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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 22.11.2006
Aktenzeichen: 7 K 5127/05 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 4
EStG § 32 Abs. 4 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

7 K 5127/05 Kg

Tenor:

Unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 13.10.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 22.11.2005 wird die beklagte Familienkasse verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für seinen Sohn S.... für die Monate Januar und Februar 2004 zu zahlen.

Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

Streitig ist die Änderung einer Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG).

Der am 08.03.1982 geborene Sohn S.... des Klägers (Kl.) befand sich im gesamten Streitjahr 2004 in der Berufsausbildung.

Im Rahmen einer Prognoseentscheidung ging die beklagte Familienkasse für 2004 von Bruttolohn des Sohnes von 9.267,40 Euro und voraussichtlichen Werbungskosten (WK) von 1.157,17 Euro aus und hob mit Bescheid vom 19.02.2004 die Kindergeldfestsetzung für S.... ab Januar 2004 auf, da der Grenzbetrag von 7.680 Euro voraussichtlich überschritten werde. Dem Bescheid ist folgender "wichtiger Hinweis" beigefügt:

"Falls nach Ablauf des Kalenderjahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können sie einen erneuten Antrag auf Kindergeld stellen."

Am 28.04.2005 beantragte der Kl. erneut Kindergeld für seinen Sohn S.... für das Jahr 2004. Der Bruttolohn von S.... betrug unstreitig 9.896,80 Euro. Die WK wurden vom Kl. mit 3.220,60 Euro angegeben. Nach der vorgenommenen Berechnung der Bekl. wären hiervon jedoch nur 1.581,47 Euro im Streitjahr berücksichtigungsfähig (Bl. 199 der Akten). Die Sozialversicherungsbeiträge betrugen 2.040,95 Euro (Bl. 215 der Akten).

Mit Bescheid vom 13./17.10.2005 setzte die Bekl. Kindergeld für S.... ab März 2004 fest, lehnte die Gewährung von Kindergeld für die Monate Januar und Februar 2004 jedoch ab, da dem die Bestandskraft des Bescheides vom 19.02.2004 entgegen stehe. Die andere rechtliche Beurteilung der Sozialversicherungsbeiträge auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 167/02 vom 11.01.2005 rechtfertige weder eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) noch die Anwendung von § 70 Abs. 4 EStG.

Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Vorverfahren die vorliegende Klage, die der Kl. innerhalb der Klagefrist bei der Familienkasse nach § 47 Finanzgerichtsordnung (FGO) angebracht hat. Der Kl. macht geltend, er habe gegen den Bescheid vom 19.02.2004 Widerspruch eingelegt. Zum Nachweis legte er die Kopie eines Schreibens vom 27.02.2004 an die Bekl. vor, dessen Eingang bei der Bekl. nach dem Inhalt der Akten nicht feststellbar ist. Außerdem bezieht der Kl. sich auf den Hinweis in dem Bescheid vom 19.02.2004. Er trägt vor, dass er auf Grund des Hinweises davon ausgegangen sei, dass, sobald die genauen Zahlen feststünden, ein erneuter Antrag auf Kindergeld gestellt werden könne.

Der Kl. beantragt (sinngemäß),

unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides Kindergeld für S.... auch für Januar und Februar 2004 festzusetzen.

Die Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach Ansicht der Bekl. steht die Bestandskraft des Bescheides vom 19.02.2004 der Gewährung von Kindergeld für Januar und Februar 2004 entgegen. Das vom Kl. vorgelegte Schreiben vom 27.02.2004 beinhalte auch den jetzigen Vortrag des Kl., nach Ablauf des Jahres 2004 die genauen Zahlen zu ermitteln und ggf. einen neuen Antrag zu stellen. Der Kl. habe daraufhin auch einen neuen Antrag gestellt und nicht eine fehlende Entscheidung über seinen Einspruch angemahnt. Da der Einspruch sich nicht bei den Akten befinde, gehe die Bekl. davon aus, dass der Vortrag des Kl., Einspruch eingelegt zu haben, nicht zutreffe. Auch aus dem dem Bescheid beigefügten Hinweis ergebe sich keine Zusage eines Anspruches auf Kindergeld. Die Änderungsmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG umfasse nicht eine Änderung wegen geänderter Rechtsauffassung. Eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO komme ebenfalls nicht in Betracht, da eine geänderte Rechtsauffassung keine neue Tatsache im Sinne dieser Vorschrift darstelle.

Der Senat entscheidet gemäß § 94 a FGO bei einem Streitwert in Sinne dieser Vorschrift von unter 500 Euro ohne mündliche Verhandlung. Der Kl. begehrt Kindergeld in Höhe von 154 Euro für zwei Monate, so dass sein finanzielles Interesse sich auf den Betrag von 308 Euro bezieht. Dieser Betrag ist für die Anwendung von § 94 a FGO entscheidend. Für verfahrensrechtliche Zwecke stellt nämlich § 94 a FGO gegenüber der Regelung in § 52 Abs. 4 Gerichtskostengesetz (GKG) in der ab 01.07.2004 geltenden Fassung die speziellere Regelung dar, so dass die Regelung über den Mindeststreitwert in § 52 Abs. 4 GKG im Rahmen des § 94 a FGO nicht anzuwenden ist (vgl. Finanzgericht (FG) Münster, Urteil vom 18.01.2005 15 K 5205/04 U, EFG 2005, 974).

