Im Oktober 2007 bezog die Klägerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), ab November 2007 bis Januar 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und ab Februar 2008 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Nach dem ärztlichen Gutachten des Referates für Gesundheit und Umwelt der Stadt M vom 18. Dezember 2007 ist die Klägerin auf Dauer, d.h. voraussichtlich länger als sechs Monate, erwerbsunfähig; eine Nachuntersuchung wurde erst nach Ablauf von 18 Monaten empfohlen.

Mit Bescheid vom (...) 2008 lehnte die Beklagte (die Familienkasse) die Gewährung von Kindergeld ab, weil die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht vorlägen.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren eingelegte Klage begründet die Klägerin im Wesentlichen wie folgt:

Da sie zwar zur Erwerbstätigkeit berechtigt, aber erwerbsunfähig sei, seien die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG, wonach ein Anspruch auf Kindergeld nur im Falle der Erwerbstätigkeit, des Bezugs von Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) oder der Inanspruchnahme von Elternzeit bestehe, wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz verfassungswidrig. Maßgeblich sei nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Dezember 2004, ob sich ein Ausländer voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, was bei ihr der Fall sei. Die Erwerbsunfähigkeit hindere die Integration nicht.

Ein Anspruch auf Kindergeld ergebe sich weiter aus Art. 28 bzw. Art. 26 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie). Bei der Klägerin sei im September 2007 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt worden, sodass sie subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie genieße. Das Kindergeld habe nicht nur steuerrechtlichen Charakter, sondern enthalte nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) auch soziale Elemente. Dementsprechend sei es als Sozialhilfeleistung i. S. der Qualifikationsrichtlinie anzusehen, die im Gegensatz zu dem Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge (verkündet mit Gesetz vom 1. September 1953; Genfer Konvention) keinen Vorbehalt hinsichtlich ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestrittener Leistungen kenne. Da das Kindergeld zu den Kernleistungen der Sozialleistungen zähle, verstoße die Versagung von Kindergeld wegen Erwerbsunfähigkeit der Klägerin gegen Art. 28 der Qualifikationsrichtlinie.

Weiterer Anknüpfungspunkt für den Kindergeldanspruch sei Art. 26 der Qualifikationsrichtlinie, der in Abs. 5 den Zugang zu Systemen der sozialen Sicherheit im Rahmen der abhängigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit eröffne. Ein erwerbsunfähiger Deutscher erhalte im Gegensatz zu der Klägerin nach den Bestimmungen des deutschen Rechts Kindergeld. Damit widerspreche das deutsche System den Vorgaben der Europäischen Union.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Ablehnungsbescheid vom (...) sowie die Einspruchsentscheidung vom (...) aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Zeitraum von Oktober 2007 bis einschließlich Juni 2008 zu gewähren.

Die Familienkasse beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist darauf, dass es sich bei dem steuerrechtlichen Kindergeld nicht um eine Sozialleistung, sondern um eine Leistung handle, die dem Steuerrecht zuzuordnen sei, und deshalb nicht vom Regelungsbereich des Art. 28 der Qualifikationsrichtlinie umfasst werde. Art. 2 des Zusatzprotokolls zu dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss des Systems für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953, das auch die Leistung Kindergeld umfasse, zeige, dass nur diejenigen, denen später der Rechtsstatus des anerkannten Asylberechtigten zuerkannt worden sei, dieselben Leistungen wie Bürger des Mitgliedsstaates erhalten sollten. Bei nicht anerkannten Asylberechtigten müssten hingegen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Bestimmung bestünden nach der Rechtsprechung des BFH nicht.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die Klage ist unbegründet, da der Klägerin im Streitzeitraum weder nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c i.V.m. Nr. 3 EStG, der keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, noch nach den Regelungen der Qualifikationsrichtlinie ein Anspruch auf Kindergeld zusteht.

1. Nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c i.V.m. Nr. 3 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, der - wie die Klägerin - eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt, Kindergeld nur, wenn er sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem SGB III bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt. Diese Voraussetzungen lagen im Streitzeitraum nicht vor, da die Klägerin sich zwar seit mehr als drei Jahren im Bundesgebiet aufhält, im Streitzeitraum jedoch weder erwerbstätig war, noch Elternzeit in Anspruch nahm, und Leistungen zwar nach dem AsylbLG, dem SGB II, bzw. dem SGB XII, nicht aber dem SGB III bezog.

2. Nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, ist die Regelung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c i.V.m. Nr. 3 EStG verfassungsgemäß, und zwar auch in Fällen erwerbsunfähiger Kindergeldberechtigter (BFH-Urteil vom 22. November 2007 III R 54/02, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2008, 457).

In letzterer Entscheidung, im Urteil vom 22. November 2007 III R 60/99 (BFH/NV 2008, 846) sowie im Urteil vom 21. Februar 2008 III R 79/03 (BFH/NV 2008, 1036) hat der BFH auch verdeutlicht, dass er die im Vorlagebeschluss des Finanzgerichts Köln geäußerten Bedenken, auf die sich die Klägerin beruft, nicht teilt.

Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gebietet es nicht, in Fällen, in denen ein Ausländer rechtmäßig oder rechtswidrig in die Bundesrepublik einreist und - z.B. wegen eines tatsächlichen Abschiebungshindernisses - damit zu rechnen ist, dass er auf absehbare Zeit nicht mehr ausreist, von Anfang an oder nach einer gewissen Zeit Kindergeld zu gewähren, weil von einem Daueraufenthalt auszugehen sei. Vielmehr kann bei der nach dem BVerfG-Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) anzustellenden Prognose über die Dauer des Aufenthalts zunächst erwartet werden, dass ein Ausländer, der eine Erlaubnis nach § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erhalten hat, nach Wegfall der Gründe, die einer Rückkehr in sein Herkunftsland entgegengestanden waren, wieder heimkehrt. Der Gesetzgeber handelte verfassungskonform und im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums, als er typisierend gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG einen Daueraufenthalt erst bei einem mindestens dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und bei Integration in den Arbeitsmarkt unterstellte. Nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers bietet eine derartige Integration eine Perspektive für einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2008, 457). Aus welchen Gründen die Integration in den Arbeitsmarkt nicht erfolgt, ist bei zulässiger Weise typisierender Betrachtung nicht von Bedeutung, sodass § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG entgegen der klägerischen Auffassung auch in Fällen der Erwerbsunfähigkeit nicht verfassungskonform anderweitig auszulegen ist.

3. Die Klägerin hat im Streitzeitraum auch keinen Anspruch auf Kindergeld aufgrund unmittelbarer Anwendung des Art. 28 bzw. des Art. 26 Abs. 5 der Qualifikationsrichtlinie.

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) können in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, diese Bestimmungen gegenüber allen nicht richtlinienkonformen nationalen Vorschriften herangezogen werden (EuGH-Urteil vom 30. April 1996 C-194/94, Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-2201, Rn. 42 mit weiteren Nachweisen - m. w. N -).

a) Nach Art. 28 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der die jeweilige Rechtsstellung gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaates erhalten. Abweichend von der allgemeinen Regel nach Absatz 1 können die Mitgliedstaaten nach Art. 28 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist - wie der Klägerin durch Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG -, auf Kernleistungen beschränken, die sie im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige gewähren.

