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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 03.12.2007
Aktenzeichen: 11 UE 765/07
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 54 Nr. 5
AufenthG § 54 Nr. 7
AufenthG § 55 Abs. 1
AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2
AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3
Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können auch durch die Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen erfüllt sein, ohne dass die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 bis 7 AufenthG bereits vorliegen.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

11 UE 765/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 11. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich, Richter am Hess. VGH Debus

am 3. Dezember 2007

beschlossen:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 14. März 2007 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, falls der Kostengläubiger nicht seinerseits Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen seine Ausweisung. Er reiste im Alter von elf Jahren im Jahre 1978 im Rahmen der Familienzusammenführung zu seinen Eltern in das Bundesgebiet ein und erhielt mit Vollendung des 16. Lebensjahres im September 1983 erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die in der Folge mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis zum 5. Juni 2003. Am 2. Juni 2003 beantragte er die weitere Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

Nachdem Ermittlungen der Verfassungsschutzbehörden Verbindungen des Klägers zu der verbotenen Vereinigung "Kalifatstaat" ergeben hatten, wies die Beklagte durch Verfügung vom 12. April 2005 den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete insoweit die sofortige Vollziehung an, lehnte den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, forderte den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Die Verfügung geht davon aus, dass der Kläger durch seine Verbindungen zu der Vereinigung "Kalifatstaat" die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 und Nr. 6 AufenthG verwirklicht habe. Wegen der Einzelheiten wird auf die angegriffene Verfügung Bezug genommen. Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch ein.

In einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes stellte der beschließende Senat auf die Beschwerde des Klägers gegen eine anderslautende Entscheidung des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich der Ausweisungsverfügung wieder her bzw. ordnete die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Abschiebungsandrohung an (Beschluss vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05), weil die angegriffene Ausweisungsverfügung sich voraussichtlich nicht auf die von der Beklagten zugrunde gelegten Regelausweisungstatbestände nach § 54 Nr. 5, 5a, 6 AufenthG stützen lasse.

Im daraufhin ergangenen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 1. November 2006 wurde die Ausweisung als Ermessensausweisung aufrechterhalten. Zur Begründung heißt es, der Kläger beeinträchtige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland (§ 55 Abs. 1 AufenthG) und erfülle in diesem Zusammenhang besonders schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die seine Ausweisung erforderten. Hierdurch werde der besondere Ausweisungsschutz, den er aufgrund seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland genieße, überwunden.

Aufgrund der Feststellungen im Verwaltungsverfahren sei davon auszugehen, dass der Kläger Mitglied der verbotenen Vereinigung "Kalifatstaat" sei. Diese Vereinigung richte sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung. Der Kläger identifiziere sich mit den Zielen dieser Organisation und lehne die hiesige Ordnung ab. Dies spreche gegen eine erfolgte Integration sowie gegen seine Integrationsfähigkeit und -bereitschaft. Es bestehe ferner die Gefahr, dass er das Gedankengut der Organisation "Kalifatstaat" gleichsam als Multiplikator in sein gesellschaftliches Umfeld trage. Er beeinträchtige damit erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Dies gelte vermehrt unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er Vater dreier Kinder sei, so dass zu befürchten sei, dass er dieses Gedankengut an die Kinder weitergebe und auch deren Integration erschwere. Sein Verhalten gegenüber seiner Ehefrau zeige, dass er nichts vom Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau halte, sondern seine Ehefrau als sein persönliches Eigentum betrachte und sie auf Schritt und Tritt beobachte. Diese Umstände begründeten insgesamt schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, auch wenn der Kläger kein Funktionär, sondern lediglich einfaches Mitglied der Kaplan-Vereinigung "Kalifatstaat" sei. Es bestehe nämlich die Gefahr, dass im Bundesgebiet lebende Muslime als ganzes in den Augen der Bevölkerung mit den Vertretern solcher extremer Gruppierungen gleichgesetzt würden und dies könne im Interesse der hier integrierten ausländischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens nicht hingenommen werden. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat werde erschüttert, wenn ausländischen Staatsangehörigen, die verfassungsfeindlichen Organisationen angehörten, deren Ziel die Zerstörung unserer Ordnung sei, weiterhin ein Aufenthaltsrecht gewährt werde. Da die Kaplan-Vereinigung auch Agitation gegen Israel und die Juden allgemein betreibe, stelle weiter das Sicherheitsgefühl der hiesigen jüdischen Bevölkerung ein erhebliches Interesse der Bundesrepublik Deutschland dar, das durch den Kläger beeinträchtigt werde. Daneben sei seine mehrfache Straffälligkeit zu berücksichtigen.

