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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 05.07.2000
Aktenzeichen: 12 TG 1554/00
Rechtsgebiete: ARB 1/80, EGV


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 7 S. 1
ARB 1/80 Art. 14
EGV Art. 39
1. Der Familienangehörige eines türkischen Staatsangehörigen, der dem regulären Arbeitsmarkt angehört, hat nach fünf Jahren ordnungsgemäßen Aufenthalts einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis aus Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80, ohne dass es auf sein Alter, ein andauerndes familiäres Zusammenleben oder Unterhaltsleistungen seitens des türkischen Staatsangehörigen ankommt.

2. Der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 steht nur der Vorbehalt des Art. 14 ARB 1/80 entgegen, sodass eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nur zum Zweck der Spezialprävention und nur unter den Voraussetzungen des Gefahrenbegriffs, der für freizügigkeitsberechtigte Angehörige der EG-Mitgliedstaaten gilt, gerechtfertigt ist.


Gründe:

I.

Der Antragsteller ist am ... 1975 in F. geboren und lebt dort seitdem gemeinsam mit seinen Eltern, die beide über Aufenthaltsgenehmigungen verfügen; sein Vater ist seit mehr als 30 Jahren bei der F. AG beschäftigt.

Die Ausländerbehörde erteilte dem Antragsteller auf seinen Antrag vom 24. Januar 1991 eine bis zum 22. März 1993 befristete Aufenthaltserlaubnis, deren Verlängerung er am 18. Januar 1993 beantragte. Am 6. Oktober 1993 setzte die Ausländerbehörde die Entscheidung aufgrund mehrerer Mitteilungen über gegen den Antragsteller eingeleitete Ermittlungsverfahren aus; mit Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 22. Mai 1991 wurde der Antragsteller zu einer Jugendstrafe von einem Jahr wegen Körperverletzung und Raub, auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, verurteilt. Mit Beschluß vom 16. November 1993 wurde die Jugendstrafe nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen. In der Folge gingen erneut verschiedene Mitteilungen über Ermittlungsverfahren sowie Anklageschriften gegen den Antragsteller ein, und er wurde außerdem wie folgt verurteilt:

- mit Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 04.08.1994 - 59 Js 6954.1/94-Hö 9c Ds - zu zwei Freizeiten Jugendarrest und Sperre der Fahrerlaubnis bis 11.02.1995;

- mit Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 14.09.1995 - 87 Js 11397.3/95-958 cs - wegen Handels mit Haschisch zur Erbringung von Arbeitsleistungen unter Verwarnung;

- mit Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 01.02.1996 - 41 Js 13504.1/95-Hö 9c Ds - wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung zur Erbringung von Arbeitsleistungen unter Verwarnung.

Nach Vorlage eines Arbeitsvertrages des Antragstellers erteilte die Ausländerbehörde diesem die Aufenthaltserlaubnis vom 30. Mai 1997 befristet bis zum 29. Mai 1998. In der Folgezeit gingen erneut Mitteilungen über Strafverfahren ein, von denen verschiedene zur Verurteilung durch Strafbefehl und zu Geldstrafen führten. Am 13. Mai 1998 beantragte der Antragsteller die Verlängerung seiner bis zum 29. Mai 1998 gültigen Aufenthaltserlaubnis.

Der Antragsteller begann im Jahr 1991 eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, die er jedoch im Jahr 1993 abbrach. Am 1. April 1992 hatte er eine unbefristete Arbeitserlaubnis erhalten. Er arbeitete vom 1. August 1995 bis zum 31. Juli 1996 für die Fa. S., vom 18. Oktober 1996 bis zum 31. Januar 1997 für die Fa. I., vom 19. März 1997 bis zum 30. September 1997 für die Zeitarbeitsfirma A. und vom 1. April 1998 bis zum 31. Dezember 1998 für die Fa. G., wobei es sich überwiegend um befristete Arbeitsverhältnisse handelte.

