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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 04.04.2000
Aktenzeichen: 12 TZ 577/00
Rechtsgebiete: GG, VwGO


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 124 Abs. 2
VwGO § 146
VwGO § 149
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann das Beschwerdegericht in besonders dringenden Fällen auch bereits im Zulassungsverfahren ohne Prüfung der Erfolgsaussichten einstweilige Regelungen zur Sicherung des Anspruchs auf wirksamen Rechtsschutz treffen und zu diesem Zweck einer Ausländerbehörde die Abschiebung eines Ausländers vorläufig untersagen.
Gründe:

Der Antragsgegnerin ist vorläufig zu untersagen, den Antragsteller abzuschieben, da anders effektiver Rechtsschutz für den Antragsteller nicht gesichert werden kann (Art. 19 Abs. 4 GG).

Der Antragsteller hat am 14. Februar 2000 die Zulassung der Beschwerde gegen den ihm am 2. Februar 2000 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 2000 beantragt, mit dem ihm vorläufiger Rechtsschutz hinsichtlich der mit Widerspruch angegriffenen ausländerbehördlichen Verfügung der Antragsgegnerin vom 23. März 1999 versagt wurde. Dem heute mit Fax gegen 9 Uhr eingegangenen Schriftsatz seines Bevollmächtigten zufolge betreibt die Antragsgegnerin nach seiner heutigen Festnahme seine Abschiebung auf dem Luftweg; diese soll seinem Vortrag zufolge heute um 11.00 Uhr vorgenommen werden.

Angesichts der erhöhten Eilbedürftigkeit sind gerichtliche Maßnahmen zur Sicherung des Anspruchs des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz unverzüglich ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin zu treffen.

Für das hier gegebene Verfahrensstadium sieht die Verwaltungsgerichtsordnung eine vorläufige Regelung nicht ausdrücklich vor. Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde entfaltet ebenso wenig aufschiebende Wirkung wie der zugrunde liegende Antrag auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 VwGO. Auch im Falle der Zulassung der Beschwerde ist die Ausländerbehörde an einer Vollziehung der angegriffenen ausländerbehördlichen Verfügung nicht gehindert, da diese sofort vollziehbar ist (vgl. § 72 AuslG; § 12 HessAGVwGO). Nur für das Verfahren über die Abschiebungsandrohung bei Unbeachtlichkeit des Asylantrags und nach Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist die Abschiebung während eines Verfahrens über einen rechtzeitig gestellten Stoppantrag gesetzlich ausgeschlossen (§ 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG). Ungeachtet dessen trifft die Behörden allgemein die verfassungsrechtliche Obliegenheit, während eines Gerichtsverfahrens um vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich von Maßnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen (vgl. BVerfG-Kammer, 04.06.1987 -; 1 BvR 620/87 -; NJW 1987, 2219). Deshalb sieht die Verwaltung grundsätzlich üblicherweise auf Anfrage oder Empfehlung des Gerichts von einem Vollzug während des Eilverfahrens ab ("Stillhaltezusage"). Hierauf besteht indes kein ausdrücklich geregelter Anspruch, und hierauf ist auch nicht unbedingt Verlass. Im Verhältnis des beschließenden Senats zu den Ausländerbehörden des Landes Hessen besteht seit über 10 Jahren die allgemein eingehaltene Übung, dass diese während eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens auch in der zweiten Instanz zunächst vom Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen absehen und, falls sie dennoch im Einzelfall derartige Vollzugsmaßnahmen planen, dies dem beschließenden Senat mindestens zwei Wochen zuvor ankündigen. Hierauf hat sich der beschließende Senat ebenso eingerichtet wie die um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchenden Ausländer und ihre Rechtsanwälte. Werden Vollzugsmaßnahmen während des zweitinstanzlichen Verfahrens von der Ausländerbehörde angekündigt, wird unverzüglich, meist innerhalb von drei Tagen entschieden. Damit ist im Regelfall sichergestellt, dass der durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz nicht durch eine Abschiebung faktisch zunichte gemacht oder zumindest ganz erheblich erschwert wird. Wird eine Stillhaltezusage nicht gegeben oder nicht eingehalten, verbleibt dem Gericht nur die Möglichkeit, dem Ausländer drohende Nachteile von sich aus durch geeignete Maßnahmen abzuwenden (vgl. BVerfG-Kammer, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, 12.07.1994 - 18 E 249/94 -, EZAR 622 Nr. 24). Es ist allgemein anerkannt, dass, wenn Vorkehrungen der geschilderten Art nicht getroffen oder nicht eingehalten werden, eine vorläufige Untersagung der Abschiebung eines Ausländers statthaft ist (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; OVG Sachsen-Anhalt, 29.04.1999 - B 2 S 232/99 -, InfAuslR 1999, 344, m.w.N.; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, Rdnr. 8/247). Damit wird dem Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen, die Behörde daran zu hindern, vor der gerichtlichen Kontrolle vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. dazu: BVerfG, 18.07.1972 - 1 BvR 23,155/73 -, BVerfGE 35, 385 = NJW 1974, 227 und 1043). Obwohl Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug garantiert und keine bestimmte Form des vorläufigen Rechtsschutzes vorsieht, wirkt diese Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung auch auf die Regelungen für das Rechtsmittelverfahren in der Weise ein, dass die gerichtliche Kontrolle in allen durch Gesetz eröffneten höheren Instanzen wirksam sein muss (BVerfG, 17.03.1988 - 2 BvR 233/84 -, BVerfGE 78, 88). Dies rechtfertigt einen "Schiebebeschluss" auch für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht/Verwaltungsgerichtshof (OVG Sachsen-Anhalt, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall ist die getroffene Regelung unumgänglich.

