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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 14.02.2007
Aktenzeichen: 9 K 202/06
Rechtsgebiete: BGB, EStG, SGB VIII


Vorschriften:

BGB § 1602
EStG § 66 Abs. 1
EStG § 74 Abs. 1 S. 4
EStG § 76
SGB VIII § 10 Abs. 2
SGB VIII § 34
SGB VIII §§ 90 ff.
Eine Unterhaltspflichtverletzung des kindergeldberechtigten Elternteils als Voraussetzung für eine Abzweigung des Kindergeldes an den Träger der Jugendhilfe nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG liegt vor, wenn der Kindergeldberechtigte vom Träger der Jugendhilfe nach §§ 90 bis 97b SGB VIII an den Kosten für die Leistungen der Jugendhilfe beteiligt wird, aber diese nicht bezahlt. Leistet der Kindergeldberechtigte jedoch Unterhalt in Höhe mindestens des Kindergeldes, ist eine Abzweigung trotz der Unterhaltspflichtverletzung in der Regel unzulässig.
Finanzgericht München

9 K 202/06

Abzweigung des Kindergeldes für M und S

In dem Rechtsstreit

hat der 9. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung

der Richterin am Finanzgericht als Vorsitzende,

des Richters am Finanzgericht und

des Richters am Finanzgericht sowie

der ehrenamtlichen Richter und

ohne mündliche Verhandlung am 14. Februar 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Der Bescheid vom 19. Dezember 2005 und die hierzu erlassene Einspruchsentscheidung vom 5. Januar 2006 werden aufgehoben.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Abzweigung des Kindergeldes an die Beigeladene.

Der von seiner Frau getrennt lebende Kläger erhält für seine beiden Kinder M, geboren am , und S, geboren am , Kindergeld. Die Kinder sind seit 12. März 2003 vollstationär in einem Heim untergebracht. Die Kosten hierfür trägt die Beigeladene im Rahmen der Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII. Mit Schreiben vom 9. August 2005 beantragte die Beigeladene beim Beklagten die Abzweigung des vom Kläger bezogenen Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG), weil dieser seiner Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Er sei mit Bescheid vom 23. April 2003 zu einem monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 200 EUR je Kind verpflichtet worden. Bei der Festsetzung des monatlichen Kostenbetrags sei zum einen berücksichtigt worden, dass trotz der vollstationären Unterbringung der Kinder auch vom Kläger finanzielle Leistungen gegenüber den Kindern erbracht würden, u.a. würden sich die Kinder vierzehntätig im elterlichen Haushalt befinden. Zum anderen sei eine Kreditbelastung des Klägers von monatlich 100 EUR berücksichtigt worden. Der Kläger habe am 17. Juni 2003 eine einmalige Zahlung von 666,65 EUR geleistet, weitere Zahlungen seien ausgeblieben. Auch auf die Mahnungen hin habe er keine Zahlungen geleistet.

Der Beklagte setzte den Kläger vom Abzweigungsantrag der Beigeladenen in Kenntnis und bat ihn um Mitteilung, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe er Unterhaltsleistungen erbringe. Der Kläger widersprach mit Schreiben vom 30. September 2005 dem Abzweigungsantrag und teilte dem Beklagten unter Vorlage verschiedener Aufstellungen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen wird mit, dass ihm für den Unterhalt seiner beiden Kinder monatliche Unterhaltskosten in Form vom Geld-, Sach- und Betreuungsleistungen in Höhe 1.248,33 EUR entstünden.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2005 zweigte der Beklagte den Kindergeldanspruch des Klägers für die Kinder M und S in Höhe von monatlich 308 EUR ab Oktober 2005 an die Beigeladene ab mit der Begründung, der Kläger leiste nach den vorliegenden Unterlagen keinen Unterhalt an die Kinder. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein. Er trug vor, dass das Kindergeld zumindest hälftig aufzuteilen sei, denn die Kinder befänden sich an rund 80 Tagen im Jahr in seinem Haushalt.

Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 5. Januar 2006). Der Beklagte führte in der Einspruchsentscheidung aus, die Voraussetzungen für eine Abzweigung lägen vor. Die Höhe des maximal abzweigbaren Betrags richte sich nach der für die Pfändung von Kindergeld geltenden Vorschrift des § 76 EStG. Da die Pfändung bis zu dem Betrag 4 möglich sei, der bei gleichmäßiger Verteilung des Kindergeldes auf jedes der Kinder entfalle, sei die Abzweigung in Höhe von 154 EUR je Kind monatlich ermessensgerecht.

