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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 19.05.2004
Aktenzeichen: 3 UZ 2954/03
Rechtsgebiete: HHG


Vorschriften:

HHG § 1 Abs. 1
HHG § 10 Abs. 4
Das Häftlingshilfegesetz differenziert in seinem Schutzbereich auch bei der Frage des Vertretenmüssens in § 1 Abs. 1 HHG nicht zwischen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen.
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

3 UZ 2954/03

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Häftlingshilferechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 3. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Blume, Richter am Hess. VGH Dr. Michel, Richterin am Hess. VGH Lehmann

am 19. Mai 2004 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. Juni 2003 - 5 E 1578/99 (4) - wird abgelehnt.

Der Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 4.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor dieser Entscheidung bezeichnete Urteil bleibt ohne Erfolg, weil der Beklagte Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt hat. Er beruft sich ohne Erfolg auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und trägt dazu vor, der Auffassung des Gerichts, dass der Kläger die politischen Gründe der Inhaftierung nicht im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 Häftlingshilfegesetz (HHG) zu vertreten habe, könne nicht geteilt werden; die Gleichsetzung von DDR-Bürgern und deutschen Volkszugehörigen fremder Staatsangehörigkeit in der vom Gericht vorgenommenen Weise und ihre Auswirkung auf die Frage des Vertretenmüssens der Haft begegne erheblichen rechtspolitischen Bedenken und führe zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 HHG in dem hier maßgeblichen Prüfungsumfang gegeben sind und eine Differenzierung zwischen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen im Gesetz nicht vorgesehen ist.

Gemäß § 1 Abs. 1 HHG erhalten Leistungen nach Maßgabe der folgenden Vorschriften deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige, wenn sie 1. nach der Besetzung ihres Aufenthaltsortes oder nach dem 8. Mai 1945 in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin oder in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes genannten Gebieten aus politischen und nach freiheitlich demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenen Gründen in Gewahrsam genommen wurden ... und den gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes genommen haben.

Der Beklagte meint, der Kläger habe aufgrund der Tatsache, dass er nicht deutscher Staatsangehöriger, sondern lediglich deutscher Volkszugehöriger aus Rumänien sei, seine Inhaftierung vom 20. Juni 1958 bis zum 22. Juli 1964 zu vertreten, da ihm zuzumuten gewesen sei, sich den Verhältnissen seines Gewahrsamstaates anzupassen und Art. 11 GG für ihn nicht zur Anwendung käme. Dem kann im Ergebnis nicht gefolgt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. April 1978 - VIII C 55.77 - (BVerwGE 55, 314 - 320) ausgeführt, dass der Begriff des Vertretenmüssens in § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG als Maßstab für die Beantwortung der Frage diene, ob der politisch bedingte Gewahrsam dem System des Gewahrsamstaates oder dem Häftling zuzurechnen sei. Er sei daran ausgerichtet, bis zu welchem Grad dem Betroffenen zugemutet werden könne, sich an das System des Gewahrsamstaates anzupassen. Bei dieser Prüfung seien nicht ohne weiteres die im Geltungsbereich des Häftlingshilfegesetzes geltenden Rechtsanschauungen auf den Gewahrsamsstaat zu übertragen. Es sei nicht danach zu fragen, welches die Reaktion eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, wie der Bundesrepublik Deutschland, gewesen wäre. Es sei auch nur mit Einschränkung richtig, sich unmittelbar auf die Grundrechte zu stützen. Auszugehen sei vielmehr von den im Gewahrsamsstaat herrschenden Verhältnissen. Mit diesen Verhältnissen müssten die Betroffenen leben. Setzten sie sich in Widerspruch zu dem dortigen System, so sei ihnen ein dadurch erlittener politisch bedingter Gewahrsam nicht zuzurechnen, wenn ihnen die Anpassung an dieses System in dem tangierten Bereich nicht zugemutet werden könne. Maßstab für die Grenze des Zumutbaren sei nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG eine freiheitlich-demokratische Auffassung. Nach freiheitlich-demokratischer Auffassung sei die Ausreisefreiheit ein hohes Rechtsgut, das der Staat seinen Bewohnern so uneingeschränkt wie möglich gewähren müsse. Sie sei die Grundlage einer jeden freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung. Dieser Ausgangspunkt liege dem Häftlingshilfegesetz zu Grunde, das freiheitlich-demokratische Grundsätze ausdrücklich zum Maßstab des Vertretensmüssens erhebe. Dass in der praktischen Wirkung nahezu uneingeschränkte Verbot der Ausreise auf Dauer, das die DDR über ihre Bewohner verhängt habe, sei nicht freiheitlich. Der Einzelne müsse sich dem Machtanspruch entziehen können, der ihm eine wesensgemäße Entfaltung seiner Persönlichkeit verwehre. Ohne Ausreisefreiheit sei ein Staat auch nicht freiheitlich-demokratisch. Demokratie wolle die staatliche Gemeinschaft in der freien Mitwirkung der Einzelnen verwirklichen (vgl. insgesamt BVerwG, Urteil vom 12.04.1978, a. a. O., m. w. N.).