Eine sofortige Regelung zum Schutze des Antragstellers gegen Abschiebung kann nicht durch den Vorsitzenden des beschließenden Senats getroffen werden. Zwar kann gemäß § 80 Abs. 8 VwGO in dringenden Fällen der Vorsitzende entscheiden; diese Vorschrift regelt jedoch unmittelbar nur das erstinstanzliche Verfahren und ist im Beschwerdeverfahren nicht entsprechend anwendbar (Kopp, VwGO, 11. Aufl., 1998, § 80 Rdnr. 208). Es kann dahin stehen, ob der beschließende Senat einstweilige Regelungen über die Vollziehung der angegriffenen gerichtlichen Entscheidung auch schon vor Zulassung der Beschwerde gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO treffen und in diesem Zusammenhang der Ausländerbehörde die Abschiebung des Antragstellers vorläufig untersagen kann (vgl. dazu: Kopp, a.a.O., § 80, Rdnr. 191; Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, § 80 Rdnr. 243, § 146 Rdnr. 13 p); denn eine derartige Entscheidung erforderte eine zumindest überschlägige Prüfung des Zulassungsantrags und möglicherweise auch des angegriffenen Beschlusses und des zugrunde liegenden ausländerbehördlichen Bescheids, und die hierfür erforderliche Zeit steht wegen der besonderen Eilbedürftigkeit hier nicht zur Verfügung. Unter diesen Umständen erscheint es ausnahmsweise zulässig, den vom Antragsteller begehrten vorläufigen Rechtsschutz durch eine einstweilige Regelung ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussichten zu sichern (vgl. dazu: Kopp, § 149 Rdnr. 2; Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, § 80 Rdnr. 242, 244; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., 198, Rdnr. 1000, vgl. auch Rdnr. 1113). Der beschließende Senat sieht sich im vorliegenden Fall dazu veranlasst, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, weil sich die Antragsgegnerin in der Vergangenheit grundsätzlich an die dargestellte Übung gehalten hat, den Antragsteller aber gleichwohl ohne vorherige Unterrichtung des Senats abzuschieben beabsichtigt, obwohl ihr der Zulassungsantrag übermittelt worden ist und sie mit Schriftsatz vom 17. März 2000 (eingegangen beim Hess. VGH am 21.03.2000) zu dem Zulassungsantrag Stellung genommen und dessen Zurückweisung beantragt hat. Eine sofortige Entscheidung über den Zulassungsantrag ist dem beschließenden Senat nicht möglich, weil dies eine eingehendere Prüfung voraussetzt.

Eine Kostenentscheidung ist wegen des vorläufigen Charakters dieses Beschlusses nach §§ 154 ff. VwGO nicht vorgesehen.

Ende der Entscheidung

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