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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 16.04.2009
Aktenzeichen: 3 B 273/09
Rechtsgebiete: BauNVO, BauO Hessen


Vorschriften:

BauNVO § 22 Abs. 3
BauO Hessen § 6
Weist ein im Übrigen an die Nachbargrenze angebautes Gebäude einen Lichthof auf, der zur Belichtung von Aufenthaltsräumen dient, kann bei der Errichtung eines Gebäudes auf dem Nachbargrundstück eine Abweichung von der festgesetzten geschlossenen Bauweise spiegelbildlich im Umfang des Lichthofs oder, sofern das geplante höher als das vorhandene Gebäude ausfallen soll, im größeren Umfang erforderlich sein.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

3 B 273/09

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Baurechts (Nachbareilantrag)

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 3. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Blume, Richter am Hess. VGH Dr. Michel, Richter am VG Darmstadt Griebeling (abgeordneter Richter)

am 16. April 2009 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 19. Januar 2009 - 8 L 1/09.F (V) - aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 11. Dezember 2008 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 23. April 2008 in der Fassung der Ergänzungsbescheide vom 10. Juni 2008 und vom 27. August 2008 sowie gegen den Befreiungs- und Abweichungsbescheid vom 23. April 2008 wird insoweit angeordnet, als die Baugenehmigung die Errichtung einer Grenzwand im Bereich des Lichthofs des Gebäudes der Antragstellerin zulässt, die, soweit nicht angebaut wird, eine Abstandsfläche von 4,00 m nicht einhält.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf jeweils 50.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg. Der Beschluss ist aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) aufzuheben.

Dem Erfolg des Antrags der Antragstellerin steht entgegen der Annahme der Beigeladenen eine verspätete Geltendmachung des nachbarlichen Abwehrrechts nicht entgegen. Zwar kann sowohl das verfahrensrechtliche Recht eines Nachbarn, gegen eine Baugenehmigung Widerspruchs einzulegen, im Falle der Erfolglosigkeit dieses Widerspruchs Klage zu erheben sowie die Realisierung einer Baugenehmigung durch die Erhebung eines Eilantrags vorläufig zu unterbinden, ebenso durch Verwirkung verlorengehen wie das materielle Abwehrrecht des Nachbarn gegen das Bauvorhaben (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 16.05.1991 - 4 C 4/89 - NVwZ 1991, 1182). Die Voraussetzungen für die Verwirkung dieser Rechte liegen im vorliegenden Fall aber nicht vor. Obwohl es nahe lag, dass durch das Vorhaben der Beigeladenen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungs- und des Bauordnungsrechts verletzt werden, ist die Antragstellerin als Eigentümerin eines Nachbargrundstücks des Baugrundstücks weder gemäß § 62 HBO am Baugenehmigungsverfahren beteiligt worden noch ist ihr die Baugenehmigung zugestellt worden. Für den Widerspruch gegen diese Baugenehmigung lief für die Antragstellerin deshalb weder eine sich aus § 70 VwGO ergebende Monatsfrist noch eine aus § 58 Abs. 2 VwGO ableitbare Jahresfrist. Aus dem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis ergab sich aber, dass die Antragstellerin - um ihr Abwehrrecht nicht durch Verwirkung zu verlieren - verpflichtet war, den Widerspruch in entsprechender Anwendung der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO regelmäßig innerhalb eines Jahres nach sicherer Kenntnis von der Erteilung der Baugenehmigung einzulegen (vgl. das grundlegende Urteil des BVerwG v. 25.01.1974 - IV C 2/72 - BVerwGE 44, 294). Die Verwirkung kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts je nach den Umständen des Einzelfalls aber auch schon vor Ablauf einer Jahresfrist eintreten. Der zum Widerspruch Berechtigte muss aber, da eine Monatsfrist schon bei regulärer Zustellung der Baugenehmigung läuft, deutlich länger als ein Monat untätig geblieben sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.1991, a. a. O.). Für die Frage, was als "längere Zeit" der Untätigkeit anzusehen ist, während der ein Recht nicht ausgeübt worden ist, obwohl dies dem Berechtigten möglich gewesen wäre, lassen sich allgemein geltende Bemessungskriterien grundsätzlich nicht angeben. Es hängt vielmehr entscheidend von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, von welchem Zeitraum der Untätigkeit des Berechtigten im Hinblick auf die Gebote von Treu und Glauben von einer Verwirkung des Rechts die Rede sein kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.1991, a. a. O.).