Dagegen richtet sich die Klage. Der Kläger trägt vor, die Kinder befänden sich etwa 80 Tage im Jahr während der Wochenenden und in Urlaubszeiten im elterlichen Haushalt. Seine monatlichen Unterhaltsleistungen für beide Kinder beliefen sich derzeit auf rund 950 EUR. Angesichts seiner finanziellen Situation sei er auf die Auszahlung des Kindergeldes zur Sicherung der einvernehmlich vor dem Familiengericht vereinbarten Besuche der Kinder dringend angewiesen.

Er habe bei der Beigeladenen eine Herabsetzung seines Kostenbeitrags beantragt, da sich seine finanzielle Situation seit der Trennung von seiner Frau gegenüber dem letzten Kostenbescheid vom 23. April 2003 verschlechtert habe. Diese habe jedoch eine Herabsetzung abgelehnt. Dagegen habe er Widerspruch erhoben, über den die Beigeladene mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2007 entschieden habe. Dagegen werde er Klage zum Verwaltungsgericht erheben.

Mit Beschluss vom 13. April 2006 hat der Senat die zum Verfahren nach § 60 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) notwendig beigeladen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 19. Dezember 2005 und die hierzu erlassene Einspruchsentscheidung vom 5. Januar 2006 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Voraussetzungen für eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG lägen vor, denn der Kläger komme, indem er die wegen der Heimunterbringung der Kinder gegen ihn festgesetzten Kostenbeiträge nicht zahle, seiner Unterhaltspflicht nicht nach. Bei der Festsetzung des Kostenbeitrags sei berücksichtigt worden, dass der Kläger trotz der Unterbringung der Kinder, z.B. durch den Aufenthalt der Kinder in seinem Haushalt alle 14 Tage, finanzielle Leistungen gegenüber den Kindern erbringe und dass er mit einem Kredit belastet sei.

Die Beigeladene äußerte sich zur Klage und führte aus, die Notwendigkeit der Heimunterbringung der Kinder sei vor dem Familiengericht festgestellt worden. Auch räume der Kläger selbst ein, dass er aufgrund seiner Außendienst- und Reisetätigkeit nur zeitlich begrenzt an den Wochenenden und im Urlaub für seine Kinder sorgen könne. Folglich sei er aber auch an den Kosten der Jugendhilfemaßnahmen zu beteiligen. Es werde nicht verkannt, dass vom Kläger unabhängig von den Jugendhilfemaßnahmen finanzielle Leistungen für seine Kinder erbracht würden. Diese würden im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bei der Bemessung der Höhe des Kostenbeitrags berücksichtigt. Es sei im Übrigen verwunderlich, dass der 5 Kläger sowohl monatlich 1.258 EUR Unterhaltsleistungen in Form von Geld- und Sachleistungen für seine Kinder aufbringen könne, als auch Privatkredite in Höhe von monatlich 1.093 EUR tilge, sich aber andererseits nicht dazu in der Lage sehe, seiner gesetzlichen Kostenbeitragspflicht gegenüber dem örtlichen Jugendhilfeträger nachzukommen.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet. Die Entscheidung des Beklagten, das Kindergeld in voller Höhe der Beigeladenen auszuzahlen, ist ermessensfehlerhaft.

1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

Nach §§ 1601 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der Kläger seinen Kindern zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, soweit sie sich nicht selbst unterhalten können.

Leistungen der Jugendhilfe mindern die Unterhaltsverpflichtung der gesetzlich unterhaltspflichtigen Personen nicht, soweit sie nach Maßgabe der §§ 90 bis 97b Sozialgesetzbuch (SGB) VIII an den Kosten für Leistungen der Jugendhilfe beteiligt werden (vgl. § 10 Abs. 2 SGB VIII) - sie gelten insoweit nicht als anrechenbares Einkommen der Kinder nach § 1602 BGB. Da der Kläger die ihm von der Beigeladenen nach § 94 Abs. 2 SGB VIII auferlegten Kostenbeiträge nicht geleistet hat, hat er seine gesetzliche Unterhaltspflicht verletzt; damit ist der Anwendungsbereich für eine Ermessensentscheidung nach § 74 Abs. 1 EStG eröffnet.