Mit Bescheid vom 27. August 1999 lehnte die Ausländerbehörde den Verlängerungsantrag des Antragstellers ab und drohte ihm die Abschiebung in sein Heimatland Türkei an. Zur Begründung führte sie an, dass der gemäß § 6 i.V.m. §§ 16 - 21 AuslG im Ermessenswege vorzunehmenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis der Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 AuslG entgegenstehe, da der Antragsteller mit der Vielzahl in der Vergangenheit begangener Straftaten einen persönlichen Ausweisungsgrund verwirklicht habe, und stützte sich hierbei im wesentlichen auf erneute Verurteilungen vom 5. Februar 1998 durch das Amtsgericht Hanau - 4 Js 16768.1/96-51 Ds - zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen gemeinschaftlich versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall, die für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie auf eine Verurteilung durch das Amtsgericht Frankfurt am Main vom 15. April 1998 - 6 Js 47778.5/97 Hü 96 Cs - zu einer Geldstrafe wegen versuchter Nötigung in zwei Fällen, in einem Fall zugleich mit Körperverletzung. Dabei falle negativ die begangene Serie von zwischenzeitlich 41 angezeigten Straftaten ins Gewicht, die eine Integration in den wirtschaftlichen und sozialen Bereich Deutschlands vermissen und erwarten lasse, dass auch zukünftig keine Verhaltensänderung eintrete, da die bisher verhängten Strafen offensichtlich keine Wirkung erzielt hätten. Gründe für eine Ausnahme von der Regelversagung seien nicht ersichtlich, insbesondere könne angesichts dieser Entwicklung seit 1990 nicht mehr von jugendtypischen Delikten ausgegangen werden. Vielmehr seien erneut, unter anderem am 25. März 1999 Straftaten zur Anzeige gebracht worden, und am 24. Februar 1999 sei eine Verurteilung vom 26. Mai 1998 durch das Amtsgericht Frankfurt am Main zu einer Geldstrafe rechtskräftig geworden. Es könne daher auch keine günstige Sozialprognose erstellt werden.

Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller am 9. September 1999 Widerspruch ein und stellte am 26. November 1999 Eilantrag bei dem Verwaltungsgericht. Zur Begründung berief er sich auf einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - sowie § 26 AuslG, sodass Art. 14 ARB 1/80 und aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Deutschland Art. 3 ENA anzuwenden seien. Die hiernach erforderlichen besonders schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seien nicht ersichtlich.

Den Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. März 2000 ab, da der im Ermessen stehenden Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ein Regelversagungsgrund entgegen stehe, Gründe für einen Ausnahmefall nicht ersichtlich seien und Art. 7 ARB 1/80 dem Antragsteller keinen Anspruch verschaffe, da dieser schon volljährig sei und außerdem dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe; denn er sei im September 1999 in Untersuchungshaft genommen worden und zu diesem Zeitpunkt beschäftigungslos gewesen.

Der beschließende Senat hat die Beschwerde mit Beschluss vom 3. Mai 2000 zugelassen. Zur Beschwerdebegründung legte der Antragsteller die Arbeitsverträge über seine bisherigen Beschäftigungsverhältnisse vor und trägt weiter vor, nach Ablehnung der Umschulung durch das Arbeitsamt im Oktober 1999 ein befristetes Beschäftigungsverhältnis eingegangen zu sein; seit Dezember 1999 habe er aufgrund fehlenden Ausweises über sein Aufenthaltsrecht kein Arbeitsverhältnis mehr eingehen können. Er lebe nach wie vor bei seinen Eltern und erhalte von ihnen derzeit Unterhalt.

Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren nicht Stellung genommen.

II.

