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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 15.09.2004
Aktenzeichen: 3 Bs 257/04
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 56 Abs. 3
AuslG § 64 Abs. 2
Für die Erteilung einer zusätzlichen (zweiten) Duldung an einen Ausländer, dem die Ausländerbehörde eines anderen Bundeslandes bereits eine Duldung erteilt hat, besteht im Ausländergesetz 1990 keine gesetzliche Grundlage.

Zum Schutz von Grundrechten kann es ausnahmsweise geboten sein, dem geduldeten Ausländer entgegen § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG unter Aufhebung der bisherigen Duldung den Aufenthalt in einem anderen Bundesland zu ermöglichen. Für die Erteilung einer derartigen Duldung ist die Ausländerbehörde des aufnehmenden, nicht die des abgebenden Bundeslandes zuständig.


3 Bs 257/04

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Korth, Jahnke und Kollak am 15. September 2004 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 13. Mai 2004 geändert.

Der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr eine Duldung zu erteilen, wird abgelehnt.

Der Antragstellerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren und in Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung auch für das erstinstanzliche Verfahren auf jeweils 2.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg.

I.

Die 1948 geborene Antragstellerin serbisch-montenegrinischer Staatsangehörigkeit erhielt nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens ab 26. August 2003 von der Stadt Lüneburg befristete Duldungen, die räumlich auf das Land Niedersachsen beschränkt waren. Am 25. September 2003 heiratete sie im Generalkonsulat von Serbien und Montenegro einen 1936 geborenen, in Hamburg lebenden, schwer kranken serbisch-montenegrinischen Staatsangehörigen, der im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist. Die Antragstellerin beantragte, ihr den Umzug nach Hamburg zu ihrem Ehemann zu gestatten, der auf ihre Pflege und Unterstützung angewiesen sei. Die Stadt Lüneburg gestattete ihr mit jeweils befristeten Erlaubnissen - zuletzt bis zum 19. April 2004 -, den Bereich der räumlichen Beschränkung vorübergehend zu verlassen und sich nach Hamburg zu begeben, wo sie sich offenbar seitdem durchgehend aufhält. Die Antragsgegnerin stimmte dem Zuzug der Antragstellerin nach Hamburg nicht zu.

Mit bestandskräftigem Beschluss vom 11. März 2004 lehnte das Verwaltungsgericht Lüneburg einen Antrag der Antragstellerin ab, die Stadt Lüneburg zu verpflichten, ihr den Wohnsitzwechsel nach Hamburg zu ermöglichen: Die Antragstellerin sei wegen des Zuzugs nach Hamburg zu ihrem dort lebenden Ehemann auf das gesetzlich vorgeschriebene Visumsverfahren zu verweisen. Zurzeit gewähre die Stadt Lüneburg der Antragstellerin großzügig Erlaubnisse zum Verlassen ihres Gebietes, damit die Antragstellerin ihren in Hamburg lebenden Ehemann besuchen könne. Damit werde Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung getragen.

Die Antragstellerin beantragte mit Schreiben vom 17. März 2004 gegenüber der Antragsgegnerin die Erteilung einer weiteren Duldung für den Bereich Hamburg.

Mit Schreiben vom 23. März 2004 wies die Stadt Lüneburg die Antragstellerin darauf hin, dass sie die auf 4 Wochen befristeten Erlaubnisse zum vorübergehenden Verlassen ihres Gebietes nicht weiter erteilen könne und die Antragstellerin ihrer Ausreisepflicht bis spätestens 30. April 2004 nachkommen müsse. Ansonsten würden aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet.

