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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 09.05.2007
Aktenzeichen: 1 K 1324/07
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG


Vorschriften:

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 32 Abs. 6 S. 6
EStG § 32 Abs. 6 S. 6 2. Hs.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München

1 K 1324/07

In der Streitsache

...

hat der 1. Senat des Finanzgerichts München

unter Mitwirkung

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 09. Mai 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I. Streitig ist, ob der Beklagte - das Finanzamt (FA) - zu einer Änderung des Steuerbescheides berechtigt war und hierbei gegen den Willen des Klägers den Betreuungsfreibetrag beim anderen Elternteil, jedoch nicht mehr beim Kläger berücksichtigen durfte.

Der in I wohnende Kläger ist seit dem 31. März 2002 von seiner früheren Ehefrau geschieden und wird für das Streitjahr 2004 zur Einkommensteuer (ESt) einzeln veranlagt.

In seiner ESt-Erklärung für das Streitjahr gab der Kläger in der Anlage "Kind" für die 1994 und 1998 geborenen Kinder an, es habe ein Kindergeldanspruch bestanden. Die Anschrift der Kinder gab er mit "Oxxxxxxx " an, dem Wohnort auch von deren Mutter.

Das FA veranlagte zunächst unter Übernahme der erklärten Angaben und berücksichtigte für die zwei Kinder Freibeträge in Höhe von je 2.904 EUR (ESt-Bescheid für 2004 vom 15. September 2005). Ein Antrag auf Übertragung des Freibetrags war dem FA bei der Veranlagung nicht bekannt. In den "Dauerunterlagen" befand sich hierzu keinerlei Hinweis. Im ESt- Bescheid für das Vorjahr 2003 wurde in der Veranlagung des Klägers je Kind ein Freibetrag in Höhe von 2.904 EUR berücksichtigt, so dass sich auch hieraus kein Hinweis auf eine Übertragung ergab.

Am 7. Oktober 2005 ging beim FA eine schriftliche Mitteilung des Finanzamts E vom 4. Oktober 2005 ein, wonach der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf für die beiden Kinder auf den beim Finanzamt E geführten antragstellenden Elternteil übertragen worden sei, weil die Kinder nicht in der Wohnung des anderen Elternteils (Anmerkung: des Klägers) gemeldet seien. Das FA bat daraufhin den Kläger mit Schreiben vom 14. Oktober 2005 um einen Rückruf. In der Notiz über das Telefonat vom 20. Oktober 2005, in dem die Sach- und Rechtslage erörtert wurde, notierte sich der Bearbeiter, dass die Kinder nicht beim Kläger gemeldet seien. Das FA änderte unter dem 3. November 2005 den ESt-Bescheid für das Streitjahr unter Berufung auf die Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und berücksichtigte für die Kinder nur noch Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 Satz 1, 1. Alternative des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von je 1.824 EUR -also ohne den Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf in Höhe von 1.080 EUR je Kind.

Hiergegen richtete der Kläger seinen Einspruch (Schreiben vom 14. November 2005). Die Voraussetzungen der angegebenen Änderungsnorm seien nicht gegeben. In seiner Erwiderung vom 24. November 2005 stützte das FA die Änderung auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis). Im Bescheid sei irrtümlich § 173 AO genannt worden. Daraufhin gab der Kläger mit Schreiben vom 20. Dezember 2005 seiner Auffassung Ausdruck, auch die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO seien nicht erfüllt, worauf das FA mit Schreiben vom 16. Januar 2006 seine rechtliche Beurteilung ausführlich erläuterte. Nach der weiteren Gegenäußerung des Klägers unter dem 18. Januar 2006 wies das FA in der Einspruchsentscheidung (EE) vom 26. Januar 2006 den Einspruch als unbegründet zurück.

Mit seiner Klage (Schriftsätze vom 21. Februar 2006 und vom 13. Dezember 2006) trägt der Kläger vor, das FA dürfe nicht eine andere Änderungsnorm "nachschieben". Weder die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO noch die des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO seien gegeben. Die Ehefrau habe bereits in den Vorjahren die Übertragung des Kinderfreibetrages beantragt, weshalb dem FA alle Tatsachen bekannt gewesen seien und auch kein rückwirkendes steuerliches Ereignis vorgelegen habe. Im Übrigen sei die zwangsweise Übertragung des Freibetrages auf den anderen Elternteil verfassungswidrig.