Von der Beigeladenen und von der Antragstellerin wird zwar übereinstimmend angegeben, dass es schon vor Erteilung der Baugenehmigung - nach Angabe der Antragstellerin am 12. April 2007 - eine Besprechung zwischen Bevollmächtigten der Beigeladenen und der Antragstellerin gegeben habe, in der die Antragstellerin im Detail über das Bauvorhaben der Beigeladenen unterrichtet worden sei. Der Angabe der Beigeladenen, der Vertreter der Antragstellerin, Herr xxxxxxxx, dem die Planung vorgestellt worden sei, habe dabei und bei der nachfolgenden umfangreichen Korrespondenz und bei zahlreichen Gesprächen nicht im Ansatz erkennen lassen, dass die Antragstellerin gegen das Vorhaben vorgehen würde, wird aber von der Antragstellerin widersprochen. Die Antragstellerin gibt an, Herr xxxxxxxxxxx habe schon in den ersten Gespräch zum Ausdruck gebracht, dass einer vollständigen Verschließung des Lichthofs durch den geplanten Anbau nicht zugestimmt werde und darüber hinaus noch zahlreiche weitere Fragen im Rahmen einer Nachbarschaftsvereinbarung zu klären seien. Auch sei es nicht - wie dies die Beigeladene behaupte - zu einer mündlichen Einigung über technische Details des Vorhabens (Unterfangung mit Bodenankern) gekommen.

Nach der sich in den Bauakten befindlichen Baubeginnsanzeige der Beigeladenen wurde mit den Bauarbeiten am 15. September 2008 begonnen. Aus den Bauakten ist weiterhin ersichtlich, dass eine von der Antragstellerin am 3. Dezember 2008 bevollmächtigte Rechtsanwältin Akteneinsicht bei der Bauaufsicht der Antragsgegnerin genommen hat und dass mit am 12. Dezember 2008 bei der Antragsgegnerin eingegangenen Telefax Widerspruch gegen die Baugenehmigung erhoben wurde.

Aus diesen Umständen ergibt sich, dass die Antragstellerin sichere Kenntnis von der Erteilung der Baugenehmigung, soweit sich eine solche aus dem Beginn von Bauarbeiten ableiten lässt, erst ab September 2008 gehabt haben kann. Es steht auch nicht fest, dass ihr der genaue Inhalt der Baugenehmigung schon seit April 2008 bekannt war. Dagegen spricht, dass vor Einlegung des Widerspruchs noch Akteneinsicht in die Baugenehmigung genommen wurde. Es ist auch nicht zum Abschluss einer Nachbarschaftsvereinbarung gekommen. Jedenfalls nach der summarischen Prüfung der Sachlage, die in einem Eilverfahren allein möglich ist, ist deshalb nicht davon auszugehen, dass besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die Antragstellerin auch schon vor Ablauf eines Jahres nach sicherer Kenntnis von der Erteilung einer Baugenehmigung ihr Recht zur Erhebung eines Nachbarwiderspruchs verwirkt hätte. Der Mitte Dezember 2008 erhobene Widerspruch ist deshalb als fristgerecht anzusehen. Auch von einer Verwirkung des Rechts der Antragstellerin, vorläufig die Bauarbeiten in dem sie störenden Maße zu unterbinden, kann deshalb nicht ausgegangen werden.

