Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 06.03.2008
Aktenzeichen: 3 Bs 281/07
Rechtsgebiete: FreizügG/EU


Vorschriften:

FreizügG/EU § 11 Abs. 2
Soll der Familienangehörige eines Unionsbürgers nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes abgeschoben werden, setzt dies gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die ausländerbehördliche Feststellung des Nichtbestehens des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU auch dann voraus, wenn dieses Recht von vornherein nicht bestanden hat; die Feststellung des Nichtbestehens muss eindeutig und rechtsförmig sein.
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht Beschluss

3 Bs 281/07

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 3. Senat, durch die Richter Korth, Jahnke und Kollak am 6. März 2008 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. Dezember 2007 geändert. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, den Antragsteller abzuschieben, bevor sie ihm gegenüber eine Feststellung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU getroffen hat. Zugleich wird die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis dahin eine Duldung zu erteilen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

A.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Die Prüfung der mit der Beschwerde dargelegten Gründe ergibt, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts mit der dort gegebenen Begründung keinen Bestand haben kann (I.). Damit ist das Beschwerdegericht berechtigt und verpflichtet, seine Beschwerdeentscheidung ohne die Beschränkung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO anhand der für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geltenden allgemeinen Maßstäbe zu treffen, d.h. über die Beschwerde uneingeschränkt in eigener Kompetenz zu entscheiden (II.). Diese Prüfung führt zum Erfolg der Beschwerde.

I.

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt: Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, ein Aufenthaltsrecht aus einer Rechtsstellung als sorgeberechtigter Vater des die polnische Staatsangehörigkeit besitzenden - freizügigkeitsberechtigten - Kindes J W....... herleiten zu können. In der Geburtsurkunde des Kindes sei er weder mit seinem angeblichen Aliasnamen noch mit dem im vorliegenden Verfahren benutzten Namen aufgeführt. Der Kindesvater heiße vielmehr K..... W . in der von der Kindesmutter unterzeichneten Urkunde über die Erklärung der gemeinsamen Sorge trete der Name des Vaters nicht in Erscheinung. Die angeblich vom Antragsteller unterschriebene Erklärung zur gemeinsamen Sorge sowie zur Anerkennung der Vaterschaft und die Urkunde über die Zustimmung zur Vaterschaftsanerkennung seien nach seinem eigenen Vortrag falsch. Denn Vaterschaftsanerkennung und Sorgerechtserklärung wiesen als Erklärenden und die Zustimmungserklärungen wiesen als Drittperson den Aliasnamen mit dazugehörigem Geburtsdatum und nicht die vom Antragsteller nunmehr als richtig behauptete Identität aus.

Demgegenüber wendet der Antragsteller mit der Beschwerde ein: Das Abstammungsverhältnis sei durch seine Vaterschaftsanerkennung und die Zustimmung der Kindesmutter zur Vaterschaftsanerkennung belegt. Das Vaterschaftsverhältnis sei nicht an den Namen gebunden, sondern an die Person, die mit dem Namen bezeichnet werde. Es sei daher für das Bestehen der familiären Beziehung nicht erheblich, unter welchem Namen die Anerkennung erfolgt sei, sondern dass es hinsichtlich der Person selbst die Sicherheit der Übereinstimmung gebe. Die in der Akte befindliche Urkunde über die Sorgeerklärung enthalte den Hinweis, dass R K sich mit der Duldung Nr. ausgewiesen habe. Diese Duldung sei in Kopie beigefügt. Es könne daher keinen Zweifel geben, dass die Person, die sich mit der Duldung als R K ausgewiesen habe, die Vaterschaftsanerkennung und Sorgeerklärung ausgesprochen habe.