Der Ausweisung stünden familiäre Bindungen des Klägers im Bundesgebiet zu seiner Ehefrau und den drei gemeinsamen minderjährigen Kindern nicht entgegen. Die Ehefrau sei der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht mächtig, deshalb sei davon auszugehen, dass in der Familie überwiegend türkisch gesprochen werde, so dass auch die drei Kinder der türkischen Sprache mächtig sein dürften und diese ebenso wie die Ehefrau eine Wiedereingliederung in der Türkei bewältigen könnten. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet sei mangels erfolgter Integration nicht geeignet, die Ausweisung als unverhältnismäßig erscheinen zu lassen. Der Widerspruchsbescheid wurde am 6. November 2006 zugestellt.

Am 14. November 2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat zur Begründung benannt, die Ausweisungsgründe nach § 55 AufenthG seien im Einzelnen in Absatz 2 aufgeführt. Soweit diese Tatbestände nicht erfüllt seien, könne nicht ohne weiteres auf Absatz 1 zurückgegriffen werden. Tatbestände nach § 54 AufenthG, die entgegen der Annahme des Ausgangsbescheids nach den gerichtlichen Feststellungen im Eilverfahren nicht gegeben seien, könnten nicht "unter dem Mantel" des § 55 Abs. 1 AufenthG subsumiert werden. Die Auswechselung der Ermächtigungsgrundlage sei missbräuchlich. Die Ausweisung sei ferner rechtswidrig, weil keine besonders schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorlägen. Eine Gefährdung der inneren Sicherheit durch seine Person könne nicht festgestellt werden.

Mit Urteil vom 14. März 2007 hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main die Klage abgewiesen. Die angefochtene Verfügung sei in Gestalt des Widerspruchsbescheides rechtmäßig. Die Voraussetzungen einer Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG lägen vor. Die Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ergebe sich aus der Mitgliedschaft des Klägers in einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation. Es sei dabei unerheblich, ob der Kläger in dieser Organisation Aktivitäten entwickelt habe oder lediglich passives Mitglied sei. Zur öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gehöre nämlich auch, dass der illegale Fortbestand verbotener verfassungsfeindlicher Organisationen nicht geduldet werde. Auch inaktive Mitglieder einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation trügen zu deren Fortexistenz im Untergrund bei. Aufgrund der Ermittlungen des Verfassungsschutzes stehe fest, dass der Kläger Mitglied der Organisation Kalifatstaat oder jedenfalls der Ümet Moschee sei, bei der es sich um einen dem Kalifatstaat zuzurechnenden Mitgliedsverein handele. Der dem Kläger zukommende erhöhte Ausweisungsschutz werde überwunden, weil besonders schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegeben seien. In der Rechtsprechung sei die Frage, ob die (lediglich) passive Mitgliedschaft in einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation bereits einen besonders schwerwiegenden Grund des § 56 Abs. 1 AufenthG darstelle, bisher noch nicht entschieden worden. In den von der Rechtsprechung behandelten Fällen sei es um die Gewichtung von Straftaten und die Gefahr der Fortsetzung oder Steigerung derartiger strafbarer Handlungsweisen gegangen. In diesem Zusammenhang orientiere sich die Rechtsprechung daran, dass die mehr lästigen als gefährlichen oder schädlichen Unkorrektheiten des Alltags, Ordnungswidrigkeiten und Übertretungen, Bagatellkriminalität und ganz allgemein die minderbedeutsamen Verstöße gegen Strafgesetze nicht die Qualität schwerwiegender Gründe erreichen könnten. Im vorliegenden Fall seien die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers zu geringfügig, um den besonderen Ausweisungsschutz zu überwinden. Nach Auffassung des Gerichts könne jedoch auch die lediglich passive Mitgliedschaft in einer verbotenen verfassungswidrigen Vereinigung eine Verhaltensweise darstellen, die das dringende Bedürfnis begründe, den betreffenden Ausländer aus der Bundesrepublik zu entfernen. Nur so könne das Sympathisantenumfeld ausländischer verfassungsfeindlicher Vereinigungen trockengelegt und damit der Vereinigung selbst die Existenzgrundlage entzogen werden. Während gewöhnliche Straftaten in erster Linie die Verletzung privater Rechtsgüter zum Gegenstand hätten und die Gesellschaft mit einem gewissen Stand an Kriminalität leben müsse und auch leben könne, rühre die Unterstützung organisierter verfassungsfeindlicher Bestrebungen an die Grundfesten der staatliche verfassten Gesellschaft selbst. Die Anforderungen an eine pflichtgemäße Ermessensausübung seien eingehalten. Das Urteil ist dem Kläger am 27. März 2007 zugestellt worden.