Das nach dem EStG zu gewährende Kindergeld stellt jedoch nach Auffassung des erkennenden Senats keine Sozialhilfe im Sinne der Richtlinie dar. Dies folgt zwar nicht allein daraus, dass der Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff EStG im Einkommensteuergesetz geregelt ist, da dem Kindergeld - soweit es der Förderung der Familie dient - auch eine sozialrechtliche Funktion zukommt (BFH-Urteil vom 25. Oktober 2007 III R 90/03, BFH/NV 2008, 286, m.w. N.). Der Begriff der "Sozialhilfe" ist vielmehr nach den Grundsätzen des Europarechts auszulegen. Danach zeichnet sich die Sozialhilfe dadurch aus, dass das Merkmal der Bedürftigkeit wesentliche persönliche Anspruchsvoraussetzung ist, wohingegen Leistungen, die keine Beurteilung nach dem Einzelfall vorsehen, nicht unter die Sozialhilfe fallen (vgl. EuGH-Urteil vom 5. Mai 1983 C-139/82, Sammlung der Rechtsprechung 1983, 1427, Rn. 11). Das Kindergeld wird jedoch nach §§ 62 ff EStG unabhängig davon gewährt, ob der Anspruchsberechtigte bedürftig ist oder nicht (vgl. auch Urteil des Finanzgerichts - FG - Münster vom 23. Oktober 2008, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2009, 133; Revision wurde eingelegt, Az. des BFH: III R 90/08).

Selbst wenn das Kindergeld abweichend von dieser Auffassung als "Sozialhilfe" in diesem Sinne anzusehen sein sollte, stellen die in § 62 Abs. 2 EStG normierten zusätzlichen Voraussetzungen eine zulässige Beschränkung auf Kernleistungen für Personen mit subsidiärem Schutzstatus gemäß Art. 28 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie dar. Nach der Richtlinie soll sichergestellt werden, dass Personen, die tatsächlich Schutz benötigen, ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird (vgl. Erwägungsgrund 6 der Qualifikationsrichtlinie). Die Möglichkeit der Einschränkung von Leistungen bei der Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen, ist nach dem Erwägungsgrund 34 der Qualifikationsrichtlinie so zu verstehen, dass dieser Begriff ein Mindesteinkommen und Unterstützung u.a. bei Krankheit und Elternschaft umfasst. Diese Unterstützungsleistungen werden aber bereits durch die Leistungen nach dem AsylbLG, dem SGB II und dem SGB XII abgedeckt, die auch der Klägerin und ihrem Sohn zustehen, und von ihr und ihrem Sohn im streitigen Zeitraum in Anspruch genommen wurden (vgl. FG Münster in EFG 2009, 133).

b) Art. 26 der Qualifikationsrichtlinie befasst sich entsprechend seiner Überschrift mit dem Zugang zur Beschäftigung. Art. 26 Abs. 5 der Qualifikationsrichtlinie besagt, dass die in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtsvorschriften über das Arbeitsentgelt, den Zugang zu Systemen der sozialen Sicherheit im Rahmen der abhängigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit sowie sonstige Beschäftigungsbedingungen Anwendung finden.

Kindergeld nach §§ 62 ff EStG wird jedoch weder auf der Grundlage von Rechtsvorschriften über das Arbeitsentgelt, noch in Zusammenhang mit sonstigen Beschäftigungsbedingungen, noch auf der Grundlage eines Systems der sozialen Sicherheit im Rahmen einer abhängigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit gewährt. Auch wenn nach § 62 Abs. 2 EStG in Fällen wie dem der Klägerin entweder berechtigte Erwerbstätigkeit, Bezug von Leistungen nach dem SGB III oder Inanspruchnahme von Elternzeit als Zeichen für die Integration des Kindergeldberechtigten in den Arbeitsmarkt und damit als Indiz für einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik vorausgesetzt wird, besteht allein deshalb noch kein Bezug der Kindergeldregelungen zu Regelungen über den Zugang zum Arbeitsmarkt bzw. über das System der sozialen Sicherheit im Rahmen einer Erwerbstätigkeit.

Daher kann der Anspruch auf Kindergeld auch nicht aus Art. 26 Abs. 5 der Qualifikationsrichtlinie hergeleitet werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf § 90 Abs. 2 FGO und die Zulassung der Revision auf § 115 Abs. 2 FGO.

Ende der Entscheidung

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