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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 17.12.2003
Aktenzeichen: 1 UE 1440/03
Rechtsgebiete: BBG, BHV 1992


Vorschriften:

BBG § 79 S. 1
BhV 1992 § 9 Abs. 1 S. 1
Zum Begriff der Pflegeeinrichtung im Beihilferecht.
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes Urteil

1 UE 1440/03

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Beihilfe

hier: Gewährung eines Zuschusses zu den Aufwendungen der Heimunterbringung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 1. Senat - ohne mündliche Verhandlung aufgrund der Beratung vom 17. Dezember 2003 durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Kittelmann, Richter am Hess. VGH Kohlstädt, Richter am Hess. VGH Dr. Bark ehrenamtliche Richterin Böhme, ehrenamtlichen Richter Bertsch,

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 19. April 2001 - 7 E 2509/99 - aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt aus übergeleitetem Recht die Gewährung von Beihilfe für den 1936 geborenen Wolfgang N., der wegen einer krankheitsbedingten körperlichen und seelischen Behinderung dauernd pflegebedürftig ist und seit 1953 in den Neuerkeröder Anstalten der Evangelischen Stiftung Neuerkerode in 38371 Sickte, einer stationären Langzeiteinrichtung für geistig und mehrfach Behinderte, untergebracht ist. Der Kläger trägt als überörtlicher Träger der Sozialhilfe die Kosten dieser Unterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe. Der Beklagte gewährte auf Grund einer Überleitungsanzeige des Klägers vom 16. März 1976 bis zum 30. Juni 1995 Beihilfe in Form eines Zuschusses zu den Aufwendungen der Heimunterbringung.

Mit Bescheid vom 24. März 1998, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 1999, lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Beihilfe für den Zeitraum vom 1. Juli 1995 bis 30. Juni 1996 mit der Begründung ab, der Hilfsbedürftige sei in einer Langzeiteinrichtung für Behinderte untergebracht, die nach ihrer Zweckbestimmung nicht als Pflegeeinrichtung einzuordnen und daher nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Beihilfeverordnung (BhV) i. V. m. Ziff. 1.1 und 2.3 der "Richtlinien Heimunterbringung" des Beklagten nicht beihilfefähig sei.

Am 15. Juli 1999 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 24. März 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1999 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, für Herrn Wolfgang N. für die Zeit vom 1. Juli 1995 bis einschließlich 30. Juni 1996 den Zuschuss für die Aufwendungen der Heimunterbringung in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode zu bewilligen und an den Kläger auszuzahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen des vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Verwaltungs- und Klageverfahren wird gemäß § 130b Satz 1 VwGO auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 19. April 2001 - 7 E 2509/99 - stattgegeben. Zur Begründung wird ausgeführt, die Voraussetzungen eines gemäß § 90 BSHG übergeleiteten Anspruchs auf Zuschüsse nach § 79 Bundesbeamtengesetz (BBG) i. V. m. § 9 Abs. 1 Satz 1 BhV und den "Richtlinien Heimunterbringung" des Beklagten seien erfüllt. Bei den Neuerkeröder Anstalten handele es sich um eine nach modernen Grundsätzen betriebene Pflegeeinrichtung im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 BhV, in der neben der Langzeitunterbringung Behinderter auch der Zweck der Pflege verfolgt werde. Da der Begriff der Pflege nach modernem Verständnis auch begleitende betreuerische Maßnahmen umfasse, sei eine derartige Anstalt nur dann nicht beihilfefähig, wenn sie allein der Betreuung Behinderter diene. Zwar komme eine Einordnung als Pflegeeinrichtung nicht schon deswegen in Betracht, weil tatsächlich Pflegeleistungen erbracht würden. Maßgeblich sei der Zweck der Stiftung, der sich aus verschiedenen Indizien ergebe. Zum einen sei mit hohem Personalaufwand für Betreuung und Pflege eine Wohngruppe aus Schwerstbehinderten gebildet worden; des weiteren werde eine Vielzahl von Kranken in einer Epilepsie-Ambulanz betreut. Auch die Tatsache, dass in der Stiftung im Durchschnitt ein Mitarbeiter für zwei Behinderte zur Verfügung stehe, lasse den Schluss auf das Bestehen einer Pflegeeinrichtung zu.