Am 2. April 2007 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und mit am 24. Mai 2007 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz begründet. Die Feststellung, er sei Mitglied der Organisationen Kalifatstaat oder Ümet-Moschee, sei unzutreffend. Nach dem Ergebnis des Eilverfahrens gehe keine Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von seiner Person aus. Bei der Ermessensausübung werde die Einschränkung, die sich in § 54 Nr. 5, 2. Halbsatz AufenthG bereits für einen Regelausweisungstatbestand ergebe, nicht beachtet. Seine Ausweisung sei ohne Bezugnahme auf Straftaten letztlich auf Mutmaßungen und Spekulationen gestützt, gegen die eine Verteidigung nicht möglich sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter Abänderung des Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 14. März 2007 die Verfügung der Beklagten vom 12. April 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 1. November 2006 aufzuheben und die Beklagte zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die angefochtenen Bescheide und das Urteil des Verwaltungsgerichts. Die festgestellte Unterstützung in einer verfassungsfeindlichen Organisation werde vom Kläger nur unsubstantiiert in Abrede gestellt.

Anders als noch im Zeitpunkt des Ergehens der angefochtenen Verfügung lebt der Kläger zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht mehr mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in Lebensgemeinschaft. Die Eheleute leben getrennt, die Kinder des Klägers leben bei den Schwiegereltern in Viernheim.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge (2 Bände) sowie die beigezogene Gerichtsakte des Eilverfahrens (VG Frankfurt 1 G 1579/05, Hess. VGH 12 TG 1911/05) Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 130a VwGO, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Verfügung der Beklagten vom 12. April 2005 ist in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 1. November 2006 rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Da die Ausweisung ohne Rechtsfehler erfolgte, hat der Kläger keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

Zu Recht hat die Widerspruchsbehörde die Ausweisung auf die Rechtsgrundlage des § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützt. Der Umstand, dass die Voraussetzungen einer Regelausweisung, hier nach § 54 Nr. 5, 5a, 6, 7 AufenthG, nicht erfüllt sind (siehe dazu den Beschluss des Senats im Eilverfahren vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05), hindert nach einhelliger Rechtsauffassung nicht den Rückgriff auf eine Ausweisung nach Ermessen (s. BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 - 1 C 11.99 - juris; Discher in GK-AufenthG, vor §§ 53 ff., Rdnr. 29.1).

Nach § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt und dies kann insbesondere bei einem nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gegen behördliche oder gerichtliche Entscheidungen oder Verfügungen der Fall sein.

