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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.07.2007
Aktenzeichen: 11 UZ 601/07
Rechtsgebiete: ARB 1/80, AufenthG, GG


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 7 Abs. 1 S. 1
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3
GG Art. 6
1. Es spricht Überwiegendes dafür, dass eine aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 ARB 1/80 nicht erworben werden kann, wenn zum Zeitpunkt des Familiennachzugs der türkischstämmige Arbeitnehmer bereits eingebürgert war.

2. Durch eine bestandskräftige Ausweisung und Abschiebung wird der Vorbehalt nach Art. 14 ARB 1/80 verwirklicht. Eine aufenthaltsrechtliche Position nach dem ARB 1/80 erlischt.

3. In Verfahren betreffend die Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung kann das Gericht bei einem Bescheidungsurteil in den Entscheidungsgründen einen zeitlichen Rahmen mit Festlegung einer Obergrenze für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens angeben.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

11 UZ 601/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 11. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richterin am Hess. VGH Thürmer, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich

am 23. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 15. Februar 2007 wird abgelehnt.

Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem die Beklagte die Wirkungen seiner im Jahre 2000 vollzogenen Abschiebung und der zugrunde liegenden Ausweisung auf den 3. November 2012 befristet hat, und begehrt eine Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und die Feststellung eines spätestmöglichen Zeitpunkts der Befristung. Das Verwaltungsgericht hob den angegriffenen Bescheid auf und verpflichtete die Beklagte zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, wobei in den Urteilsgründen ausgeführt ist, dass unter der Voraussetzung, dass der Kläger zwischenzeitlich in der Türkei nicht straffällig geworden ist, eine Befristung von deutlich unter 10 Jahren nach Abschiebung, bis maximal zum 31. Dezember 2007, zu erfolgen habe. Ermessensdefizite sah das Verwaltungsgericht zum einen in der Nichtberücksichtigung einer aufenthaltsrechtlichen Position des Klägers aus Art. 7 ARB 1/80 und zum anderen in der nicht hinreichenden Gewichtung der familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet.

II.

Der auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag der Beklagten ist zulässig, kann aber in der Sache keinen Erfolg haben. Denn das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts erweist sich im Ergebnis als richtig.

Allerdings erscheint zweifelhaft, ob die Begründung des Verwaltungsgerichts auch insoweit zutrifft, als eine aufenthaltsrechtliche Position des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 in der Argumentation herangezogen wird. Es erscheint fraglich, ob der bereits im Eilverfahren 8 G 2556/00 des Verwaltungsgerichts Darmstadt vertretenen Rechtsauffassung, eine aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könne auch dann erworben werden, wenn ein Familiennachzug zu einem bereits eingebürgerten ehemaligen türkischen Staatsangehörigen erfolgt (siehe dort S. 8 Beschlussabdruck), gefolgt werden kann.

Zunächst dürfte in diesem Zusammenhang zugrunde zu legen sein, dass der Kläger eine durch den Familiennachzug zu seinen Eltern als Zwölfjähriger im Jahre 1975 erworbene aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 ARB 1/80 aufgrund der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 29. Oktober 1980 und durch die anschließende Abschiebung verloren hat. Durch die bestandskräftige Ausweisung wird nämlich der Vorbehalt des Art. 14 ARB 1/80 verwirklicht. Als dem Kläger dann trotz zunächst illegaler Einreise im Jahre 1995 (erneut) ein Familiennachzug, diesmal zu seiner türkischstämmigen Ehefrau, ermöglicht wurde, war die Ehefrau des Klägers bereits in den deutschen Staatsverband eingebürgert worden. Jedenfalls dann, wenn zum Zeitpunkt der Genehmigung des Familiennachzugs der in Deutschland lebende Ehepartner schon nicht mehr die türkische Staatsangehörigkeit inne hat, kann Art. 7 ARB 1/80 bereits seinem Wortlaut nach ("türkische Arbeitnehmer") nicht mehr angewendet werden. Auch der Zweck der assoziationsrechtlichen Bestimmungen dürfte in dieser Situation gegen die Anwendung des Art. 7 ARB 1/80 sprechen. Denn durch diese Norm soll die Situation der in Deutschland in gefestigter Position auf dem regulären Arbeitsmarkt beschäftigten türkischer Arbeitnehmer dadurch verbessert werden, dass der Nachzug ihrer Familienangehörigen durch deren bevorzugte Integration in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtert wird. Wenn der ehemals türkische Staatsangehörige in Deutschland jedoch bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, ist der Familiennachzug unter den erweiterten Voraussetzungen für den Nachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen gestattet und der Anknüpfungspunkt des Familiennachzugs ist nicht mehr ein in Deutschland lebender türkischer Arbeitnehmer, sondern ein deutscher Staatsangehöriger. Unabhängig davon dürfte eine evtl. erworbene aufenthaltsrechtliche Position des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 durch die (erneute) bestandskräftige Ausweisung und Abschiebung (erneut) untergegangen sein, wie oben ausgeführt worden ist.