Hiergegen richtet sich die mit Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juni 2003 - 3 UZ 1658/01 - zugelassene Berufung des Beklagten, die mit Schriftsatz vom 16. Juli 2003 fristgerecht begründet worden ist. Der Beklagte macht geltend, das Verwaltungsgericht habe in unzulässiger Weise von den in der Stiftung tatsächlich geleisteten Pflegemaßnahmen auf die Zweckbestimmung der Einrichtung geschlossen. Zur weiteren Begründung bezieht er sich auf einen Ausdruck der Internet-Präsentation (Homepage) der Evangelischen Stiftung Neuerkerode vom 18. Juli 2003, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 164 bis 171 der Gerichtsakte). Daraus gehe hervor, dass die Stiftung durch Betreuung und Unterbringung behinderter Menschen in Wohngruppen und durch Unterhaltung von Arbeitsstätten Hilfe zur Selbsthilfe leiste; der

Begriff der Pflege werde nicht aufgeführt.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt unter Hinweis auf sein erstinstanzliches Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 16. bzw. 29. Oktober 2003 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Klägers betreffend den Hilfebedürftigen (Band II, Bl. 205-555) Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten entscheidet der Senat über die Berufung ohne mündliche Verhandlung (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO).

Die zugelassene und auch im übrigen gemäß § 124a Abs. 6 VwGO zulässige Berufung hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hätte der auf Gewährung von Beihilfe in Gestalt eines Zuschusses zu den Kosten der Heimunterbringung gerichteten Klage nicht stattgeben dürfen; der dieses Begehren ablehnende Bescheid des Beklagten ist nicht rechtswidrig (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen eines Beihilfeanspruchs nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 79 Satz 1 BBG i. V. m. Ziff. 2.3 der "Richtlinien Heimunterbringung" des Beklagten sind nicht erfüllt.

Die Neuerkeröder Anstalten der Evangelischen Stiftung Neuerkerode stellen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine Pflegeeinrichtung im Sinne der "Richtlinien Heimunterbringung" des Beklagten dar. Ziff. 2.3 der Richtlinien entspricht inhaltlich der Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 BhV in der hier anwendbaren Fassung vom 2. April 1992 (GMBl. S. 210). Obwohl diese Vorschrift gemäß § 18 Abs. 6 BhV a. F. für die Deutsche Bundesbahn nicht galt, kann die hierzu ergangene Rechtsprechung sinngemäß zur Bestimmung des Begriffs der Pflegeeinrichtung in den Richtlinien des Beklagten herangezogen werden.

Nach der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Klärung der Frage, ob eine Pflegeeinrichtung im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 BhV a. F. vorliegt, auf den Zweck und den Charakter der Einrichtung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. August 1995 - 2 C 7.94 - ZBR 1996, 46). Danach muss die Einrichtung nicht ausschließlich, aber zumindest auch dem Zweck der dauernden Unterbringung und Pflege körperlich und geistig Kranker dienen.

Diesen Zweck verfolgt die Evangelische Stiftung Neuerkerode jedoch nicht unmittelbar. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus ihrer Selbstdarstellung in den Schreiben vom 20. Februar 1998 und 27. Januar 1999 (Bl. 465 bzw. 503 der Gerichtsakte) und aus ihrer vom Beklagten in das Verfahren eingeführten aktuellen Internetpräsentation. Die Stiftung dient danach der Unterbringung und Betreuung Behinderter mit dem Ziel der beruflichen und sozialen Eingliederung; die Hilfeart "Eingliederungshilfe" wird als Hauptzielrichtung der betrieblichen Tätigkeit angegeben (Bl. 503 d. A.). Zwar ist unstreitig, dass tatsächlich in einem gewissen Umfang auch pflegerische Maßnahmen erbracht werden, wie bereits dem Inanspruchnahmeangebot des Landessozialamts Niedersachsen vom 8. Juli 1985 (Bl. 504 bis 507 d. A.) zu entnehmen ist. In Anbetracht des primären Zwecks der beruflichen und sozialen Eingliederung Behinderter kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass eine gemischte, d. h. auch der Pflege körperlich und geistig Kranker dienende Einrichtung vorliegt.

Das Verwaltungsgericht hat ausgehend von einem zutreffenden Begriff der Pflegeeinrichtung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die rechtliche Einordnung der Einrichtungsart im Sinne der Ziff. 2.3 der "Richtlinien Heimunterbringung" letztlich an Hand von Indizien unter Würdigung der tatsächlich in den Neuerkeröder Anstalten geleisteten Pflegemaßnahmen vorgenommen. Dabei ist jedoch die subjektive Komponente der Zwecksetzung dieser Einrichtung vernachlässigt worden. Der Zweck einer Einrichtung ergibt sich in erster Linie aus der ihre Gründung tragenden und ihren Betrieb begleitenden Absicht. Diese liegt unzweifelhaft in der beruflichen und sozialen Eingliederung Behinderter im Wege der Hilfe zur Selbsthilfe. Personenbezogene Verrichtungen der Pflege wie z. B. medizinische Hilfeleistungen, das Betten und Lagern, die Hilfe beim An- und Auskleiden etc. (vgl. Ziff. 1 Satz 3 der Durchführungsverordnung zu § 9 Abs. 1 BhV, GMBl. 1985, S. 399) sind demgegenüber lediglich Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck der Einrichtung.