Der Kläger ist zumindest Unterstützer der Organisation "Kalifatstaat" und des ihr zuzurechnenden Mitgliedsvereins "Ümmet-Moschee". Diese Feststellung beruht nicht nur auf Mutmaßungen und Spekulationen. In der angefochtenen Verfügung ist ausgeführt, dass am 19. September 2002 im Zuge einer polizeilichen Durchsuchung bei einem Vorstandsmitglied des Vereins "Ümmet-Moschee" in A-Stadt eine Mitgliederliste des Vereins gefunden wurde, aus der der Kläger als Mitglied hervorgehe. Ferner sind in der Wohnung des Klägers im Dezember 2003 63 Exemplare des Druckwerkes "Beklenen Asri Saadet", einem Verkündungsorgan des "Kalifatstaats", aufgefunden worden.

Bei der Vereinigung "Kalifatstaat" handelt es sich um eine durch Verfügung des Bundesministeriums des Innern vom 8. Dezember 2001 verbotene Vereinigung. Das Vereinsverbot ist seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 (- 6 A 4.02 -, NVwZ 2003, S. 986) bestandskräftig. In der Verfügung ist festgestellt, dass die Vereinigung "Kalifatstaat" sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtet sowie die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Der "Kalifatstaat" wolle unter der Führung des selbst ernannten "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" Metin Kaplan nicht nur das laizistische Staatsgefüge der Türkei beseitigen, sondern strebe darüber hinaus eine islamische Ordnung auf der Grundlage der Sharia mit dem Endziel der Weltherrschaft des Islam an. Den Äußerungen des "Kalifatstaats" sei zu entnehmen, dass er die Demokratie für mit dem Islam unvereinbar und für verderblich halte. Der "Kalifatstaat" beanspruche im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen eigene Staatsgewalt. Die Organisation verfolge ihre Ziele in kämpferisch-aggressiver Weise. Ihre Äußerungen seien hetzerisch und von Aufrufen zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem (politischen) Gegner geprägt. In der Propagierung gewaltsamer Mittel liege zugleich eine Gefährdung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Die Agitation gegen die Republik Türkei verstoße ebenso gegen den Gedanken der Völkerverständigung wie die Agitation gegen Israel und die Juden.

Der Kläger hat demnach durch seine auch über die bestandskräftige Verfügung hinausreichende weitere Unterstützung von Organisationen des "Kalifatstaats", gegen die Verbotsverfügung verstoßen und den Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Ferner ist der Kläger seit dem Jahre 2000 in einer Vielzahl von Fällen strafrechtlich verurteilt worden. Durch Urteile des Amtsgerichts A-Stadt vom 8. Mai 2000, vom 4. September 2000, vom 22. Mai 2001, vom 9. Oktober 2002, vom 30. Mai 2003, und vom 20. Januar 2004 ist er jeweils wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis bzw. Führens eines nichtversicherten Kraftfahrzeuges zu Geldstrafen zwischen 40 Tagessätzen und 90 Tagessätzen verurteilt worden. Durch Urteil des Amtsgerichts B-Stadt vom 5. April 2004 ist er ebenfalls wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstraße von 120 Tagessätzen verurteilt worden. Durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 3. Februar 2006 ist er nochmals wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, die Vollstreckung ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts A-Stadt vom 13. Februar 2006 ist der Kläger ferner wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt worden. Jede dieser Verurteilungen erfüllt den Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG.

Da der Kläger besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genießt, kann er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Solche Gründe liegen nach Auffassung des Senats vor. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat (BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -, juris, zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG m.w.N.). Im vorliegenden Fall bejaht der Senat solche schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Hinblick auf den fortgesetzten Verstoß des Klägers gegen die bestandskräftige Verbotsverfügung betreffend die Organisation Kalifatstaat in Verbindung mit hartnäckigen, von Uneinsichtigkeit geprägten (siehe dazu etwa das Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 03.02.2006, Urteilsabdruck S. 4) Straftaten des Klägers im unteren Bereich der Kriminalität.