Die Antragstellerin hat dargelegt, dass die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung gegen die nachbarschützende Vorschrift des § 22 Abs. 3 BauNVO verstößt. Die auf dem Grundstück der Antragstellerin (Gemarkung A-Stadt, Flur ..., Flurstück ..., X...straße ...) vorhandene Bebauung erfordert eine Abweichung von der geschlossenen Bauweise in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang.

Mit Ausnahme der erforderlichen Abweichung durfte das Vorhaben der Beigeladenen in geschlossener Bauweise errichtet werden. Am 23. April 2008, als der Befreiungs- und Abweichungsbescheid und die Baugenehmigung erteilt wurden, galt der Bebauungsplan Nr. 855 - Y...straße/X...straße noch nicht. Dieser Bebauungsplan wurde nämlich erst am 24. April 2008 als Satzung beschlossen und am 17. Juni 2008 ortsüblich bekanntgemacht. Es erscheint dem Senat auch zweifelhaft zu sein, ob die Baugenehmigung, wie dies die Antragsgegnerin annimmt, rechtmäßigerweise auf Grund des § 33 BauGB erteilt worden ist. Es fehlt jedenfalls an einer ordnungsgemäßen Anerkennung der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans für die Bauherrin und ihre Rechtsnachfolger im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 3 BauGB. Mit einem nicht von einem der Geschäftsführer der Beigeladenen unterschriebenen Schreiben der Beigeladenen vom 18. Januar 2008 hat diese nämlich lediglich die Einhaltung der Vorgaben des Bebauungsplans 855 mit dem Stand 20. März 2007 bestätigt. Dennoch ist bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung davon auszugehen, dass für das Baugrundstück aufgrund eines Bebauungsplans die geschlossene Bauweise festgesetzt ist. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. B. v. 22.04.1996 - 4 B 54/96 - NVwZ-RR 1996, 628 und B. v. 23.04.1998 - 4 B 40/98 - NVwZ 1998, 1179) ist es nämlich geklärt, dass im Rahmen einer Nachbarklage und damit auch im vorliegenden Eilverfahren nach der Erteilung der Baugenehmigung ergangene Rechtsänderungen zugunsten des Bauherrn berücksichtigt werden müssen. Im Gegensatz zum am 15. Januar 1968 bekanntgemachten Bebauungsplans Nr. 171, der keine Festsetzungen über die Bauweise enthielt, setzt der Bebauungsplan Nr. 855 geschlossene Bauweise fest. Diese Festsetzung der geschlossenen Bauweise ist nach der angeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugunsten des Beigeladenen anzuwenden.

Die Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung der Antragsgegnerin, u. a. für das Gebiet zwischen X...straße, XY...-Straße und X...gasse die geschlossene Bauweise festzusetzen, ist nach Auffassung des Senats nicht abwägungsfehlerhaft. Dieses im Kern der Antragsgegnerin gelegene Gebiet ist schon seit längerer Zeit in hoch verdichteter Weise in nahezu geschlossener Bauweise bebaut. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, bei einer Neubeplanung dieses Gebiets die faktisch schon vorhandene geschlossene Bauweise festzusetzen, erscheint jedenfalls nach der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sachlage nicht als abwägungsfehlerhaft. Sofern im Geltungsbereich des Bebauungsplans die vorhandene Bebauung Besonderheiten aufweist, die es nicht gerechtfertigt erscheinen lassen, an dieser Stelle geschlossen zu bauen, ermöglicht es § 22 Abs. 3 BauNVO, im Einzelfall eine Abweichung von der festgesetzten geschlossenen Bauweise vorzunehmen.

