Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 26.03.2008
Aktenzeichen: 10 K 1187/07
Rechtsgebiete: EStG, AO


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
EStG § 63 Abs. 1 S. 3
AO § 8
AO § 9 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München

10 K 1187/07

Kindergeld für R

In der Streitsache

hat das Finanzgericht München, 10. Senat,

durch

... als Einzelrichter

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. März 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Ablehnungsbescheide vom 29. Juni 2004 und 06. Dezember 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2007 werden insoweit aufgehoben, als für den Zeitraum Oktober 2003 bis März 2004 die Kindergeldfestsetzung abgelehnt wurde. Die Beklagte wird verpflichtet, für diesen Zeitraum Kindergeld festzusetzen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 85% und die Beklagte zu 15%.

4. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Gründe:

Streitig ist, ob ein Kindergeldanspruch für ein dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Elternteil entzogenes Kind besteht.

I. Der Kläger (Kl) ist der Vater der am ... 1997 geborenen R. Der Kl bezog für R bis einschließlich August 2001 Kindergeld. Anschließend wurde das Kindergeld zugunsten der Mutter der R festgesetzt, da diese das Kind --nach der Trennung vom Kl-- in ihren Haushalt aufgenommen hatte.

Die Ehegatten hatten zunächst das gemeinsame Sorgerecht für R. Mit Beschluss vom 08.07.03 wies das Amtsgericht X dem Kl das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu und erließ eine Herausgabeverfügung gegen die Mutter. Das OLG Y bestätigte diese Entscheidung durch Beschluss vom 04. September 2003. Mit bei der Beklagten (der Familienkasse --FK--) am 24. November 2003 eingegangenem Antrag begehrte der Kl das Kindergeld für R für sich.

Die FK lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29. Juni 2004 ab. Mit Antrag vom 26. Juli 2004, den der Kl zugleich als Widerspruch gegen den Bescheid vom 29. Juni 2004 bezeichnete, begehrte der Kl erneut Kindergeld. Diesen Antrag lehnte die FK mit Bescheid vom 06. Dezember 2004 ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die FK mit Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2007 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingereichte Klage. Zu deren Begründung macht der Kl im Wesentlichen geltend, dass ihm R von deren Mutter unrechtmäßig entzogen worden sei. Er habe seine Arbeits- und Haushaltssituation im Hinblick auf das ihm zugesprochene Aufenthaltsbestimmungsrecht eigens darauf eingestellt, dass R aufgenommen werden könne. Die Mutter habe dies jedoch vereitelt. Sie halte R an einem unbekannten Ort fest und werde von der Kriminalpolizei mit internationalem Haftbefehl gesucht. Trotz Abwesenheit der R habe er erhebliche Aufwendungen (Gutachtens- und Rechtsverfolgungskosten wegen Aufenthaltsbestimmungsprozess, Aufwendungen für Detektiv und Suchannoncen in der Zeitung, Verdiensteinbußen durch Reduzierung der Arbeitszeit, fortbestehende private Krankenversicherung für R).

Der Kl beantragt,

die FK unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 29. Juni 2004 und 06. Dezember 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2007 zu verpflichten, für den Zeitraum Oktober 2003 bis Februar 2007 Kindergeld zugunsten des Kl festzusetzen.

Die FK beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen darauf, dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen seien. Insbesondere könne nicht ausgeschlossen werden, dass R außerhalb der Europäischen Union (EU) lebe. Eine Entführung rechtfertige die Annahme einer fortbestehenden Haushaltsaufnahme nur, wenn das Kind im Zeitpunkt der Entführung noch im Haushalt des Berechtigten aufgenommen gewesen sei. Vorliegend sei R jedoch bereits im Zeitpunkt ihrer Entführung nicht im Haushalt des Kl sondern dem der Mutter gewesen.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf die Schriftsätze des Kl vom 22. März 2007, 30. August 2007, 01. November 2007 und 19. Februar 2008 sowie der FK vom 09. August 2007, 09. Oktober 2007 und 05. März 2008 samt jeweiligen Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 29. Februar 2008 dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (§ 6 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

II. 1. Die Klage ist teilweise begründet.

a) Der Kindergeldanspruch des Klägers scheitert für den Zeitraum Oktober 2003 bis März 2004 nicht am Fehlen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts der R im Inland. Für die Zeit von April 2004 bis Februar 2007 ist dagegen ein fortbestehender inländischer Wohnsitz nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen worden.