Auf Antrag der Antragstellerin hat das Verwaltungsgericht Hamburg mit Beschluss vom 13. Mai 2004 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für Hamburg eine Duldung zu erteilen: Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Erteilung der Duldung für Hamburg. Die Erteilung einer zweiten Duldung sei möglich und geboten, wenn der Ausländer sich aus schwerwiegenden Gründen im Bereich eines anderen Bundeslandes aufhalten müsse oder wolle. So liege der Fall hier. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf eine Duldung, weil ihre Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich sei. Der Antragstellerin sei es nicht zuzumuten, die Beziehung zu ihrem schwer kranken, pflegebedürftigen Ehemann, der auf ihre Betreuung angewiesen sei, zu unterbrechen. Da ihr Ehemann nicht nach Lüneburg umziehen könne, sei der Antragstellerin eine Duldung für Hamburg zu erteilen. Aus der Unzumutbarkeit, den Ehemann zwecks Durchführung des Visumsverfahrens auch nur vorübergehend zu verlassen, ergebe sich auch der Anordnungsgrund.

II.

Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 13. Mai 2004 von der Antragsgegnerin eingelegte zulässige Beschwerde ist begründet.

1. Die von der Antragstellerin mit dem vorliegenden Verfahren im Wege der einstweiligen Anordnung erstrebte Duldung beinhaltet nicht die Regelung eines vorläufigen Zustandes, sondern ihr Begehren entspricht dem, was sie auch mit ihrem - von der Antragsgegnerin bisher nicht beschiedenen - Antrag vom 17. März 2004 auf Erteilung einer weiteren Duldung für Hamburg erreichen will. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache im Eilverfahren ist jedoch nur ausnahmsweise im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG zulässig, wenn ohne vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl.: BVerwG, Beschluss vom 21.3.1997, Az.: 11 VR 3/97, Juris, m. weit. Nachw.), und wenn das Begehren schon aufgrund summarischer Prüfung bei Anlegung eines strengen Maßstabs erkennbar Erfolg haben muss (vgl.: BVerwG, Beschluss vom 13.8.1999, BVerwGE Bd. 109 S. 258 m. weit. Nachw.). Die Antragstellerin könnte zwar gegenüber der Antragsgegnerin einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung haben (2). Aber bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe fehlt es zumindest an einem Anordnungsgrund (3).

2. Die Antragstellerin könnte einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf eine Duldung für den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin haben.

a) Ob die Ausländerbehörde eines anderen Bundeslandes einem bereits geduldeten Ausländer eine weitere Duldung - wie von der Antragstellerin begehrt - erteilen darf, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (bejahend: VG Braunschweig, Beschluss vom 18.11.2002, InfAuslR 2003 S. 107; OVG Lüneburg, Beschluss vom 17.10.2002, AuAS 2002 S. 256; VGH Kassel, Beschluss vom 24.6.1996, InfAuslR 1996 S. 360; Funke-Kaiser in GK-Ausländerrecht, Stand April 2001, § 56 Rdnr. 11 - (wohl) verneinend: OVG Weimar, Beschluss vom 2.7.2003, DÖV 2003 S. 909 - offen: OVG Hamburg, Beschluss vom 13.5.2004 - 3 Bs 177/04 -; Beschluss vom 26.11.2003, NordÖR 2004 S. 110). Der Beschwerdesenat ist der Auffassung, dass es für die Erteilung einer zusätzlichen zweiten Duldung keine gesetzliche Grundlage und auch kein Bedürfnis gibt. Aus § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ist zu entnehmen, dass immer nur eine Ausländerbehörde für die ausländerrechtlichen Angelegenheiten eines Ausländers zuständig ist. Auch § 64 Abs. 2 S. 1 AuslG setzt voraus, dass die Duldung nur von einer Ausländerbehörde erteilt wird. Würden einem Ausländer nebeneinander von zwei Ausländerbehörden Duldungen erteilt werden, würde dies zu weiteren sachlichen Problemen führen, wie etwa bei der Durchsetzung der Verlassenspflicht des Ausländers, die möglicherweise nicht mehr allein von einer der beiden zuständigen Ausländerbehörden vollstreckt oder die durch die Aufenthaltsmöglichkeit des Ausländers an zwei verschiedenen Orten jedenfalls wesentlich erschwert werden könnte.