Der Kläger beantragt,

den ESt-Änderungsbescheid für 2004 vom 3. November 2005 und die hierzu ergangene EE vom 26. Januar 2006 aufzuheben, so dass der vorherige Bescheid vom 15. September 2005 wieder in Kraft tritt;

hilfsweise:

die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung.

Wegen der weiteren Rechtsausführungen der Beteiligten im Einzelnen wird auf die genannten Schriftsätze sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Auf Antrag des Klägers und im Einvernehmen mit dem FA ordnete der Senat mit Beschluss vom 25. April 2006 das Ruhen des Klageverfahrens im Hinblick auf die Anhängigkeit der Rechtsfrage der "Übertragung wider Willen" beim Bundesfinanzhof (BFH) an. Nach Entscheidung des BFH wurde das Verfahren am 19. April 2007 wieder aufgenommen.

II. Die Klage ist nicht begründet.

1. Das Finanzamt war zu einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigt. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen. Als Tatsache in diesem Sinne ist alles zu verstehen, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also -entscheidungsrelevante - Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller und immaterieller Art; Vorgänge der Seinswelt im Gegensatz zu Elementen des Schlussfolgerns, des Subsumierens, des Wertens und Beurteilens (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Finanzgerichtsordnung [FGO], § 173 AO, Rz. 66 m.w.N.; z.B. BFH-Urteile vom 3. Juli 2002 XI R 17/01, BFH/NV 2003, 137; vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569). Im Streitfall ist der Umstand, dass die Mutter der Kinder einen Antrag auf Übertragung des Freibetrages für den Betreuungs-und Erziehungs-oder Ausbildungsbedarf nach § 32 Abs. 6 Satz 6, 2. Halbsatz EStG gestellt hat, eine solche Tatsache. Die Antragstellung ist ein Vorgang der Seinswelt, der gesetzliches Tatbestandsmerkmal für die Übertragung des Freibetrages entgegen der gesetzlichen Regelanordnung ist. Dieser Antrag wurde nach dem Vortrag des Klägers vor der abschließenden Zeichnung der Veranlagung des Klägers am 15. September 2005 gestellt, war als Tatsache also bereits bei Bescheiderlass vorhanden, wurde jedoch dem FA erst danach durch die Mitteilung des Finanzamts E bekannt. Vgl. hierzu das Urteil des BFH vom 18. Mai 2006 III R 71/04, BFHE 214, 120, in dem der BFH ohne ausdrückliches Eingehen auf die Änderungsnorm von einer Änderbarkeit nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ausgeht.

Auch wenn der Antrag der Kindesmutter erst später gestellt worden sein sollte, wäre im Streitfall eine Änderung möglich, weil dann die Voraussetzungen der Änderungsvorschrift des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 AO gegeben wären. Somit kann letztlich dahinstehen, wann genau der Antrag der Kindesmutter gestellt wurde. Wäre er nach dem 15. September 2005 gestellt worden, so wäre dieser als rückwirkendes steuerliches Ereignis zu beurteilen. Der Antrag wirkt in diesem Falle unmittelbar rechtsgestaltend auf die Steuerschuld nachträglich ein, indem er die Anrechnung des entsprechenden Betrages bei einem anderen Steuerpflichtigen bewirkt. Er folgt der Tatbestandsverwirklichung -dem Eltern-Kind-Verhältnis während des Veranlagungszeitraums -zeitlich nach und wirkt somit auf den Steueranspruch, wie er ohne die Berücksichtigung des Freibetrags des anderen Elternteils bei dem Steuerpflichtigen schon entstanden ist, zurück (§ 38 AO 1977 i.V.m. § 36 Abs.1 EStG; vgl. BFH-Urteil vom 10. Oktober 1996 III R 94/93, BFHE 181, 458, zur Übertragung des Kinderfreibetrages). Keine rechtliche Auswirkung hat es in diesem Zusammenhang, dass das FA im Laufe des Einspruchsverfahrens auf die Kritik des Klägers von seiner zunächst durch Angabe im Bescheid kundgegebenen Auffassung, die Änderung sei nach § 173 AO gerechtfertigt, abgewichen ist und nunmehr die Änderung auf § 175 AO gestützt hat. Der Kläger konnte sich zu beiden Vorschriften äußern und hat insoweit sein rechtliches Gehör erhalten. Im Übrigen ist die Angabe einer falschen Änderungsvorschrift unschädlich, sofern nur die Änderung durch den Tatbestand einer Änderungsvorschrift materiell gedeckt ist (vgl. § 127 AO; ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 25. November 1980 VIII R 32/77, BFHE 132, 425, BStBl II 1981, 419; Beschluss vom 16. August 1995 VIII B 156/94, BFH/NV 1996, 125, m.w.N.).