Bei der Gewichtung des öffentlichen Interesses misst der Senat hier dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass die Verstöße des Klägers gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung sich zum Teil in einem Bereich bewegen, der relevant ist für die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes gegen totalitäre und verfassungsfeindliche Bestrebungen. Dies verstärkt das Gewicht des öffentlichen Interesses und gibt ihm hier ein deutliches Übergewicht gegenüber dem vom Gesetz bezweckten erhöhten Ausweisungsschutz des Ausländers. Der erhöhte Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 4 AufenthG beruht nämlich auf dem Gedanken der Integration des Ausländers in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Unterstützung von Organisationen, die das Menschenbild und das Staatsgefüge des Grundgesetzes ablehnen, zeigt demgegenüber, dass diese Integration trotz eines langen Aufenthalts in Deutschland defizitär geblieben ist.

Eine Überwindung des besonderen Ausweisungsschutzes durch das Vorliegen von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wird entgegen der Auffassung des Klägers nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eingreift. Nach dieser Vermutung liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 vor. Im Eilverfahren des Klägers hat der Senat festgestellt, dass - entgegen der ursprünglichen Auffassung der Beklagten - der Kläger die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG nicht erfüllt (siehe Beschluss vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05 -). Er ist weder Leiter des verbotenen Vereins "Kalifatstaat" noch kann festgestellt werden, dass er persönlich die freiheitlich demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, weil außer der bloßen Mitgliedschaft in der verbotenen Vereinigung keine konkreten Gefährdungshandlungen in seiner Person festgestellt werden können. Aus § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass dann, wenn der Regelfall eines Vorliegens von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht gegeben ist, die Feststellung von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von vornherein ausgeschlossen ist. Vielmehr können dann im Einzelfall solche schwerwiegenden Gründe geprüft und festgestellt werden (so VGH Mannheim, Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 -, juris Rdnr. 31; Hailbronner, AuslR, § 56 AufenthG, Rdnr. 22).

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können auch außerhalb des Bereichs von Straftaten gegeben sein. Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats aus dem Verweis in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf § 54 Nr. 7 AufenthG. Hieraus wird erkennbar, dass in der Vorstellung des Gesetzgebers schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung etwa auch dann vorliegen können, wenn jemand, wie in § 54 Nr. 7 AufenthG benannt, ohne Straftaten begangen zu haben, zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeiten Strafgesetzen zuwider laufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Schließlich kann aus der Zusammenschau von § 56 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 und § 54 Nr. 7 AufenthG noch weitergehend entnommen werden, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Einzelfall auch dann vorliegen können, wenn jemand als passives oder einfaches Mitglied einem in § 54 Nr. 7 genannten Verein angehört, ohne Leiter des Vereins zu sein.

Die Ermessenserwägungen der Widerspruchsbehörde sind nicht zu beanstanden. Die Behörde entscheidet sich zusammengefasst für die Ausweisung des Klägers vor allem wegen des erheblichen Interesses der Bundesrepublik Deutschland, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu bekämpfen. Damit soll den festgestellten schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zur Durchsetzung verholfen werden (S. 3 des Widerspruchsbescheides 3. und 4. Absatz). Der Hinweis des Klägers auf die Einschränkung des Regelausweisungstatbestandes nach § 54 Nr. 5 AufenthG auf Fälle gegenwärtiger Gefährlichkeit musste zu keiner anders vorzunehmenden Ermessensausübung führen. Die Widerspruchsbehörde stellt gegenwärtig vorliegende schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fest und geht im Rahmen der Ermessensausübung von einem gegenwärtigen erheblichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Ausweisung aus.