Die Einwendungen des Antragstellers treffen zu. Denn eine Vaterschaftsanerkennungserklärung und eine Sorgerechtserklärung sind nicht deshalb unwirksam, weil die Identität des Erklärenden nicht nachgewiesen ist; es reicht aus, wenn die Erklärungsperson als solche, d.h. unabhängig von ihren richtigen Personalien, feststeht (vgl. BayObLG, Beschl. v. 9.11.2004, FamRZ 2005, 825; Beschl. v. 16.11.2004, NJW-RR 2005, 303; Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 1594 Rn. 2). Dass der Antragsteller die Vaterschaftsanerkennungserklärung und die Erklärung über die gemeinsame Sorge abgegeben hat, geht daraus hervor, dass sich der Antragsteller laut den entsprechenden Urkunden jeweils mit einer nummernmäßig bezeichneten Duldungsbescheinigung ausgewiesen hat und dass die Duldungsbescheinigungen, die mit einem Lichtbild und der Unterschrift des Antragstellers versehen sind, sich im Original bzw. in Fotokopie in der Ausländerakte befinden. Ohne dass es noch darauf ankommt, sei angemerkt, dass in der polnischen verkürzten Abschrift der Geburtsurkunde vom 17. Juli 2007 der Name des Vaters zwar mit "K W " angegeben ist. Dies dürfte jedoch darauf beruhen, dass die Beurkundung der Geburt eines außerehelich geborenen Kindes so abgefasst wird, dass aus der - verkürzten - Geburtsurkunde die Tatsache der außerehelichen Geburt nicht mehr ersichtlich ist (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Polen, Stand: 20.4.2006, S. 32). In Art. 42 Abs. 2 des polnischen Gesetzes über das Recht der Personenstandsurkunden vom 29. September 1986 heißt es nämlich, dass dann, wenn eine Vaterschaftsanerkennung oder gerichtliche Vaterschaftsfeststellung nicht erfolgt ist, in die Geburtsurkunde des Kindes als Vorname des Vaters der vom gesetzlichen Vertreter des Kindes angegebene Vorname und als Familien- und Geburtsname des Vaters der Familienname der Mutter eingetragen werden (zitiert bei Bergmann/Ferid/Henrich, a.a.O., S. 73).

II.

Da sich aus den Darlegungen des Antragstellers somit ergibt, dass der angefochtene Beschluss mit der darin gegebenen Begründung keine tragfähige Grundlage hat, hat das Beschwerdegericht eigenständig über die Beschwerde zu entscheiden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2002, NordÖR 2003, 67).

1. Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu untersagen ist, den Antragsteller abzuschieben, bevor sie ihm gegenüber eine Feststellung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU getroffen hat. Es bestehen (knapp) hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Vorschrift des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU auf den Antragsteller anwendbar ist.

Nach dieser Bestimmung findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat, sofern dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft. Die Vorschrift des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ist gemäß § 1 FreizügG/EU auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen anwendbar; das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts ist gegenüber diesem Personenkreis auch dann festzustellen, wenn es von vornherein nicht bestanden hat (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, BT-Drucks. 15/420 S. 106; GK-AufenthG, § 11 FreizügG/EU Rn. 29; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 FreizügG/EU Rn. 38 f.). Die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Abschiebung des Antragstellers bedeutet die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes. An der nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU erforderlichen förmlichen Feststellung fehlt es bisher. Weder das Hinweisschreiben der Antragsgegnerin vom 14. November 2007 noch der an das Verwaltungsgericht gerichtete Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 22. November 2007, mit dem der nach § 123 VwGO gestellte Antrag des Antragstellers als unbegründet bezeichnet worden ist, kann als eine gegenüber dem Antragsteller abgegebene eindeutige und rechtsförmige Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gewertet werden.

Es spricht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller als Familienangehöriger im Sinne des § 1 FreizügG/EU anzusehen ist. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren.

a) Der am 1. Mai 2007 geborene polnische Staatsangehörige J W dürfte gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sein, weil er - durch seine Mutter - über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen dürfte (vgl. in diesem Zusammenhang EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Rechtssache Chen, InfAuslR 2004, 413, 414).