Da R leibliches Kind des Kl ist, wird für sie beim Kl nach § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) grundsätzlich ein Kindergeldanspruch begründet. § 63 Abs. 1 S. 3 EStG schließt jedoch einen Kindergeldanspruch für solche Kinder aus, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet.

Was unter Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt im Sinne des § 63 Abs. 1 S. 3 EStG zu verstehen ist, beurteilt sich nach den §§ 8, 9 Abgabenordnung (AO). Melderechtliche Normen sowie bürgerlich-rechtliche Vorschriften zur Begründung, Beibehaltung und Aufgabe eines Wohnsitzes sind für die Auslegung dieser Vorschriften unmaßgeblich (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. März 2002 VIII R 62/00, BFH/NV 2002, 1146 m.w.N.). Nach § 8 AO hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und be4 nutzen wird. Im Streitfall ist unstreitig, dass R bis September 2003 ihren Wohnsitz in der Wohnung ihrer Mutter im Inland hatte. Unstreitig und durch das Schreiben der Kriminalpolizeiinspektion Z vom 04. März 2005 bestätigt ist auch, dass nach den Umständen von einer im September 2003 erfolgten Entführung der R durch ihre Mutter auszugehen ist.

Die Aufgabe des Wohnsitzes im Inland ist vollzogen, sobald Umstände eingetreten sind, die erkennen lassen, dass die betreffende Person nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wird (BFH-Urteil in BFH/NV 2002, 1146, BFH-Urteil vom 19. März 2002 VIII R 52/01, BFH/NV 2002, 1148). Bei einer Auslandsreise kann dies der Zeitpunkt der Ausreise oder ein späterer Zeitpunkt sein, wenn sich die Person zunächst nur vorübergehend im Ausland aufgehalten hat. Die Feststellungslast zum Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Inland als tatbestandliche Voraussetzung für einen Kindergeldanspruch liegt beim Kindergeldberechtigten (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294).

Im vorliegenden Fall hat der Kl unstreitig jedenfalls ab Oktober 2003 geeignete Räumlichkeiten bereitgehalten, die der R für den Fall der erfolgreichen Rückführung zum Kl als Wohnung zur Verfügung standen.

Wo sich R nach der im September 2003 erfolgten Entführung durch die Mutter aufgehalten hat, lässt sich nach den Gesamtumständen des Falles nicht feststellen. Auch für den Fall, dass R sich außerhalb des in § 63 Abs. 1 S. 3 EStG genannten Gebiets aufgehalten haben sollte, geht das Gericht jedoch für eine Übergangszeit von sechs Monaten (Mitte September 2003 bis Mitte März 2004) davon aus, dass der Inlandswohnsitz aufrecht erhalten wurde. Der Kl hat als aufenthaltsbestimmungsberechtigter Elternteil zur Überzeugung des Gerichts unmittelbar nach Entziehung der R ernsthafte Bemühungen zur Rückführung des Kindes unternommen. Dies ergibt sich zum einen aus dem Schreiben der Kriminalpolizeiinspektion Z vom 04. März 2005 an die FK und den vom Kl vorgelegten Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 27. September 2005 und 02. Mai 2007, wonach gegen die Mutter ein Ermittlungsverfahren wegen Entziehung Minderjähriger eingeleitet wurde und weiterhin international nach der Mutter gefahndet wird. Zum anderen lässt sich aus den vorgelegten Rechnungen einer Detektei und den Annoncenrechnungen der H-Zeitung ableiten, dass der Kl unmittelbar nach dem Verschwinden der R auch umfangreiche eigene Suchbemühungen eingeleitet hat. Diese Rückführungsbemühungen waren aus damaliger Sicht auch nicht von vorneherein aussichtslos.