Aus den gleichen Erwägungen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Stiftung Neuerkerode um eine nach pädagogischen Grundsätzen betriebene Pflegeeinrichtung handelt. Es mag zwar zutreffen, dass eine nach modernem Verständnis praktizierte Pflege eine Kombination von Pflegemaßnahmen im eigentlichen Sinne und Betreuungsmaßnahmen darstellt. Betreibt eine Einrichtung jedoch schwerpunktmäßig die Betreuung zur sozialen Eingliederung, so kann dieser Schwerpunkt nicht dadurch verändert werden, dass die Einrichtung in Verfolgung ihres eigentlichen Zwecks zwangsläufig auch die im Rahmen der Betreuung auftretenden Bedürfnisse der Pflege zu erfüllen hat. Nach der hiervon abweichenden Einschätzung des Verwaltungsgerichts wären letztlich nahezu alle Einrichtungen, in denen Kranke behandelt oder betreut werden, als Pflegeeinrichtungen einzuordnen, da nicht auszuschließen ist, dass Patienten auf Grund ihres individuellen Krankheitsbildes auch begleitende Pflege benötigen.

Demgegenüber entspricht es dem in § 9 Abs. 1 Satz 1 BhV a. F. ebenso wie in den dieser Vorschrift nachgebildeten Richtlinien des Beklagten zum Ausdruck kommenden Willen des Versorgungsträgers, Beihilfe nur in den Fällen der Unterbringung in typischen Pflegeeinrichtungen zu gewähren. Ziel der Beihilfeleistungen ist es, dem Empfänger eine im Sinne des Beihilfezwecks optimale Versorgung zukommen zu lassen und eine zweckentfremdete Verwendung der Leistungen zu vermeiden. Der Vorschriftengeber hat sich dafür des Begriffs der Pflegeeinrichtung bedient. Optimale Pflege ist in aller Regel von denjenigen Einrichtungen zu erwarten, die die Pflege Kranker als Ziel verfolgen und dementsprechend über ausgebildetes Personal, Material und Fachwissen verfügen. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass auch Einrichtungen mit anderer Zielsetzung ähnlich gut ausgestattet sind und qualifizierte Pflegeleistungen erbringen. Im Rahmen von Richtlinien können jedoch regelmäßig nur abstrakt-generelle Fallgruppen erfasst werden, nicht hingegen jeder besonders gelagerte Einzelfall. Dem Dienstherrn steht bei der Ausgestaltung der Kriterien für die Gewährung von Beihilfeleistungen grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum zu, dessen Grenzen nicht überschritten sind, solange der Dienstherr seiner Fürsorgeverpflichtung gemäß § 79 BBG genügt.

Die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob für die Einordnung der Stiftung Neuerkerode als Pflegeeinrichtung im Sinne der Ziff. 2.3. der Richtlinien die Erteilung einer Erlaubnis nach § 6 Heimgesetz (HeimG) erforderlich ist, kann unerörtert bleiben, da die Stiftung bereits auf Grund ihrer Zwecksetzung nicht beihilfefähig ist. Unerheblich ist auch, welche Leistungsart der Sozialhilfe dem Hilfebedürftigen gewährt wird; denn hierauf kommt es für die beihilferechtliche Einordnung der Stiftung nicht an.

Als unterliegende Partei hat der Kläger gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision sind nicht gegeben (§§ 127 BRRG, 172 BBG, 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 709 Satz 1 ZPO. Da die vollstreckbaren Kosten des Beklagten voraussichtlich den Wert von 1.500,00 € übersteigen, kommt ein Ausspruch nach §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO nicht in Betracht.

Beschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 32.751,23 € festgesetzt.

Gründe:

Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren folgt aus §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GKG. Der Senat folgt ebenso wie das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. April 2001 der vom Beklagten vorgelegten Berechnung des Betrages der auszuzahlenden Beihilfe. Der Betrag von 64.055,83 DM ist in Euro umzurechnen, da die Berufung vor der Währungsumstellung eingelegt worden ist (vgl. § 73 Abs. 1 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).



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