Die vom beschließenden Senat mit Beschluss vom 3. Mai 2000 zugelassene Beschwerde ist auch sonst zulässig und begründet.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den ausländerbehördlichen Bescheid vom 27. August 1999 zu Unrecht abgelehnt. Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung sind nämlich offensichtlich rechtswidrig, und im Hinblick darauf überwiegt das persönliche Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen weiteren Verbleib in Deutschland unter Berücksichtigung seines besonderen Schicksals das öffentliche Interesse am Sofortvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen (BVerfG, 21.03.1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220 = EZAR 622 Nr. 1; BVerfG - Kammer -, 12.09.1995 - 2 BvR 1179/95 -; Hess. VGH, 22.09.1988 - 12 TH 836/88 -, EZAR 622 Nr. 6 = InfAuslR 1989, 14).

Ob dem Antragsteller ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aus § 21 Abs. 3 AuslG ohne weiteres zusteht, da er bei Eintritt der Volljährigkeit am 21. Januar 1993 im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis war, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von weiteren Voraussetzungen nach dem Ausländergesetz abhängig ist und ob dieser der Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 AuslG entgegen steht, kann offen bleiben, da der Antragsteller einen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis aus Art. 7 Satz 1 ARB hat mit der Folge, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 ARB versagt werden kann, die hier allerdings nicht erfüllt sind.

Der Antragsteller erfüllt die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80. Danach haben Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in dem betreffenden Mitgliedstaat, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH hat auch Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung, sodass türkische Staatsangehörige sich unmittelbar auf diese Bestimmung zur Begründung von Rechten berufen können (Urteil v. 17.04.1997 - C-351/95 -, EZAR 811 Nr. 30 - "Kadiman").

Der Vater des Antragstellers steht in einem langjährigen Arbeitsverhältnis mit der F. AG und verfügt über eine Aufenthaltsberechtigung. Da der Antragsteller in Deutschland geboren ist, zu diesem Zeitpunkt bis zu seinem 16. Lebensjahr von dem Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis gemäß der zum damaligen Zeitpunkt (am 21. Januar 1991) geltenden Fassung von § 2 Abs. 2 DVAuslG befreit war, mit unbeachtlicher Verspätung um wenige Tage die erforderliche Aufenthaltserlaubnis am 24. Januar 1991 beantragt hat und diese ihm zunächst auf zwei Jahre befristet bis zum 22. März 1993 erteilt sowie dann bis zum 29. Mai 1998 verlängert wurde, erfüllt er diese Voraussetzungen. Dem steht nicht entgegen, dass er zwischenzeitlich volljährig wurde; denn die Bestimmung enthält keine Altersgrenze (BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24.96 -, Buchholz 402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 11 = InfAuslR 1998, 4 ff; 12.12.1995 - 1 C 35.94 -, BVerwGE 100, 130 = EZAR 029 Nr. 1). Es kommt deshalb nicht darauf an, dass er nach wie vor mit seinen Eltern, die ihm derzeit auch den erforderlichen Lebensunterhalt gewähren, zusammenlebt. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sind nach drei Jahren Feststellungen zu einem andauernden familiären Zusammenleben nicht mehr zu treffen; denn das Erfordernis des Zusammenlebens besteht - grundsätzlich - nur im Fall des Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 (EuGH, 17.04.1997 - C-351/95 -, EuGHE 1997, I-2133 = EZAR 811 Nr. 30). Nach Ablauf dieser drei Jahre sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers in dieser Hinsicht von Voraussetzungen abhängig zu machen; denn die unmittelbare Wirkung dieser Bestimmung bewirkt von diesem Zeitpunkt an ein Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat, das zu seiner praktischen Wirksamkeit zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzt (EuGH, 16.03.2000 - C-329/97 - "Ergat").

Ebenfalls unbeachtlich ist der Umstand, dass der Antragsteller zwar zwischenzeitlich mehrfach Beschäftigungsverhältnisse eingegangen war, ohne jedoch eine der Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen. Zweck der Bestimmung des Art. 7 ARB 1/80 ist nämlich, Familienangehörige zu privilegieren, und dieser Zweck würde verfehlt, wenn ein Familienangehöriger, der schon beschäftigt war, ohne die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen, aus dem Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 1/80 herausfiele (BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24.96 -, a.a.O.; 12.12.1995 - 1 C 35.94 -, a.a.O.).