Allerdings muss in die weitere Prognose über die Beibehaltung des Inlandswohnsitzes der R auch der Umstand einbezogen werden, dass die Suchbemühungen nach dem Vortrag des Klägers zu keinen greifbaren Anhaltspunkten über den Aufenthalt der R führten. Die vom Kl vorgetragene Vermutung, dass sich Mutter und Kind in Obhut einer sekten5 ähnlichen Gruppierung im In- oder Ausland befänden, wurde nicht weiter substantiiert und ist daher auch nicht überprüfbar. Es ist für das Gericht nicht möglich, aus diesem Vortrag etwaige Rückführungschancen und deren zeitlichen Rahmen abzuleiten. Mangels solcher Anhaltspunkte greift das Gericht auf die in § 9 S. 2 Abgabenordnung zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung zurück, dass ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten nicht mehr nur vorübergehenden Charakter hat (vgl. auch BFH-Urteile vom 22. August 2007 III R 89/06, BFH/NV 2008, 351;vom 30. Oktober 2002 VIII R 86/00, BFH/NV 2003, 464; undvom 30. August 1989 I R 215/85, BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956).

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass sich die anzustellende Prognose nach Ablauf des Sechsmonatszeitraums wandelt. Ein zunächst nur als vorübergehend einzustufender Auslandsaufenthalt wird danach ohne Hinzutreten besondere Umstände zu einem dauerhaften Auslandsaufenthalt. Für das Vorliegen dieser besonderen Umstände, die über den Sechsmonatszeitraum hinaus ein Festhalten am Inlandswohnsitz rechtfertigen, trägt jedoch der Kl die Darlegungs- und Beweislast. Dass er für die Zeit ab April 2004 solche Umstände weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt hat, geht zu seinen Lasten. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Kl das ihm Mögliche getan hat, um Anhaltspunkte über den Aufenthaltsort der R zu gewinnen. Gleichwohl ist das Gericht gehalten bei Unaufklärbarkeit eines Sachverhalts eine Entscheidung nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu treffen.

b) Entgegen der Ansicht der FK wird der Kindergeldanspruch für die Monate Oktober 2003 bis März 2004 nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Kind im Zeitpunkt seiner Entführung nicht in den Haushalt des Kl, sondern den der Mutter aufgenommen war. Anders als bei Pflege-, Stief- und Enkelkindern ist bei leiblichen Kindern eine Haushaltaufnahme beim Elternteil nicht Anspruchsvoraussetzung (§ 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Vielmehr stellt die Haushaltsaufnahme eine Anspruchsvoraussetzung nur im Falle des Eingreifens der Konkurrenzregel des § 64 Abs. 2 EStG dar. Dies setzt aber das Vorhandensein mindestens eines weiteren Kindergeldberechtigten voraus. Die Mutter der R wäre jedoch nur dann kindergeldberechtigt gewesen, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststünde, dass sie im fraglichen Zeitraum ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) bzw. die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG vorlagen. Dies ist nach den Gesamtumständen des Falles jedoch nicht der Fall. Die vage Vermutung des Kl, Mutter und Kind könnten sich möglicherweise auch in einem Kloster der sektenähnlichen Gruppierung im Inland aufhalten, ist mangels substantiierter Anhaltspunkte nicht überprüfbar. Das Gericht kann daraus nicht zu seiner Überzeugung einen Inlandswohnsitz der Mutter ableiten. Anders als beim Kind, für das weiterhin die Wohnung des Kl bereitgehalten wurde, liegen in Bezug auf die Mutter keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese weiterhin eine Wohnung im Inland innehatte. Vielmehr deutet die Tatsache, dass die Mutter flüchtete und keine Hinweise über ihren künftigen Aufenthalt hinterließ, darauf hin, dass der bisherige Inlandswohnsitz nicht weiter benutzt und beibehalten, sondern aufgegeben werden sollte. Hinzu kommt, dass die Mutter fürchten musste, einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt zu sein. Dies lässt ebenfalls nicht darauf schließen, dass ein Inlandswohnsitz beibehalten werden sollte.

Da es sich beim Vorhandensein eines weiteren Kindergeldberechtigten als Voraussetzung für das Eingreifen der Konkurrenzregel des § 64 EStG um eine anspruchsvernichtende (negative) Normvoraussetzung handelt, trägt hierfür die FK --zu deren Gunsten diese Voraussetzung wirken würde-- die Darlegungs- und Beweislast. Die Nichterweislichkeit des Vorhandenseins eines weiteren Kindergeldberechtigten geht daher zu Lasten der FK.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 S. 1 FGO.

3. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 Zivilprozessordnung.

Ende der Entscheidung

Zurück