Eine solche Abweichung war bei der Bebauung des Baugrundstücks aufgrund der auf dem Grundstück der Antragstellerin vorhandenen Bebauung erforderlich. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass ein Fall einer erforderlichen Abweichung von der festgesetzten geschlossenen Bauweise etwa dann vorliegt, wenn die dem Baugrundstück zugewandte Wand des Nachbargrundstücks mehrere notwendige Fenster aufweist, die aufgrund der Besonderheiten der Bebauung nicht durch Fenster in der Vorder- und Rückseite ersetzbar sind, so dass eine Grenzbebauung dem Ziel, gesunde Wohnverhältnisse zu schaffen, diametral entgegenlaufen würde (vgl. BVerwG, B. v. 12.01.1995 - 4 B 197/94 - NVwZ-RR 1995, 310). Auch im vorliegenden Fall sind angrenzend an den Lichthof des Gebäudes der Antragstellerin mehrere Fenster vorhanden, die die Anforderungen des an die Stelle der Vorschriften über notwendige Fenster der früheren Fassungen der HBO getretenen § 42 Abs. 2 Satz 1 HBO erfüllen und nicht durch an anderer Stelle angebrachte Fenster ersetzt werden können. Eine bis an die Grenze des Baugrundstücks reichende Bebauung würde im Widerspruch zu der Forderung des § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB zu ungesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen führen.

Der Senat geht aufgrund der ihm vorliegenden, wegen der Vernichtung von Bauakten der Antragsgegnerin im zweiten Weltkrieg nur die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg umfassenden Baugenehmigungsunterlagen für das Grundstück der Antragstellerin davon aus, dass das Gebäude der Antragstellerin um das Jahr 1900 oder noch früher im Wesentlichen in der heute noch vorhandenen Kubatur, d. h. einschließlich des "Lichthofs" an der Rückseite des Gebäudes, errichtet wurde. Das Gebäude dürfte im zweiten Weltkrieg allenfalls geringfügig beschädigt worden sein. Die seit 1945 an dem Gebäude vorgenommenen Veränderungen sind - jedenfalls insoweit, als sie im vorliegenden Fall von Belang sind, - bauaufsichtlich genehmigt worden.

Der Lichthof an der Rückseite des Gebäudes dient der Belichtung und Belüftung von Aufenthaltsräumen, die bauaufsichtlich genehmigt sind. Dabei befindet sich an der Südseite des Lichthofs ein der Belichtung und Belüftung eines Aufenthaltsraums dienendes Fenster bereits im ersten Obergeschoss. Dieses Fenster gehört zu dem hinteren Raum im ersten Oberschoss des auf der Südseite im Erd- und im ersten Obergeschoss eingerichteten Ladens. Die genehmigte Nutzung dieses Raums ist durch die Baugenehmigung vom 15. Dezember 1997 nicht verändert worden. Es gilt die Baugenehmigung vom 31. August 1972 fort, die in Übereinstimmung mit der bereits am 9. Juli 1958 erteilten Baugenehmigung eine Nutzung dieses Raum für "Personal + Garderobe" vorsieht. Ein Aufenthaltsraum ist nach § 2 Abs. 9 HBO ein Raum, der zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet ist. Ein Aufenthalt ist nicht nur vorübergehend, wenn er nicht nur ganz kurzfristig ist. Nicht erforderlich sind der tägliche Aufenthalt und ein Aufenthalt über mehrere Stunden hinweg; wesentlich ist, dass dem Aufenthalt von Menschen in ihrer wechselnden Gesamtheit Dauer zukommt (vgl. Hornmann, Hessische Bauordnung - Kommentar, § 2 Rdnr. 136). Bei Anwendung dieser Grundsätze ist der Personalraum des Ladens ein Aufenthaltsraum, da die Bediensteten des Ladens ihn mehrfach am Tag zum Aufenthalt in ihren Pausen nutzen.

In der Nordseite des Lichthofs befindet sich im ersten Obergeschoss kein Fenster. Im zweiten Obergeschoss befindet sich jedoch eine Küche, die ein Aufenthaltsraum ist und mit einem zum Lichthof führenden Fenster versehen ist sowie ein Bad, das ebenfalls mit einem zum Lichthof führenden Fenster versehen ist. Dies ergibt sich aus dem Bauschein vom 31. August 1972, mit dem u. a. der Einbau eines Personenaufzugs genehmigt worden ist. Während ein Bad kein Aufenthaltsraum ist, da es nur zum vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt ist, ist eine Küche ein Aufenthaltsraum. Insoweit kann auf die früher in § 62 Abs. 1 HBO 1990 enthaltene Definition zurückgegriffen werden (vgl. Pfaff in Rasch/Schaetzell, Hessische Bauordnung, Stand: 30. Nachlieferung Februar 2009, § 2 Anm. 2.9). Wohn- und Kochküchen zählten nach der in § 62 Abs. 1 HBO 1990 enthaltenen Definition zu den Aufenthaltsräumen; Wasch- und Aborträume nicht.