Der Antragsteller hat auch zum heutigen Zeitpunkt, auf den es insoweit ankommt, da eine Entscheidung über den Widerspruch noch nicht ergangen ist, seit mehr als fünf Jahren hier seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz; denn obwohl die Ausländerbehörde auf seinen Verlängerungsantrag vom 18. Januar 1993 ihm erst am 30. Mai 1997 eine Aufenthaltserlaubnis erteilte, nachdem sie im Oktober 1993 diese Entscheidung gemäß § 67 Abs. 2 AuslG ausgesetzt hatte, gilt mit der erneuten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auch sein zwischenzeitlicher Aufenthalt als rechtmäßig; denn ihm kam bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Ausländerbehörde die Erlaubnisfiktion des § 69 Abs. 3 Nr. 1 AuslG zu. Damit ist auch die Voraussetzung eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes gegeben; denn für die Berechnung des erforderlichen Zeitraumes ist auch die Zeit anzuerkennen, in der der Antragsteller nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis war, wenn - wie hier - die zuständige Behörde nicht aus diesem Grund die Ordnungsgemäßheit des Wohnsitzes in Frage gestellt, sondern eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt hat (EuGH, 17.04.1997 - C-351/96 -; so für vergangene Zeiträume auch BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24.96 -).

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts kommt es auch nicht darauf an, ob der Antragsteller dem Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt seiner Entscheidung grundsätzlich zur Verfügung stand. Dies setzt Art. 7 ARB 1/80 im Unterschied zu Art. 6 ARB 1/80 gerade nicht voraus (s. EuGH, 16.03.2000 - C-329/97 -), sodass es nicht entscheidend darauf ankommt, wie lange die Untersuchungshaft andauerte, in der der Antragsteller sich nach Verhaftung am 7. September 1999 befand (vgl. EuGH, 10.02.2000 - C-340/97 -, EZAR 816 Nr. 4, wonach bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 auch eine länger als ein Jahr andauernde Untersuchungshaft unschädlich ist, wenn der Betroffene wieder in einem Arbeitsverhältnis steht). Ebensowenig kommt es im Gegensatz zur Ansicht der Ausländerbehörde in dem angegriffenen Bescheid darauf an, inwieweit der Antragsteller den ihm zustehenden freien Zugang zum Arbeitsmarkt tatsächlich wahrgenommen hat oder aus welchen Gründen er daran gehindert war. Im übrigen verfügte er seit dem 1. April 1992 über eine unbefristete Arbeitserlaubnis, stand zum Zeitpunkt seines Verlängerungsantrags in einem Beschäftigungsverhältnis und hat bisher unwiderlegt vorgebracht, dass er nach der Ablehnung seines Antrags auf Umschulung durch das Arbeitsamt nur noch eine befristete Beschäftigung im Oktober 1999 eingehen konnte und ein erneutes Arbeitsverhältnis wegen seines ungesicherten Aufenthaltsstatus nicht zustande kam, sodass jedenfalls keine begründeten Zweifel daran bestehen, dass der Antragsteller von seinem aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 folgenden Recht auch Gebrauch machen will.