Diese Einschätzung hat die Beklagte untermauert durch die von ihr in das laufende gerichtliche Verfahren eingeführte Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht A-Stadt vom 13. Dezember 2006. Der Senat sieht in der "kommentarlosen" Übersendung des Urteils - anders als das Verwaltungsgericht - eine statthafte Ergänzung der Ermessenserwägungen (§ 114 Satz 2 VwGO). Denn die Behörde sieht sich mit ihren in den Verfügungen getroffenen Bewertungen bestätigt. Der Kläger ist in dem Urteil wegen Körperverletzung an seiner Ehefrau in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Diese strafrechtliche Verurteilung stellt die Verbindung her zu der in der Ausweisungsverfügung festgestellten verfassungsfeindlichen Einstellung des Klägers, weil hieraus erkennbar wird, dass nicht nur seine gedankliche Einstellung, sondern auch sein Handeln nicht mit Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), vereinbar ist. Die Widerspruchsbehörde hatte vor der Einführung des Urteils in das Ausweisungsverfahren schon festgestellt, dass der Kläger seine Frau wie sein persönliches Eigentum behandelt. Der Kläger ist dann strafrechtlich verurteilt worden, weil er seine Ehefrau mehrfach und in entwürdigender Art und Weise misshandelt hatte. Der ersten Tat lag zugrunde, dass der Kläger mit Arztbesuchen seiner Frau nach den Feststellungen des Strafgerichts generell nicht einverstanden war und deshalb seine Frau in der Regel heimlich zum Arzt ging. Als es ihr einmal nicht gelungen war, den Arztbesuch vor ihrem Mann geheim zu halten, hatte dies zur Folge, dass der Kläger sie körperlich misshandelte, indem er mit den Füßen auf sie eintrat und mit den Fäusten auf ihren Kopf schlug. Dem zweiten abgeurteilten Körperverletzungsdelikt liegt die Feststellung zugrunde, dass der Kläger in der Zeit vom 20. bis zum 27. Mai 2001 seine Frau jeden Tag schlug und würgte, diese in zwei Fällen ihren Hausarzt aufsuchen und sich entsprechende Bescheinigungen geben lassen konnte. An den übrigen Tagen sei es ihr nicht möglich gewesen, die Wohnung zu verlassen, da ihr Mann jeden Schritt überwacht habe. An einem Tag im Juli 2003 schlug der Kläger ferner seine Frau deswegen, weil sie nach seinem Dafürhalten zu laut für einen Besuch gewesen sei, der bei ihm geweilt habe. Eine weitere Verurteilung erfolgte wieder wegen Schlagens und Würgens, teilweise in Anwesenheit der Kinder im Kinderzimmer. Hierbei zerrte der Kläger seine Frau unter Schlagen mit der flachen Hand auf dem Kopf und in ihr Gesicht in das Schlafzimmer, schloss die Tür von innen ab, warf sie aufs Bett, setzte sich auf sie und drückte mit beiden Händen ihren Hals zu, so dass seine Frau kurzzeitig keine Luft bekam.

Schließlich sind auch die gegenläufigen privaten Interessen des Klägers in die Ermessensausübung eingestellt worden. Hinsichtlich der Berücksichtigung seiner familiären Situation (§ 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG) erhebt der Kläger im Hauptsacheverfahren keine Rügen mehr. Er lebt von seiner Familie getrennt.

§ 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens steht der Ausweisung des Klägers nicht entgegen. Nach dieser Bestimmung dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder bei besonders schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit ausgewiesen werden. Zwar kann sich der Kläger, der seit 1978 seinen ordnungsgemäßen Aufenthalt in Deutschland hat, auf diese Schutzbestimmung berufen, jedoch liegen besonders schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung vor, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bejaht werden können (vgl. BVerwG, 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O., zur Vorgängervorschrift des § 48 Abs. 1 AuslG).

Die Abschiebungsandrohung mit Ausreisefristsetzung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 AufenthG.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG.

Der Senat lässt die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, weil die Frage, ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch durch die Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen gegeben sein können, ohne dass die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 bis 7 AufenthG vorliegen, von grundsätzlicher Bedeutung ist.

Ende der Entscheidung

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