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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Sachsen
Urteil verkündet am 23.02.2006
Aktenzeichen: 2 K 2679/04 Kg
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Nr. 3
EStG § 63 Abs. 1 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Sachsen

2 K 2679/04 Kg

Familienleistungsausgleich

In dem Finanzrechtsstreit

...

hat der 2. Senat

durch

Richter am Amtsgericht

gemäß §§ 5 Abs. 3 Satz 1, 6 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung

als Einzelrichter

auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 23. Februar 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Der Bescheid über Kindergeld vom 19. März 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. November 2004 wird dahingehend geändert, dass Kindergeld ab Dezember 2003 in Höhe von EUR 154 monatlich festgesetzt wird.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld für ein behindertes Kind.

Der Sohn des Klägers, P. M., wurde am 18. Mai 1957 geboren. Er ist an der Erbkrankheit Chorea Huntington erkrankt. Das Amt für Familie und Soziales hat im Bescheid vom 15. September 2003 einen Grad der Behinderung von 100% festgestellt. Der Sohn des Klägers befindet sich deshalb seit dem Jahr 2003 in stationärer Behandlung. Der Kläger stellte am 13. November 2003 bei der Beklagten einen Kindergeldantrag, der mit Bescheid vom 19. April 2004 abgelehnt wurde. Während des Verfahrens ging ein Ärztliches Zeugnis zu Maßnahmen für Kranke und Behinderte nach dem BSHG vom 8. Mai 2003 bei der Beklagten ein (vgl. wegen der Einzelheiten Bl. 25 - 30 Kindergeldakte). Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes ein (vgl. Bl. 42 - 43 Kindergeldakte). Der eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 22. November 2004 zurückgewiesen, wogegen sich die vorliegende Klage richtet.

Der Kläger ist der Auffassung, dass ihm Kindergeld für seinen Sohn seit 2003 zustehe, da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Nr. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) vorlägen. Der Sohn sei aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten, es liege Heimbedürftigkeit vor. Die Behinderung sei auch vor dem 27. Lebensjahr eingetreten. Im Zeitraum von September 1983 bis Mai 1984 sei die Sicherung des Unterhalts durch den Sohn nicht gewährleistet gewesen. Aus dem ärztlichen Gutachten vom 8. März 2003 (Bl. 25 - 30 der Kindergeldakte) gehe hervor, dass die Krankheit bereits in frühen Kindesjahren ausgebrochen sei, die Diagnose der Krankheit sei erst im 20. Lebensjahr erfolgt. Die Beurteilung des Vorliegens einer Behinderung habe nur im kausalen Zusammenhang mit dem Fortschreiten des Gesundheitszustandes zu erfolgen, da oftmals nicht von vornherein absehbar sei, ob die vorhandene Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustandes länger als sechs Monate andauere. Der Sohn des Klägers und seine ehemalige Ehefrau könnten bezeugen, dass die Behinderung vor dem 27. Lebensjahr eingetreten sei, da die Symptome Bewegungsunruhen, plötzlich einsetzende unwillkürliche Bewegungen an Füßen und Beinen sowie psychiatrische Auffälligkeiten wie Alkoholexzesse, starke Reizbarkeit und Aggressivität, Schwermut und Depressionen, Rückzug von Kollegen und Gleichgültigkeit gegenüber der Familie zu verzeichnen gewesen seien.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung den Bescheid vom 19. April 2004 dahingehend zu ändern, dass Kindergeld in Höhe von 154 EUR monatlich ab Dezember 2003 festgesetzt wird.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass der Nachweis über den Eintritt der Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres vom Kläger nicht geführt worden sei. Der Sohn des Klägers sei bis 1990 in seinem erlernten Beruf Instandhaltungsmechaniker als Schweißer/Schlosser tätig gewesen. Nachweise über die Behinderung lägen seit 1997 durch erste medizinische Befunde vor.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhaltes im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der Kindergeldakte verwiesen. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2005 hat der Senat den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugin M.. Insoweit wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2006 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 19. April 2004 und die Einspruchsentscheidung vom 22. November 2004 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

1. Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Davon ist nach der Beweisaufnahme auszugehen.

a) Im Streitfall leidet der Sohn des Klägers seit seiner Geburt an der Erbkrankheit Chorea Huntington. Dabei handelt es sich um eine Gehirnkrankheit, die zumeist im vierten Lebensjahrzehnt, jedoch auch bereits in früher Kindheit oder im hohen Alter auftreten kann. Symptome sind zu Beginn der Krankheit psychische Auffälligkeiten, etwa erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität und Enthemmung, aber auch Ängstlichkeit. Im weiteren Verlauf kommt es zu einem Verlust geistiger Fähigkeiten bis zur Demenz. Es treten darüber hinaus Bewegungstörungen auf, die sich in unwillkürlichen Bewegungen von Extremitäten oder Rumpf zeigen. In extremen Fällen kann dies zum krankheitstypischen tänzelnden Gang führen (Dr. med. Pichler, FA für Neurologie, www.netdoktor.de/krankheiten/fakta/chorea_huntington.htm).