Da der Antragsteller die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt, hat er grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung der nach dem Ausländergesetz erforderlichen Aufenthaltserlaubnis; diese ist insbesondere unter Berücksichtigung des Art. 14 ARB 1/80, der den Mitgliedstaaten auch bei Erfüllung der Voraussetzungen der Art. 6 u. 7 ARB 1/80 die Möglichkeit der Aufenthaltsbeendigung einräumt, nicht nur deklaratorischer Natur (BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24.96, a.a.O.; a. A. Gutmann, Die Assoziationsfreiheit türkischer Staatsangehöriger, 2. Aufl. 1999 S. 131 f.). Der demnach von der Ausländerbehörde vorzunehmenden Verlängerung der am 29. Mai 1998 abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht der hier aufgrund der Anwendbarkeit des Assoziationsratsbeschlusses allein maßgebliche Vorbehalt des Art. 14 ARB 1/80 entgegen. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 10. Februar 2000 (- C-340/97 -, EZAR 816 Nr. 4 - "Nazli") mit der Entscheidung über die assoziationsrechtliche Unzulässigkeit einer generalpräventiven Ausweisung türkischer Arbeitnehmer, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 haben, endgültig klargestellt, dass das Assoziationsrecht als integrierender Bestandteil des Europarechts an dessen Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht teil hat und damit dem deutschen Ausländerrecht, das generalpräventive Ausweisungen selbst im Fall erhöhten Ausweisungsschutzes gemäß § 48 AuslG zulässt, vorgeht (so schon Hess. VGH, 14.06.1996 - 12 TG 1590/96 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 29.04.1993 - 18 B 4386/92 -, EZAR 043 Nr. 3; 21.12.1994 - 18 B 2440/97 -, EZAR 034 Nr. 5; BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24/96 -, a.a.O.; vgl. hierzu auch Glupe, Die Ausweisung türkischer Arbeitnehmer nach dem Nazli-Urteil des EuGH, ZAR 2000, 167 m. zahlreichen Nachweisen). Demzufolge ist der Gefahrenbegriff zugrunde zu legen, der für freizügigkeitsberechtigte Angehörige der EG-Mitgliedstaaten gilt; der in Art. 14 ARB 1/80 verwendete Begriff der öffentlichen Ordnung ist wie in Art. 39 EGV (ex Art. 48 EGV) auszulegen und setzt demnach voraus, dass außer der eingetretenen Störung der öffentlichen Ordnung, die bei jeder Gesetzesverletzung gegeben ist, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, 10.02.2000 - C-340/97 -, a.a.O.). Dies setzt eine konkrete Gefahr neuer erheblicher Störungen voraus, die von erheblichem Gewicht sein müssen (BVerwG, 15.07.1997 - 1 C 24.96 -, a.a.O.; 27.10.1978 - I C 91.76 -, BVerwGE 57, 61 = EZAR 124 Nr. 1; 15.05.1990 - 1 B 64.90 -, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 7; 5.11.1993 - 1 B 182.93 -).

Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller trotz der Vielzahl vorliegender Mitteilungen über die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren, Anklageschriften und mehrerer Verurteilungen (noch) nicht. Der Antragsteller wurde bisher nur in zwei Fällen zu Freiheitsstrafen verurteilt; davon ist in einem Fall die Strafe 1993 erlassen worden, sodass von dieser Verurteilung auch ausländerrechtlich kein Gebrauch mehr gemacht werden kann. In dem zweiten Fall, auf den die Ausländerbehörde auch ihre Versagungsentscheidung stützt, ist eine sechsmonatige Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden; auch diese Verurteilung führt weder allein noch unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Tat - es handelte sich um den Versuch des Diebstahls eines Automaten aus einem Vereinsheim - zur Bejahung schwerwiegender Gründe im vorstehend beschriebenen Sinn. Die übrigen Rechtsverstöße des Antragstellers wurden sämtlich mit Verwarnungen unter Arbeitsleistungen und höchstenfalls Geldstrafen geahndet, und auch die von der Ausländerbehörde vorgenommene Gesamtwürdigung der strafrechtlichen Auffälligkeit des Antragstellers vermag jedenfalls nicht das Bestehen einer konkreten Gefahr weiterer Rechtsverstöße, die die Grundinteressen der Gesellschaft berühren, zu begründen. Von den einundvierzig von der Ausländerbehörde angeführten Straftaten sind nur drei in der am 3. Juni 1998 erteilten Zentralregisterauskunft aufgeführt; davon handelt es sich neben der schon angeführten Verurteilung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe wegen des versuchten Einbruchdiebstahls um Straßenverkehrsdelikte, in einem Fall auch Hehlerei, die zu Jugendarrest von zwei Freizeiten nebst Verwarnung und einer Geldstrafe führten. In den übrigen aufgeführten Fällen ist entweder der Ausgang nicht bekannt, oder es kam teilweise zu Verfahrenseinstellungen, da sich beispielsweise in den auf Streitigkeiten zwischen verschiedenen türkischen und einer deutschen Familie beruhenden Delikten die Täterschaft aufgrund der gegenseitigen Bezichtigungen nicht eindeutig feststellen ließ. Wenn die Ausländerbehörde auch zu Recht festgestellt hat, dass angesichts der Gesamtentwicklung und des Alters, das der Antragsteller erreicht hat, nicht mehr von "jugendtypischen Delikten" ausgegangen werden kann, so fehlt es doch noch insgesamt an der aus dieser Entwicklung zu ziehenden Konsequenz konkreter, für die Zukunft zu befürchtender und erheblicher, die Grundinteressen der Gesellschaft berührender Gefahren. Auch die neuerliche Verhaftung im März 1999 wegen eines Handels mit Betäubungsmitteln erreicht angesichts der dabei umgeschlagenen Menge von drei Gramm Haschisch und einem Geldbetrag von fünfzig Deutsche Mark trotz der generell als höher einzustufenden Allgemeingefährlichkeit des Rauschmittelhandels (noch) nicht diese Schwelle. Auch die teilweise abgeurteilten sowie die zum Teil jedenfalls nach heutigem Kenntnisstand noch offenen Verfahren wegen Nötigung, teilweise in Zusammenhang mit Körperverletzungen, sind sowohl aufgrund der zugrunde liegenden Taten - überwiegend des Versuchs, zweifelhafte "Kaufpreisforderungen" gewaltsam durchzusetzen - als auch unter Berücksichtigung der Verurteilung zu Geldstrafen als nicht derart gewichtig zu beurteilen, dass selbst im zu befürchtenden Wiederholungsfall von der Berührung der Grundinteressen der Gesellschaft ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass seit Anfang 1999 keine neuerlichen Ermittlungsverfahren und damit Straftaten des Antragstellers bekannt geworden sind, sodass sich auch nicht die konkrete Gefahr neuerlicher Rechtsverstöße des Antragstellers aufdrängt. Da der Antragsteller in der Vergangenheit auch ernsthafte Anstrengungen unternommen hat, durch Arbeitsverhältnisse seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und Art und Schwere der von ihm begangenen Delikte nicht zwangsläufig den Schluss zulassen, dass diese der Deckung des Lebensunterhalts dienen sollten, und dies auch für die Zukunft zu erwarten ist, lässt sich auch insoweit zum heutigen Zeitpunkt die erforderliche tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft nicht begründen. Neue zwischenzeitlich eingetretene Entwicklungen, die noch nicht bekannt geworden sind, kann die Widerspruchsbehörde in ihrer noch nicht ergangenen Entscheidung über den Widerspruch berücksichtigen. Dabei wird allerdings zu bedenken sein, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Assoziationsrechts unter Berücksichtigung der entsprechenden Grundsätze des Gemeinschaftsrechts generalpräventive Gründe nicht nur im Rahmen des Ausweisungsermessens, sondern umfassend zu beachten sind und auch im Fall einer "Ist-Ausweisung" Anwendung finden (EuGH, 19.01.1999 - C-348/96 -, EZAR 810 Nr. 11 - "Calfa"), wobei zudem zu berücksichtigen ist, dass der Antragsteller in Deutschland geboren und aufgewachsen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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