Dem schließt sich der Senat an. Nach den dort aufgestellten Kriterien hat auch der aus Rumänien gekommene Kläger seine Inhaftierung wegen illegalen Grenzübertritts nicht im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG zu vertreten, wobei das Häftlingshilfegesetz hinsichtlich seines Schutzbereiches nicht zwischen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen differenziert. Vielmehr stehen beiden Bevölkerungsgruppen bei Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen Leistungen nach Maßgabe der weiteren Vorschriften des Häftlingshilfegesetzes zu. Eine Differenzierung innerhalb der Zumutbarkeitskriterien ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht daraus, dass sich der Kläger als deutscher Volkszugehöriger nicht auf Art. 11 Abs. 1 GG berufen kann. Weder der Wortlaut des § 1 Abs. 1 HHG lässt eine derartige Differenzierung zu, da durch die in Bezugnahme der "freiheitlich-demokratischen Auffassung" eine Beschränkung der Hilfeleistung auf Grundrechtsträger offensichtlich nicht gewollt war, noch kann aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 1978 etwas anderes abgeleitet werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat in der bereits zitierten Entscheidung neben den bereits dargestellten Gründen darauf hingewiesen, dass in dem dort zu entscheidenden Fall hinzutrete, dass das Ausreiseverbot für die Betroffenen zugleich zu dem Verbot der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland führe und damit auch zu dem Verbot, das Grundrecht des freien Zuzugs für deutsche Staatsangehörige wahrzunehmen. Bereits aus der Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich entnehmen, dass der Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 GG ein zusätzliches Argument zu der bereits angenommenen Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung des § 1 Abs. 1 HHG war, der nicht kumulativ zu den in § 1 HHG formulierten Voraussetzungen hinzu zu treten hat und insbesondere nicht zu einer Einschränkung der Zumutbarkeitsschwelle führt.

Soweit der Beklagte meint, es werde in dem angefochtenen Urteil an keiner Stelle deutlich, dass die deutsche Volkszugehörigkeit des Klägers eine besondere Rolle gespielt habe und ausschlaggebend dafür gewesen sei, dass er in derart unzumutbarer Weise an die Einhaltung der Ausreisevorschriften gebunden gewesen wäre, als dass er keine andere Wahl gehabt habe, als den illegalen Ausreiseversuch, kommt es hierauf nicht an. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, der der Senat folgt, ist die deutsche Volkszugehörigkeit zwar Anspruchsvoraussetzung für Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz, nicht jedoch in dem Sinne, dass gerade sie der politische Grund oder einer der politischen Gründe der Haft gewesen sein muss. Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG verlangt den Bezug des deutschen Volkstums zu den politischen Gründen der Haft nicht. Auch die Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucksache 1450, zweite Wahlperiode, 1953), der zum Häftlingshilfegesetz vom 6. August 1955 (BGBl. I S. 498) führte, gibt für eine insoweit einschränkende Auslegung nichts her. Deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige sollen geschützt werden, wenn sie aus Gründen, die im politischen System des Gewahrsamstaates ihren Ursprung haben, inhaftiert werden oder eine längere bzw. härtere Haft erdulden müssen, als dies nach freiheitlich-demokratischer Auffassung angemessen wäre (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 09.11.1988 - 4 UE 3118/84 -).

Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht dargelegt. Grundsätzliche Bedeutung weist eine Rechtsstreitigkeit auf, wenn sie eine rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung bedarf. Die Entscheidung muss aus Gründen der Rechtssicherheit, der Einheit der Rechtsordnung oder der Fortbildung des Rechts im allgemeinen Interesse liegen, was dann zutrifft, wenn die klärungsbedürftige Frage mit Auswirkungen über den Einzelfall hinaus in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet werden kann (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 13. Auflage, § 124 Rdnr. 10 m. w. Rsprn.).

Der Zulassungsantrag formuliert bereits nicht die für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage, sondern trägt im Gewande der Grundsatzrüge allgemeine Urteilskritik vor, die jedoch die Grundsätzlichkeit der Entscheidung nicht belegen kann. Im Übrigen handelt es sich bei Entscheidungen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, um eine Ermessensentscheidung, die aus der Natur der Sache immer einzelfallbezogen und daher einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist.

Der Antrag war daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzuweisen.

Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG, wobei der Senat mangels anderweitiger Anhaltspunkte den Regelstreitwert zu Grunde gelegt hat.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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