Dies schließt es nicht aus, einem Ausländer unter Aufhebung der bisherigen Duldung im Bereich einer anderen Ausländerbehörde eine neue Duldung zu erteilen. Gemäß § 56 Abs. 3 S. 1 AuslG ist die Duldung zwar räumlich auf das Gebiet eines Landes beschränkt und sieht das Ausländergesetz die Aufhebung einer bestehenden räumlichen Beschränkung aus § 56 Abs. 3 S. 1 AuslG auf ein Bundesland nicht vor. Im Gegensatz zum Asylverfahren ist damit eine länderübergreifende Umverteilung eines bloß geduldeten Ausländers grundsätzlich nicht möglich. Da die Duldung die Ausreisepflicht des Ausländers unberührt lässt, der Ausländer sich nur vorübergehend bis zum Wegfall des Abschiebungshindernisses hier noch aufhalten darf, musste der Gesetzgeber auch keine Regelung für einen nach der gesetzlichen Konzeption nicht vorgesehenen längeren Aufenthalt treffen, der auch die Möglichkeit der Umverteilung in ein anderes Bundesland eröffnen müsste (vgl.: OVG Weimar, Beschluss vom 2.7.2003. a. a. O.). Gleichwohl kann es aber ausnahmsweise im Hinblick auf den auch für Ausländer geltenden Grundrechtsschutz geboten sein, dem Ausländer entgegen § 56 Abs. 3 S. 1 AuslG den Aufenthalt in einem anderen Bundesland vorübergehend oder sogar auf Dauer zu ermöglichen (vgl.: VGH Kassel, Beschluss vom 24.6.1996, a. a. O.), z. B. bei einer nur in einem anderen Bundesland möglichen Krankenbehandlung (vgl.: OVG Hamburg, Beschluss vom 13.5.2004, a. a. O.), einer schulischen Veranstaltung in einem anderen Bundesland (vgl.: OVG Hamburg, Beschluss vom 7.5.1999 - 3 Bs 167/99 -), zur Erfüllung einer Bewährungsauflage (vgl.: OVG Hamburg, Beschluss vom 26.11.2003, a. a. O.) oder zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft (vgl.: OVG Weimar, Beschluss vom 2.7.2003, a. a. O.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.1.2003, AuAS 2003 S. 50; Beschluss vom 17.10.2002, a. a. O; VG Braunschweig, Beschluss vom 18.11.2002, a. a. O.; VGH Kassel, Beschluss vom 24.6.1996, a. a. O.). Dabei wird der endgültige Wechsel des Aufenthalts eines geduldeten Ausländers entgegen § 56 Abs. 3 S. 1 AuslG in ein anderes Bundesland nur in Betracht zu ziehen sein, wenn dies aus zwingenden Gründen geboten ist. Insbesondere gebietet es Art. 6 Abs. 1 GG nicht von vorneherein, dem bloß geduldeten Ausländer das familiäre Zusammenleben unter Wechsel des Bundeslandes im Bundesgebiet zu ermöglichen (vgl.: OVG Weimar, Beschluss vom 2.7.2003, a. a. O.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.1.2003, AuAS 2003 S. 50; VGH Kassel, Beschluss vom 24.6.1996, a. a. O.). Voraussetzung für einen entsprechenden Anspruch des Ausländers ist, dass ein Abschiebungshindernis vorliegt und dem Grundrechtsschutz des Ausländers nicht durch eine Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des räumlichen Geltungsbereichs der Duldung ausreichend Rechnung getragen werden kann.