Die Klage ist zulässig.

Der Kl. hat innerhalb der Klagefrist nach § 47 FGO die Klage wirksam bei der beklagten Familienkasse angebracht. Die von der Familienkasse vorgelegte Klageschrift entspricht den Anforderungen an eine wirksame Klage. Aus ihr ergibt sich hinreichend, dass der Kl. ggf. gerichtlichen Rechtsschutz erbittet.

Die Klage ist auch begründet.

Dem Kl. steht für seinen Sohn S...., der im gesamten Jahr 2004 nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG als Kind in Berufsausbildung zu berücksichtigen ist, Kindergeld auch für die Monate Januar und Februar 2004 zu. Die ablehnende Entscheidung der Bekl. verletzt den Kl. daher in seinen Rechten.

Im Streitfall liegen die Voraussetzungen für eine Änderung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG vor. Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse über- oder unterschreiten. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine steuerliche Entscheidung wegen des Jährlichkeitsprinzips grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung für Kindergeld jedoch bereits im Laufe des Kalenderjahres und monatlich gezahlt wird (Bundestagsdrucksache 14/6160 Seite 14) und eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht, regelmäßig erst nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (vgl. Bundesfinanzhof (BFH)-Urteil vom 30.11.2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890).

Es entspricht daher der einhelligen Auffassung aller bisher zu dieser Frage ergangenen Entscheidungen der Finanzgerichte, dass die Änderung einer bestandskräftigen Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG stets möglich ist, wenn die abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unterschreiten oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt, und zwar auch dann, wenn die Korrektur auf einer geänderten oder neu berücksichtigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung - wie im Streitfall die zur Berücksichtigung der von dem Kind gezahlten Sozialversicherungsbeiträge nach der Verfassungsgerichtsentscheidung 2 BvR 167/02 (vgl. FG Münster, Urteil vom 22.03.2006 10 K 1105/04 Kg, EFG 2006, 1182, Urteil vom 29.03.2006 1 K 4716/05 Kg StRE 2006 71186; Urteil vom 05.07.2006 1 K 780/06 Kg StRE 2006 71611; Urteil vom 24.03.2006 11 K 4391/05 Kg, EFG 2006, 988; Urteil vom 25.04.2006 11 K 3797/05 Kg, EFG 2006, 1183; FG Köln, Urteile vom 17.05.2006 15 K 9/06 StRE 2006 70948; vom 07.06.2006 10 K 4692/05 Kg StRE 2006 71106; 10 K 378/06 Kg und 10 K 4621/05 Kg StRE 2006 71104; FG Düsseldorf, Urteile vom 12.01.2006 14 K 4361/05 Kg, EFG 2006, 506; 14 K 4078/05 Kg, EFG 2006, 1445 und Urteil vom 05.04.2006 14 K 4432/05 Kg StRE 2006 70930; FG Nürnberg, Urteil vom 12.01.2006 VI 311/2005, EFG 2006, 752; FG München, Urteil vom 14.03.2006 12 K 4695/05 StRE 2006 71277 und FG Berlin, Urteil vom 20.12.2005 10 K 10293/05, EFG 2006, 1258).

Auch der BFH bejaht die Änderung oder Aufhebung eines die Festsetzung von Kindergeld ablehnenden Bescheides, der vor Beginn oder während des Kalenderjahres als Prognoseentscheidung ergangen ist nach § 70 Abs. 4 EStG (vgl. BFHUrteil vom 28.06.2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204).

Da der Kindergeldanspruch des Kl. für Januar und Februar 2004 daher schon aus diesem Grunde gerechtfertigt ist, kommt es nicht darauf an, ob der Kl. tatsächlich Einspruch gegen den Bescheid vom 19.02.2004 eingelegt hatte oder ob der Hinweis in dem Bescheid der Geltendmachung der Bestandskraft des Bescheides entgegensteht (vgl. hierzu Hessisches FG 3 K 3760/05 Urteil vom 06.04.2006 in EFG 2006, 1181 und FG Köln Urteil vom 07.06.2006 10 K 4546/05 in EFG 2006, 1483).

Da nach dem unstreitigen Bruttolohn des Sohnes S...., der abzuziehenden unstreitigen Sozialversicherungsbeiträge und auch bei Berücksichtigung lediglich des Arbeitnehmerpauschbetrages von 920 Euro im Streitjahr die Einkommensgrenze nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht überschritten ist, war die Verpflichtung der Bekl. zur Gewährung des Kindergeldes auch für Januar und Februar 2004 auszusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 152 Abs. 3, 155 FGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO und erfolgt im Hinblick auf zahlreiche beim BFH zu der Streitfrage anhängige Revisionsverfahren (z. B. III R 57/06; III R 48/06; III R 47/06; III R 46/06; III R 35/06; III R 37/06; III R 9/06; III R 6/06 und III R 9/06).



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