b) Es gibt gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller Vater des J W ist. Die Vaterschaftsanerkennung des Antragstellers dürfte sich gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EGBGB primär nach deutschem Recht richten, weil das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Die Voraussetzungen der §§ 1594, 1595 und 1597 BGB dürften erfüllt sein. Gewisse Zweifel an der Wirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung könnten sich allerdings aus Art. 23 Satz 1 EGBGB ergeben, wonach die Erforderlichkeit und die Erteilung der Zustimmung der Kindesmutter zu einer Abstammungserklärung zusätzlich dem Recht des Staates unterliegen, dem das Kind angehört. Demnach ist zusätzlich polnisches Recht anzuwenden. Nach Art. 77 § 1 des polnischen Familien- und Vormundschaftsgesetzbuchs vom 25. Februar 1964 - FVG - (abgedruckt bei Bergmann/Ferid/Henrich, a.a.O., S. 55) ist für die Anerkennung eines minderjährigen Kindes die Zustimmung seiner Mutter erforderlich (insoweit wie im deutschen Recht). Allerdings kann die Zustimmung gemäß Art. 78 § 2 FVG entweder vor der Anerkennung oder gleichzeitig mit dieser oder innerhalb von drei Monaten nach der Anerkennung erklärt werden. Die Zustimmung der Kindesmutter zur am 20. Februar 2007 erfolgten Vaterschaftsanerkennung ist erst am 25. September 2007 und damit nicht innerhalb von drei Monaten erklärt worden. Ob dies nach dem insoweit maßgeblichen polnischen Recht (vgl. hierzu Palandt, a.a.O. Art. 23 EGBGB, Rn. 3) aber zur Unwirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung geführt hat, kann im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht abschließend beurteilt werden.

c) Die Voraussetzung, dass das Kind J W dem Antragsteller Unterhalt gewährt, liegt nicht vor.

Jedoch kommt in Betracht, dass der Antragsteller als Familienangehöriger des Kindes zu behandeln ist, wenn er als Elternteil für den im Kleinkindalter stehenden J W tatsächlich sorgt, d.h. die Personensorge effektiv ausübt. Der Europäische Gerichtshof hat in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt und das Kleinkind wohl zusätzlich finanziell unterhalten hat, dem betreffenden Elternteil ein Recht als Familienangehöriger zuerkannt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.2002, Rechtssache Baumbast, InfAuslR 2002, 463, 466, Rn. 71 bis 75; Urt. v. 19.10.2004, Rechtssache Chen, InfAuslR 2004, 413, 415, Rn. 45 f.). Möglicherweise gilt diese Rechtsprechung auch für beide Elternteile, die effektiv für das betreffende Kleinkind sorgen und von denen nur ein Elternteil das Kind finanziell unterstützt. Dafür, dass der in Hamburg wohnende Antragsteller für das inzwischen in Kappeln bei seiner Mutter lebende Kleinkind tatsächlich sorgt, gibt es angesichts der gemeinsamen notariellen Erklärung des Antragstellers und der Kindesmutter vom 10. Dezember 2007 sowie der eidesstattlichen Versicherung der Kindesmutter vom 23. Januar 2008 - jedenfalls derzeit - ausreichende Anhaltspunkte.

d) Sofern sich bei weiterer Prüfung ergibt, dass der Antragsteller nicht oder nicht mehr als Familienangehöriger anzusehen ist, scheidet gemäß § 1 FreizügG/EU die Anwendbarkeit des Freizügigkeitsgesetzes/EU und damit auch die des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU aus. In diesem Fall bleibt es der Antragsgegnerin unbenommen, die Änderung des vorliegenden Beschlusses in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO und/oder des § 927 ZPO zu beantragen.

e) Eine vorbehaltlose Untersagung der Abschiebung scheidet aus, weil es keine genügenden Hinweise darauf gibt, dass der Antragsteller freizügigkeitsberechtigt ist. Denn die Identität des Antragstellers, der entgegen der Vorschrift des § 5a Abs. 2 FreizügG/EU weder einen Pass noch einen Personalausweis besitzt, ist nicht geklärt. Zwar ist ihm am 29. August 2007 vom indischen Generalkonsulat ein Emergency Certificate für die Ausreise nach Indien ausgestellt worden. Jedoch macht der Antragsteller geltend, dass die in diesem Dokument enthaltenen Personalien unzutreffend seien. Die fehlende Identität eines Familienangehörigen dürfte seinem Freizügigkeitsrecht entgegenstehen (vgl. EuGH, Urt. v. 25.7.2002, Rechtssache MRAX, InfAuslR 2002, 417).

2. Zugleich ist die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen, bevor sie ihm gegenüber eine Feststellung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU getroffen hat (§ 11 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU i.V.m. § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

B.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Ende der Entscheidung

Zurück