b) Diese Voraussetzungen könnten im vorliegenden Fall gegeben sein. Die Antragstellerin hat durch Vorlage von ärztlichen Attesten glaubhaft gemacht, dass ihr Ehemann pflege- und betreuungsbedürftig ist, dass die Pflege und Betreuung durch sie erfolgt und nicht in gleicher Intensität von Dritten geleistet werden könnte und dass ein Umzug ihrem Ehemann aufgrund seines Krankheitsbildes nicht zumutbar ist. Trifft dies zu, würde sich aus diesen Umständen ein durch Art. 6 Abs. 1 GG begründetes Abschiebungshindernis ergeben. Der Antragstellerin dürfte es in dieser Situation nicht zuzumuten sein, ihre familiäre Beziehung zu ihrem Ehemann, der auf ihre Pflege und Betreuung angewiesen ist, auch nur vorübergehend für die Durchführung des Visumsverfahrens zu unterbrechen. Das dauernde Angewiesensein des Ehemannes der Antragstellerin auf die Pflege und Betreuung durch die Antragstellerin gebietet es zugleich, die Antragstellerin für diesen Zweck am Aufenthaltsort ihres Ehemannes zu dulden. Allerdings hatte die Antragsgegnerin - aufgrund ihrer Rechtsauffassung, dass der Antragstellerin keine (zweite) Duldung für Hamburg erteilt werden könne - bisher noch keine Veranlassung, sich mit den von der Antragstellerin vorgebrachten Gründen auseinander zu setzen und sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Dazu wird sie nun im Zuge der - erforderlichen - Bescheidung des Antrags der Antragstellerin vom 17. März 2004 auf Erteilung einer Duldung Gelegenheit haben.

c) Die Antragsgegnerin besitzt auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 17. März 2004. Analog § 64 Abs. 2 S. 1 AuslG ist eine Duldung nicht von der Ausländerbehörde im abgebenden Bundesland, sondern nur von der Ausländerbehörde im aufnehmenden Bundesland zu erteilen. Auch § 51 Abs. 2 S. 2 AsylVfG, der - bei ehemaligen Asylbewerbern - ebenfalls analog herangezogen werden könnte, spricht dafür, dass bei einer länderübergreifenden (Um-)Verteilung die zuständige Behörde des Landes, für das die Duldung begehrt wird, über den Antrag zu entscheiden hat.

3. Ein die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigender Anordnungsgrund besteht aber nicht. Ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung - und damit die Vorwegnahme der Hauptsache, die zum sofortigen Übergang der ausländerrechtlichen Zuständigkeit für die Antragstellerin auf die Antragsgegnerin führen würde - ist die Antragstellerin gezwungen, sich zunächst weiter um die Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des Landes Niedersachen für die Dauer des Antrags- und gegebenenfalls Rechtsmittelverfahrens zur Erlangung einer Duldung in Hamburg zu bemühen. Es ist nicht zu erkennen, dass sich daraus für die Antragstellerin schwere und unzumutbare Nachteile ergeben. Würde die Antragstellerin weiterhin Erlaubnisse zum vorübergehenden Verlassen des Landes Niedersachsen erhalten, um sich bei ihrem Ehemann aufhalten zu können - was in dieser Situation geboten ist -, wären die Nachteile gegenüber einem Aufenthalt mit der begehrten Duldung für Hamburg zumutbar. Die Entfernung zwischen Hamburg und Lüneburg ist derart gering, dass sich für die Antragstellerin keine wesentlichen Nachteile daraus ergeben würden, ihre ausländerrechtlichen Angelegenheiten zunächst für einen vorübergehenden Zeitraum weiter in Lüneburg erledigen zu müssen. Falls die Antragstellerin hingegen keine weiteren Erlaubnisse zum vorübergehenden Verlassen des Landes Niedersachsen erhalten sollte und sogar versucht werden würde, ihre Ausreisepflicht durchzusetzen, müsste sie deswegen gerichtliche Hilfe vor dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht in Niedersachsen in Anspruch nehmen, in deren Rahmen ein Anspruch auf das vorübergehende Verlassen des Landes Niedersachsen bzw. die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung der Antragstellerin überprüft werden würde. Das Erfordernis der Inanspruchnahme weiterer gerichtlicher Hilfe würde aber keinen schweren und unzumutbaren Nachteil darstellen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts und dessen Änderung für die erste Instanz beruhen auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1, 25 Abs. 2 S. 2 GKG a.F., § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. des KostRMoG vom 5. Mai 2004.

Ende der Entscheidung

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