Da sich in der Südseite des Lichthofs bereits im ersten Obergeschoss und in der Nordseite des Lichthofs im zweiten Obergeschoss je ein Fenster befindet, durch das ein Aufenthaltsraum belichtet und bei dessen Öffnung die Belüftung eines Aufenthaltsraum ermöglicht wird, kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass sich in den darüber liegenden Geschossen ebenfalls zum Lichthof ausgerichtete und genehmigte Fenster befinden, die der Belichtung und Belüftung von Aufenthaltsräumen dienen.

Der Raum im ersten Obergeschoss des Ladengeschäfts kann nicht auf andere Weise als durch das Fenster zum Lichthof hin mit Tageslicht beleuchtet und belüftet werden, da er durch eine Wand sowie durch eine Tür von Ladengeschäft abgetrennt ist und in der Ost- und in der Südwand kein Durchbruch geschaffen werden kann, weil das Gebäude der Beigeladenen dort angebaut wird. Die Küche im zweiten Obergeschoss kann jedenfalls deshalb nicht allein durch das zur X...straße hin angeordnete Zimmer mit Tageslicht beleuchtet und belüftet werden, weil dann die Vorschrift des § 42 Abs. 2 Satz 2 HBO über das Mindestrohbaumaß der Fensteröffnungen nicht eingehalten würde. Nach § 42 Abs. 2 Satz 2 HBO müssen Aufenthaltsräume Fenster mit einem Rohbaumaß der Fensteröffnungen von insgesamt mindestens einem Achtel der Grundfläche des Raums haben. Das zur X...straße angeordnete Zimmer hat zwei jeweils zwei Quadratmeter große Fensteröffnungen. Das Zimmer hat eine Grundfläche von ca. 26 m² und die Küche eine Grundfläche von ca. 12 m². Bei einer Gesamtgrundfläche von ca. 38 m² müssten die Fensteröffnungen ein Rohbaumaß von 4,75 m² haben.

Eine Abweichung von der durch den Bebauungsplan festgesetzten geschlossenen Bauweise ist auch - wie dies die Antragsgegnerin und die Beigeladene annehmen - nicht deshalb nicht erforderlich, weil die Antragstellerin durch den Rückbau des nach den Baugenehmigungsunterlagen 1,14 m in den Lichthof hineinragenden Aufzugs einschließlich der umliegenden Treppe sowie durch den Rückbau des den Lichthof nach den Baugenehmigungsunterlagen lediglich 80 cm nicht überdeckenden Tonnendachs selbst in der Lage wäre, für eine hinreichende Belichtung und Belüftung der Aufenthaltsräume zu sorgen. Abgesehen davon, dass der Senat Zweifel daran hat, ob allein durch den Rückbau des Aufzugs und des Daches eine hinreichende Belichtung und Belüftung sichergestellt werden könnte, steht dem der Umstand entgegen, dass sowohl der Einbau des Aufzugs und die damals noch nicht so weitgehende Überdachung des Lichthofs durch die Baugenehmigung vom 31. August 1972 als auch die heutige, weitgehende Überdachung des Lichthofs durch die Baugenehmigung vom 28. Februar 1992 gestattet wurden. Diese Baugenehmigungen können nur beim Vorliegen besonderer Umstände gemäß den §§ 48, 49 HVwVfG zurückgenommen oder widerrufen werden. Sowohl einer Rücknahme als auch einem Widerruf dürfte, selbst wenn man von einer Rechtswidrigkeit dieser Baugenehmigungen ausgehen wollte, der Umstand entgegenstehen, dass die Tatsachen, die die Rechtswidrigkeit begründen könnten (d. h. die Einengung bzw. Überdachung des Lichthofs), der Antragsgegnerin schon bei Erteilung dieser Baugenehmigungen und somit seit mehr als einem Jahr (§ 48 Abs. 4 HVwVfG bzw. § 49 Abs. 2 Satz 2 HVwVfG) bekannt waren.