b) Nach den Feststellungen des Beklagten ist der Sohn des Klägers bis 1990 beruflich tätig gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war er 33 Jahre. Einen medizinischen Nachweis des Ausbruchs der Erbkrankheit hat der Kläger nicht vorgelegt. Hierzu ist er nach § 65 Einkommensteuerdurchführungsverordnung verpflichtet gewesen. Als Unterlagen stehen im Streitfall nur das ärztliche Zeugnis zu Maßnahmen für Kranke und Behinderte nach dem BSHG vom 8. Mai 2003 und die Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 1. November 2004 zur Verfügung. Nach dem Ärztlichen Zeugnis teilte der Sohn des Klägers mit, dass die Krankheit im Jugendalter ausgebrochen sei und dass er seit seinem 20. Lebensjahr wisse, dass er an der Krankheit leide. Des Weiteren ist dem Zeugnis zu entnehmen, dass der Sohn seit 1998 Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht (Bl. 25 - 29 Kindergeldakte). Der Ärztliche Dienst der Beklagten stellte nach Auswertung der Unterlagen der LVA Sachsen mit Krankenhausentlassungsbericht vom 22. April 1997 und nervenfachärztlichem Gutachten vom 13. August 1997 sowie dem bereits erwähntem ärztlichen Gutachten vom 8. Mai 2003 fest, dass der Sohn des Klägers bis 1990 in seinem erlernten Beruf Instandhaltungsmechaniker als Schlosser/Schweißer tätig gewesen sei. Die ersten medizinischen Befunden stammten aus dem Jahr 1997, diesen sei zu entnehmen, dass es in den Vorjahren zu Bewegungsstörungen einschließlich Gangstörungen und zu Wesensveränderungen gekommen sei. Auch wenn die Erkrankung genetisch bedingt sei, seien die funktionalen Einschränkungen, d.h. die Behinderung, erst Anfang der 1990er Jahre derart schwer geworden, dass der Sohn des Klägers nicht mehr in der Lage gewesen sei, einer regelmäßigen Berufstätigkeit nachzugehen. Aus den vorliegenden Umständen kann daher nicht geschlossen werden, dass die Behinderung bereits im Jahr 1984 vorlag.

c) Der Kläger selbst konnte keine Angaben zum Krankheitsverlauf seines Sohnes machen, da er keinen Kontakt zu ihm hatte. Dies konnte jedoch die Zeugin M., die in der fraglichen Zeit mit dem Sohn des Klägers zusammenlebte. Sie bekundete, dass sie den Sohn des Klägers seit 1979 kannte und seit 1980 mit ihm zusammenlebte. Er habe an einem sprunghaften Wesen gelitten, einerseits sei er sehr nett gewesen, andererseits wäre ihm häufig alles egal. Er habe Alkoholprobleme gehabt, mehrfach wöchentlich habe er Alkoholexzesse betrieben. Aus Angst vor anderen habe er eine abgedunkelte Brille getragen. An körperlichen Auffälligkeiten sei ihr das ständige Hin- und Herhüpfen aufgefallen. Er habe mehrfach mit Selbstmord gedroht und öfter gesagt, dass er nur 40 Jahre alt werde. Die Aussage der Zeugin war glaubhaft. Sie hat bewegend die ihr sehr nahe gehenden Erfahrungen geschildert, die sie noch gut in Erinnerung hatte. Sie machte einen glaubwürdigen Eindruck. Sie hatte am Ausgang des Verfahrens kein Eigeninteresse, da sie mit dem Sohn des Klägers seit 1987 keinen Kontakt mehr hatte.

d) Im Ergebnis der Beweisaufnahme ist daher vom Ausbruch der Krankheit bereits vor 1984, dem Jahr des Erreichens des 27. Lebensjahres des Sohnes des Klägers, auszugehen. Die heute bekannten medizinischen Symptome sind jedenfalls zum Teil erkennbar gewesen, obwohl die Zeugin selbst nicht vom Vorliegen einer solchen Krankheit ausging. Die Krankheit ist aber bereits deutlich zu Tage getreten, ihr weiterer Verlauf war bereits damals absehbar. Gegen diese Schlussfolgerung spricht auch nicht, dass der Sohn des Klägers in dieser Zeit beruflich tätig war. Es ist für das Vorliegen der Voraussetzungen von § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG nicht erforderlich, dass das Kind bereits vor dem Eintritt des 27. Lebensjahres nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu unterhalten (Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 13. Juni 2002 - VII 290/2000, EFG 2003, 867), es also beispielsweise trotz Behinderung einer Beschäftigung nachgeht. Der Sohn des Klägers litt aber bereits an einer ausgebrochenen Erbkrankheit, die ihn psychisch behinderte und in deren weiterem Verlauf er auch körperlich nicht mehr in der Lage war, sich zu unterhalten. Auch die fehlende Dokumentation der Krankheit steht dieser Wertung nicht entgegen. Es ist nicht mehr aufklärbar, ob Unterlagen vorhanden waren und diese nicht mehr auffindbar sind oder ob gar keine ärztlichen Befunde mit einer eindeutigen Diagnose angefertigt wurden. Daher kommt insoweit als einziges Beweismittel nur noch die Aussage der Zeugin M. in Betracht, die zur Überzeugung des Gerichts das Vorliegen der Symptome der später genau diagnostizierten Krankheit geschildert hat.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.



Ende der Entscheidung

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