Die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden und die in diesem Rahmen ausgesprochene Maßgabe, dass eine Befristung bis maximal zum 31. Dezember 2007 angebracht ist unter der Voraussetzung, dass der Kläger zwischenzeitlich in der Türkei nicht straffällig geworden ist, erscheint im Ergebnis gleichwohl zutreffend. Die Feststellung eines Ermessensdefizits und die Vorgabe, eine Befristung unter bestimmten Voraussetzungen auf spätestens einen bestimmten Zeitpunkt hin auszusprechen, steht mit der Rechtsprechung des beschließenden Senats zu Fällen einer begehrten Befristung in Einklang. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auch die familiären Belange des Klägers und den ihnen zukommenden Schutz (Art. 6 GG) nicht hinreichend berücksichtigt gesehen und dies trägt bereits das Urteil selbständig. Im Einzelnen:

Die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG über die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung bietet der Ausländerbehörde ein geeignetes rechtsstaatliches Mittel dafür, die einschneidenden Folgen einer Ausweisung für die persönliche Lebensführung des Ausländers einzuschränken und zu verhindern, dass sich die ausländerrechtliche Maßnahme als unverhältnismäßiger Eingriff erweist (BVerfG, 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386; Hess. VGH, 28.10.1996 - 12 UE 628/96 -, DVBl. 1997, 913; Hess. VGH, 12.05.2004 - 12 UE 494/04 - n.v.). Die Ausländerbehörde kann hierdurch dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung eines straffällig gewordenen und verurteilten Ausländers mit einer zeitlich abgestuften Reaktion gerecht werden, die gleichzeitig seinen privaten Belangen, insbesondere dem durch Art. 6 GG gebotenen Schutz von Ehe und Familie hinreichend Rechnung trägt (BVerfG, a.a.O.). Die Bemessung der Länge der Frist steht im pflichtgebundenen Ermessen der Ausländerbehörde (Hess. VGH, 28.10.1996, a.a.O.). Für die Kriterien der Ermessensausübung kann auf die Maßstäbe des § 55 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG zurückgegriffen werden (Hess. VGH, 28.10.1996, a.a.O. zu den gleichlautenden Vorgängervorschriften im Ausländergesetz).

Hiernach hat das Verwaltungsgericht zu Recht bemängelt, dass die enge emotionale Bindung des im Jahre 1990 geborenen Sohnes des Klägers an seinen Vater nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Dieser Umstand tritt nicht gegenüber den begangenen Straftaten des Klägers zurück, weil die mit der Ausweisung in Bezug genommene Straftat nunmehr über neun Jahre zurückliegt, ferner bereits im Jahre 1999 die Sozialprognose der JVA Darmstadt nicht als ungünstig eingeschätzt worden war und der Kläger soweit ersichtlich in der Türkei nicht straffällig geworden ist. Der Kläger verbüßte vor seiner Abschiebung seine Strafe im Hinblick auf seine festen familiären Bindungen schon im offenen Vollzug und dies wurde lediglich im Hinblick auf die beabsichtigte Abschiebung des Klägers beendet. Der Sohn befindet sich heute noch in einem Alter, in dem die Anwesenheit des Vaters und seine Mitwirkung bei der Erziehung grundsätzlich notwendig ist.

Der Rechtsprechung des Senats entspricht es weiter, in Verfahren über die Befristung einer Ausweisung in den Entscheidungsgründen einen zeitlichen Rahmen mit Festlegung einer Obergrenze für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens anzugeben, um einerseits dem Wesen eines Bescheidungsurteils, das lediglich den Rahmen rechtmäßiger behördlicher Ermessensausübung festlegt, gerecht zu werden, und andererseits durch Hinweise für die konkrete Fristbemessung innerhalb des behördlichen Spielraums effektiven Rechtsschutz zu gewähren (siehe bereits Hess. VGH, 28.10.1996, a.a.O.; 12.05.2004, a.a.O.). Hiernach erweist sich die Vorgabe des Verwaltungsgerichts, eine Befristung bis maximal zum 31. Dezember 2007 unter der Voraussetzung auszusprechen, dass der Kläger zwischenzeitlich in der Türkei nicht straffällig geworden ist, als richtig. Der Senat hat etwa in dem Urteil vom 12. Mai 2004 (a.a.O.) ausgeführt, dass im Fall eines türkischen Staatsangehörigen der im Jahre 1997 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und im Januar 2000 in die Türkei abgeschoben worden war, im Hinblick auf die stabile und intakte Beziehung zu seiner Ehefrau sowie im Hinblick auf das Vorhandensein von Kindern in Deutschland in einem Alter, in dem die Anwesenheit des Vaters und seine Mitwirkung bei der Erziehung grundsätzlich notwendig ist, eine Befristung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens so erfolgen muss, dass der dortige Kläger noch im Jahre 2004 nach Deutschland zu seiner Familie zurückkehren kann. Hiermit ist der Fall des hiesigen Klägers durchaus vergleichbar, der im Jahre 1998 wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und im Jahre 2000 in die Türkei abgeschoben worden ist. Zu Lasten des hiesigen Klägers konnte allerdings berücksichtigt werden, dass er als junger Mann bereits im Jahre 1983 einmal nach Begehung von Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben worden ist und gleichwohl nach zunächst illegaler Rückkehr nach Deutschland sich erneut Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität zu Schulden kommen ließ. Dies rechtfertigte durchaus die Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet bis zum heutigen Zeitpunkt.

Der Senat hat schließlich in Entscheidungen zu Befristungssachen auf die Praxis mancher Ausländerbehörden hingewiesen, die Frist nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nach der Ausreise als "Faustregel" an der Länge der den Ausweisungsanlass bildenden strafgerichtlichen Verurteilungen zu orientieren, wobei allerdings im Einzelfall zu Lasten oder zu Gunsten des Betreffenden sprechende Umstände wie mehrmalige strafgerichtliche Verurteilungen oder besonders enge familiäre Bindungen in Deutschland gesondert zu berücksichtigen bleiben.

Die Entscheidungen über die Kosten und den Streitwert des Antragsverfahrens beruhen auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 52 Abs. 2 Satz 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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