Um der Forderung des § 42 Abs. 2 Satz 1 HBO zu genügen, dass Aufenthaltsräume ausreichend belüftet und mit Tageslicht beleuchtet werden müssen, ist es deshalb erforderlich, dass die von der Beigeladenen beabsichtigte Bebauung in dem Bereich, in dem kein Anbau an das Gebäude der Antragstellerin vorgesehen ist, einen Abstand von der Grundstücksgrenze einhält. Welcher Abstand bei Vorliegen eines Falles des § 22 Abs. 3 2. Alternative BauNVO einzuhalten ist, richtet sich nach dem landesrechtlichen Abstandsflächenrecht. Der Bundesverordnungsgeber lässt es nämlich damit bewenden, die Tatbestandsvoraussetzungen zu normieren, unter denen die Gebäude ausnahmeweise nicht ohne seitlichen Grenzabstand errichtet werden. Eine Rechtsfolgenregelung trifft er dagegen nicht. Das Bundesrecht lässt somit Raum für das insoweit einschlägige Landesrecht (vgl. BVerwG, B. v. 22.10.1992 - 4 B 210/92 - NVwZ-RR 1993, 176). Welche Abweichung von der geschlossenen Bauweise, d. h. welcher seitliche Grenzabstand erforderlich ist, richtet sich somit nach den Vorschriften über Abstandsflächen und Abstände des § 6 HBO. Dabei enthält die HBO mit § 6 Abs. 1 Satz 4 bereits eine Vorschrift, nach der gestattet oder verlangt werden kann, dass eine Abstandsfläche eingehalten wird, obwohl nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss, wenn auf dem Nachbargrundstück ein Gebäude mit Abstand zu dieser Grenze vorhanden ist. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist aber wegen des vorrangigen durch Bundesgesetz geregelten Bauplanungsrechts dahin eingeschränkt, dass eine auf § 6 Abs. 1 Satz 4 HBO gestützte Entscheidung auch eine planungsrechtliche Rechtfertigung besitzen muss (vgl. BVerwG, B. v. 12.01.1995, a. a. O.).

Bei Anwendung des § 6 HBO würde die einzuhaltende Abstandsfläche an sich mindestens drei Meter betragen (§ 6 Abs. 5 Satz 4 HBO) und die Tiefe der Abstandsfläche würde 0,4 der Wandhöhe betragen (§ 6 Abs. 4, 5 HBO). Im vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass zum einem der durch den Schriftsatz der Antragstellerin vom 14. April 2009 präzisierte Antrag der Antragstellerin lediglich dahin geht, dass die von der Beigeladenen beabsichtigte Bebauung im Bereich des Lichthofs eine Abstandsfläche von 4 m einhält. Nach der gemäß § 122 Abs. 1 VwGO auch im Eilverfahren anwendbaren Bestimmung des § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren, d. h. im vorliegenden Fall über den im Verfahren nach den §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrag, nicht hinausgehen. Dem Senat ist es schon deshalb verwehrt, der Beigeladenen vorläufig die Einhaltung einer Abstandsfläche von mehr als 4 m aufzugeben.

Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Antragstellerin die sich aus § 6 ergebende Abstandsfläche selbst nicht einhält. § 22 Abs. 3 BauNVO gleicht insoweit, als er, wenn die vorhandene Bebauung eine Abweichung erfordert, eine Ausnahme von der durch den Bebauungsplan festgesetzten geschlossenen Bauweise vorsieht, der Vorschrift des § 15 Abs. 1 BauNVO, die bestimmt, dass bauliche und sonstige Anlagen im Einzelfall unzulässig sein können, wenn sie aus bestimmten Gründen der Eigenart des Baugebiets widersprechen oder wenn von ihnen unzumutbare Belästigungen oder Störungen ausgehen oder sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Beide Bestimmungen regeln mögliche Ausnahmen von den Festsetzungen des Bebauungsplans und damit das nachbarliche Verhältnis der Planbetroffenen. Aus diesem Grund lassen sich nach Ansicht des Senats die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht ergebenden Voraussetzungen für die Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO, dem so genannten "Gebot der Rücksichtnahme", auf die Anwendung des § 22 Abs. 3 BauNVO übertragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. grundlegend: BVerwG, Urt. v. 05.08.1983 - 4 C 96/79 - BVerwGE 67, 334) sind bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 BauNVO die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen. Überträgt man diese Kriterien auf die Anwendung des § 22 Abs. 3 BauNVO im vorliegenden Fall, ist bei der Prüfung der Schutzwürdigkeit der Interessen der Antragstellerin zu beachten, dass ihr Gebäude im Bereich des Lichthofs die nach dem Abstandsflächenrecht des § 6 HBO einzuhaltenden Abstandsflächen nicht einhält. Bei einer Gebäudehöhe von ca. 20 m wäre auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass im Erdgeschoss auch der Bereich des Lichthofs überbaut ist, eine wesentlich tiefere Abstandsfläche einzuhalten als dies tatsächlich mit einer Abstandsfläche von 2,86 m (im Bereich des Aufzugs mit umlaufender Treppe) bzw. von 4 m (im übrigen Bereich) der Fall ist. Das Gebäude der Antragstellerin hält somit die vom Gesetzgeber u. a. für die Ermöglichung einer ausreichenden Belichtung vorgesehene Abstandsfläche selbst nicht ein. Dies spricht dafür, nicht von einer Verpflichtung der Beigeladenen auszugehen, die gesamte, sich aus § 6 HBO ergebende Abstandsfläche einzuhalten, sondern von einer Verpflichtung auszugehen, bei ihrem Gebäude im Bereich des Lichthofs in etwa die gleiche Abstandsfläche wie die Antragstellerin bei ihrem Gebäude, d. h. eine Abstandsfläche von 2,90 m bzw 3,00 m (was der Mindestabstandsfläche des § 6 Abs. 5 Satz 4 HBO entspräche) einzuhalten. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass das Gebäude, das die Beigeladenen errichten will, im Bereich des Lichthofs noch deutlich höher sein soll als das Gebäude der Antragstellerin. Bis auf einen Bereich von etwa einem Meter im nördlichen Teil des Lichthofs des Gebäudes der Antragstellerin soll das Gebäude, das die Beigeladenen errichten will, das Gebäude der Antragstellerin um etwa 4,30 m überragen; im dem Bereich von etwa einem Meter in nördlichen Teil des Lichthofs soll das Gebäude der Beigeladenen ca. 2,70 m höher als das Gebäude der Antragstellerin sein. Der Lichthof im Gebäude der Antragstellerin wird somit durch das von der Beigeladenen geplante, östlich des Lichthofs gelegene Gebäude bemerkbar weiter verschattet. Dies rechtfertigt es, die Abstandsfläche, die die Beigeladene im Bereich des Lichthofs des Gebäudes der Antragstellerin einzuhalten hat, gegenüber der Abstandsfläche, die der Lichthof zum Baugrundstück einhält, zu erhöhen. Die von der Antragstellerin mit ihrem Antrag selbst vorgeschlagene Abstandsfläche von 4 m, d. h. eine gegenüber der Abstandsfläche von ca. 2,90 m, die im Bereich des Lichthofs eingehalten ist, um 1,10 m erhöhte Abstandsfläche, erscheint dem Senat als nicht zu weitgehend bemessen, um die Verschattung des Lichthofs des Gebäudes durch das Gebäude, das die Beigeladene errichten will, auszugleichen.