Ohne rechtliche Bedeutung ist nach dem Vorstehenden der Einwand des Klägers, dem FA habe bei der Veranlagung bereits der Antrag aus den Vorjahren vorgelegen. Nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung ist der Antrag für jedes Jahr gesondert zu stellen. Das Gericht folgt den insoweit zutreffenden Ausführungen der EE, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird (§ 105 Abs. 5 FGO). Im Übrigen war vom Kläger im Vorjahr lediglich der hälftige Freibetrag beantragt und berücksichtigt worden. Ein etwaiger Antrag der Kindesmutter auf Übertragung des Betreuungsfreibetrages im Vorjahr war dem FA nicht bekannt.

2. Die Berücksichtigung des Antrags der Kindesmutter auf Übertragung des Freibetrages führte auch zu einer höheren Steuer (§ 173 Abs. 1 Satz Nr. 1 AO). Das FA hat zutreffend bei der Veranlagung des Klägers keinen Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf berücksichtigt und die Steuer entsprechend höher festgesetzt.

Nach § 32 Abs. 6 Satz 6, 2. Halbsatz EStG wird bei minderjährigen Kindern - um solche handelt es sich im Streitfall - der dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind nicht gemeldet ist, zustehende Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf auf Antrag des anderen Elternteils auf diesen übertragen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall unstreitig gegeben. Die Kindesmutter hat einen Antrag beim für sie zuständigen Wohnsitzfinanzamt gestellt. Die Kinder waren bei ihr und nicht beim Kläger gemeldet.

Der Senat hegt keine verfassungsrechtlichen Zweifel an der Norm, die für die Übertragung alleine auf den Antrag desjenigen Elternteils abstellt, bei dem das Kind gemeldet ist. Auch mit dem Abstellen alleine auf die melderechtliche Sachlage hat der Gesetzgeber nicht seinen Typisierungsspielraum überschritten. Der BFH hat ebenso für den Freibetrag (Gesetzesfassung 2000) entschieden, der nur den Betreuungsaufwand der Eltern abdecken sollte (vgl. BFH-Urteil vom 18. Mai 2006 III R 71/04, BFHE 214, 120). Auch wenn der BFH in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass er nur über den damaligen reinen Betreuungsfreibetrag zu entscheiden hatte und nicht zur Frage des - hier streitgegenständlichen - kombinierten Freibetrag für Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf, gelten die wesentlichen Urteilsgründe auch für diesen. Denn mit der geänderten Bezeichnung für den Freibetrag ist keine wesentlich andere Zielsetzung verbunden. Die weitere Bezeichnung sollte lediglich Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden, die bei einer isolierten begrifflichen Beschränkung auf den "Betreuungsbedarf" auftreten könnten. Dass alter wie neuer Freibetrag letztlich dieselbe Minderung der Leistungsfähigkeit im Auge haben, belegt auch der nur geringe Unterschied in der Höhe: Früher 1.512 DM, nunmehr 1.080 EUR. Die leichte Erhöhung ergibt sich im Wesentlichen aus der Anpassung an die schleichende Geldentwertung.

3. Die Revision wird zugelassen, weil die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Das in dem bereits erwähnten Urteil des BFH vom 18. Mai 2006 (III R 71/04, BFHE 214, 120) nachgewiesene Schrifttum ist sich nicht einig in der Frage, ob die Anknüpfung an das Melderegister sich noch im Rahmen der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers bewegt. Eine höchstrichterliche Entscheidung dieser Frage steht noch aus.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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