Der Umstand, dass der Kläger die Festsetzung der Kostenbeiträge gegenüber der Beigeladenen angefochten hat, spielt für die Frage der Unterhaltspflichtverletzung keine Rolle, da der Kostenbeitragsbescheid - solange er nicht aufgehoben ist - im Rahmen des § 74 Abs. 1 EStG Tatbestandswirkung hat. Auch der Umstand, dass der Kläger im Übrigen Unterhaltsleistungen an seine Kinder erbracht hat, ändert nichts daran, dass der Anwendungsbereich des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG eröffnet ist, da auch eine teilweise Unterhaltspflichtverletzung ausreichend ist. Die vom Kinder6 geldberechtigten erbrachten Unterhaltsleistungen sind vielmehr im Rahmen des Ermessenausübung zu berücksichtigen (vgl. Felix in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG § 74 Rdnr. B12).

2. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG vor, so liegt es im pflichtgemäßen Ermessen der Familienkasse, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe das Kindergeld abgezweigt wird. Die Familienkasse hat bei der Ausübung des ihr in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 Abgabenordnung). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG). Da das Kindergeld die Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen steuerlich entlasten soll, sind bei der Prüfung, ob und inwieweit das Kindergeld abzuzweigen ist, selbst geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten miteinzubeziehen (BFH-Urteil vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575).

Das Gericht prüft nach § 102 Satz 1 FGO, ob die Behörde bei ihrer Ermessensausübung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Maßgebend ist hierbei grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung (von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung § 102 Rz. 13 ff.). § 102 Satz 2 FGO erlaubt es der Behörde zwar, ihre Ermessenserwägungen zu ergänzen, d.h. zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen, nicht aber diese erstmals aufzustellen, Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen (von Groll in Gräber a.a.O. Rz. 20 m.w.N.).

Die Entscheidung des Beklagten erweist sich unter diesen Gesichtspunkten als ermessensfehlerhaft.

Soweit überhaupt auf die Frage der Ermessensausübung eingegangen wird, enthält die Einspruchsentscheidung lediglich den Hinweis, dass im Hinblick auf die Zweckbestimmung des Kindergeldes das Ermessen regelmäßig dahingehend auszuüben sei, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Abzweigung des Kindergeldes zu erfolgen habe. Der Beklagte hat damit eine Vorprägung der Ermessensentscheidung (Ermessensreduzierung) im Fall des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 74 Abs. 1 FGO angenommen und damit das ihm obliegende Ermessen nicht ausgeübt. Diese Auffassung ist nicht haltbar. Der Beklagte hat nicht berücksichtigt, dass der Kläger mit Ausnahme des Kostenbeitrags Unterhalt mindestens in Höhe des Kindergeldes an seine Kinder geleistet hat. Unter Berücksichtigung der in § 74 Abs. 1 Satz 3 2. Alt. EStG zum Ausdruck kommenden 7 Wertung des Gesetzes ist jedoch eine Abzweigung in der Regel dann unzulässig, wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt in Höhe mindestens des Kindergeldes leistet (BFH-Urteile vom 17. November 2004 VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692; in BFH/NV 2006, 1575).

Der Umstand, dass - wie vorgetragen - bei der Bemessung des Kostenbeitrags durch die Beigeladene berücksichtigt worden sei, dass der Kläger trotz Unterbringung der Kinder finanzielle Leistungen an diese erbringe, führt zu keinem anderen Ergebnis, da die Frage, welche Erwägungen bei der Festsetzung des Kostenbeitrags nach § 94 Abs. 2 SGB VIII getroffen wurden, im Rahmen der Entscheidung über den Abzweigungsantrag nicht berücksichtigt werden kann.

Da der angefochtene Bescheid bereits wegen fehlender Ermessenserwägungen im Rahmen der Entscheidung über die Abzweigung dem Grunde nach rechtswidrig ist, braucht auf den Umstand, dass der angefochtene Bescheid sich, soweit es um die Höhe des abzuzweigenden Betrags geht, nur mit der Frage des nach § 74 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 76 EStG maximal abzweigbaren Betrags beschäftigt, aber keine Erwägungen anstellt, warum nur eine Abzweigung in dieser Höhe ermessensgerecht sei (vgl. BFH in BFH/NV 2006, 1575), nicht mehr eingegangen zu werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und den Vollstreckungsschutz folgt aus §§ 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

Der Beigeladenen sind keine Kosten aufzuerlegen, da sie keine Anträge gestellt hat (§ 135 Abs. 1 FGO). Sie erhält auch keine Kosten erstattet (§ 139 Abs. 4 FGO ).

Ende der Entscheidung

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