Den von der Beigeladenen und der Antragstellerin vorgelegten Gutachten (Tageslichtsimulation der Beratenden Ingenieure für Lichtplanung Peter Andres vom 19. März 2009, vorgelegt von der Beigeladenen, und Gutachterliche Stellungnahme zur Tageslichtsimulation von Dr.-Ing. Köster vom 9. April 2009, vorgelegt von der Antragstellerin) kommen für die Entscheidung des Senats keine entscheidende Bedeutung zu. Abgesehen davon, dass die Gutachten jeweils von Beteiligten des Verfahrens in Auftrag gegeben wurden, bestehen auch sonst teilweise Bedenken gegen ihre Verwertbarkeit. Die Untersuchung der Beratenden Ingenieure für Lichtplanung Peter Andres beschreibt nämlich lediglich die Situationen, die eintreten würden, wenn entweder das Dach des Lichthofs des Gebäudes der Antragstellerin alleine oder zusammen mit dem Dach auch der Fahrstuhl zurückgebaut werden würde. Die Untersuchung von Dr.-Ing. Köster beschränkt sich darauf, Aussagen über die Tageslichtsituation auf einer fiktiven "Nutzebene" in acht Metern Höhe über den Lichthofboden für drei Position in einem Abstand von einem Meter vor Fenstern zu treffen. Die Untersuchungen gehen somit von nach der Lösung des Senats nicht zutreffenden bzw. nicht ganz realistischen Annahmen aus.

Der Senat konnte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nicht auf die von der Beigeladenen in ihrem Schriftsatz vom 3. April 2009 unter Beifügung entsprechender Bauvorlagen vorgeschlagene Abstandsfläche von ca. 1,90 m unter Verschiebung des Rücksprungs der Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen beschränken. Ein Rücksprung der Außenwand von lediglich 1,90 m ist nämlich nach Überzeugung des Senats nicht geeignet, eine ausreichende Belichtung und Belüftung der an den Lichthof im Gebäude der Antragstellerin angrenzenden Aufenthaltsräume sicherzustellen. Die nach § 22 Abs. 3 BauNVO einzuhaltende Abstandsfläche kann sich auch, nachdem das vorher auf dem Baugrundstück vorhandene Gebäude abgerissen wurde, nicht mehr an dem zuvor vorhandenen Rücksprung des Gebäudes ausrichten. Der Umstand, dass die vom Senat angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angesichts des inzwischen eingetretenen Baufortschritts des Gebäudes der Beigeladenen zu größeren technischen und wirtschaftlichen Problemen bei einer Umplanung führt - die Beigeladene spricht von einem technischen und wirtschaftlichen "Super-Gau" -, konnte vom Senat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt werden. Bei der Entscheidung war nämlich allein darauf abzustellen, wieweit Nachbarrechte der Antragstellerin als Eigentümerin des Gebäudes X...straße ... durch die Baugenehmigung verletzt werden. Im Unfang der Verletzung dieser Nachbarrechte war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin anzuordnen. Eine Abwägung hatte der Senat dabei, da die Baugenehmigung insoweit offensichtlich rechtswidrig ist, nicht vorzunehmen.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge zu tragen, weil sie unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO). Der Beigeladenen konnten keine Kosten auferlegt werden, weil sie keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Die Antragstellerin verfolgt mit ihrem Eilantrag das Ziel, eine weitgehende Verdunkelung der an den Lichthof angrenzenden Räume in fünf Geschossen ihres Gebäudes (erstes Obergeschoss bis Dachgeschoss) zu verhindern. Der Senat bewertet dieses Interesse mit 20 000 Euro pro Geschoss. Der sich somit ergebende Betrag von 100 000 Euro war wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung im Eilverfahren zu halbieren. Die Befugnis zur Abänderung der erstinstanzlichen Festsetzung des Streitwerts von Amts wegen beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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