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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 10.07.2009
Aktenzeichen: 4 B 426/09
Rechtsgebiete: BauGB, GG, HBO, HVwVfG


Vorschriften:

BauGB § 15
BauGB § 17
BauGB § 36 Abs. 2
GG Art. 28 Abs. 2
HBO § 57 Abs. 2
HBO § 66 Abs. 2
HVwVfG § 48
1) Eine Zurückstellung gemäß § 15 BauGB trifft zur materiell-rechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens keine Regelung, sondern schafft nur in formeller Hinsicht die Grundlage dafür, ein anhängiges bauaufsichtliches Verfahren auszusetzen.

2) Über seine formelle Funktion hinaus hat § 15 BauGB die Funktion, eine materielle Rechtsposition der Gemeinde, nämlich deren durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützte Planungshoheit, zu sichern.

3) Ein entgegen einer Zurückstellung erteilter Bauvorbescheid ist rechtswidrig. Dies gilt auch für den Fall eines (nach § 66 Abs. 2 i. V. m. § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO) fiktiv erteilten Bauvorbescheids.

4) Die Bauaufsichtsbehörde kann im Rahmen ihres Ermessens einen trotz eines Zurückstellungsantrags der Gemeinde fiktiv erteilten Bauvorbescheid zurücknehmen.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

4 B 426/09

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Baurechts

hier: Vorläufiger Rechtsschutz gegen Rücknahme eines fiktiven Bauvorbescheids

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 4. Senat - durch

Vorsitzende Richterin am Hess. VGH Dr. Rudolph, Richter am Hess. VGH Dr. Dittmann, Richter am Hess. VGH Heuser

am 10. Juli 2009

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 12. Februar 2009 - 2 L 1256/08.KS - wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 30.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat das Eilrechtsschutzbegehren des Antragstellers zu Recht abgelehnt.

In dem angegriffenen Beschluss wird zutreffend ausgeführt, dass der von dem Antragsteller am 11. März 2008 beantragte Bauvorbescheid gemäß § 66 Abs. 2 i. V. m. § 57 Abs. 2 Satz 2 und 3 HBO als erteilt gilt, da über den Bauvorbescheid nicht innerhalb der Frist des § 57 Abs. 2 Satz 2 HBO entschieden worden ist.

Dem Eintritt der Fiktionswirkung stand nicht entgegen, dass der Antragsgegner auf Antrag der Beigeladenen mit Bescheid vom 8. April 2008 die Entscheidung über die Bauvoranfrage des Antragstellers gemäß § 15 Abs. 1 BauGB bis zum 10. April 2009 zurückgestellt hatte. Die Zurückstellung ist in Übereinstimmung mit der einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Literatur als Verwaltungsakt anzusehen, dessen Regelung darin besteht, die Baugenehmigungsbehörde während der Dauer der Zurückstellung von ihrer Pflicht zur Bescheidung des eingereichten Baugesuchs zu befreien (vgl. Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Aufl., § 15 Rdnr. 23 m. w. N.). Gegen die Zurückstellung seines Bauantrags kann der Bauherr Widerspruch einlegen, der gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hat, da eine dem § 212a BauGB vergleichbare Regelung für den Zurückstellungsbescheid fehlt (BGH, Beschluss vom 26.07.2001 - III ZR 206/00 - BRS 64 Nr. 156). Der vom Antragsteller gegen den Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin am 13. Mai 2008 eingelegte Widerspruch hatte somit gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Dies hatte zur Folge, dass der Antragsgegner trotz der von ihm verfügten Zurückstellung zur unverzüglichen Weiterbearbeitung des Bauvorbescheidsantrags verpflichtet war. Solange - wie im vorliegenden Fall - kein Sofortvollzug angeordnet wird, hat die Baugenehmigungsbehörde die Amtspflicht, die Bearbeitung des Baugesuchs fortzusetzen (BGH, Beschluss vom 26.07.2001, a. a. O.; Lemmel, in: Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, Stand: Mai 2009, § 15 Rdnr. 21). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass auch die Frist des § 57 Abs. 2 Satz 2 HBO mit der Einlegung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Zurückstellungsbescheid weiterlief und mit Ablauf des 11. Juli 2008 der Bauvorbescheid als erteilt galt.

Darauf, ob die Beigeladene mit dem vorgelegten Antrag auf Zurückstellung (konkludent) ihr Einvernehmen im Sinne des § 36 Abs. 2 BauGB verweigert hat oder ein Fall der Fiktion des gemeindlichen Einvernehmens gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB vorliegt, kommt es für den Eintritt der Fiktion gemäß § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO nicht an. Nach dem Wortlaut des § 57 Abs. 2 HBO wird lediglich die Vollständigkeit der Bauvorlagen vorausgesetzt. Berücksichtigt man ferner, dass der Landesgesetzgeber mit der Einführung der Entscheidungsfrist eine Beschleunigung des Baugenehmigungsverfahrens erreichen wollte, kann die außerhalb des Einwirkungsbereichs des Bauherrn stehende verwaltungsinterne Beteiligung der Gemeinde nicht Voraussetzung für den Eintritt der Genehmigungsfiktion sein (vgl. auch OVG Saarland, Urteil vom 09.03.2006 - 2 R 8/05 - BRS 70 Nr. 148; die abweichende Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz, [Urteil vom 12.12.2002 - 8 A 11161/01 - BRS 64 Nr. 175], beruht darauf, dass nach dem Wortlaut der rheinland-pfälzischen Regelung die Frist erst mit Mitteilung über die Erteilung des Einvernehmens beginnt). Unabhängig hiervon steht der Annahme, dass die Beigeladene mit ihrem Zurückstellungsantrag zugleich ihr gemeindliches Einvernehmen gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB versagt hat, entgegen, dass § 15 BauGB als eine Vorschrift des formellen Rechts keine Regelungen über die materiell-rechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens enthält, sondern lediglich aus bodenrechtlichen Gründen dazu ermächtigt, das Verfahren für bestimmte Zeit "auszusetzen" (BVerwG, Urteil vom 10.12.1971 - BVerwG IV C 32.69 - BRS 24 Nr. 148). Die Wirkungen der Zurückstellung sind lediglich verfahrensrechtlicher Art (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.11.2008 - 11 S 10.08 - zitiert nach Juris; Grauvogel, in: Brügelmann, Baugesetzbuch, Stand: April 2009, § 15 Rdnr. 21; Rieger, in: Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Aufl., § 15 Rdnr. 1; Rieger, BauR 2003, 1512).

Das Verwaltungsgericht ist ferner zu Recht davon ausgegangen, dass der fiktiv erteilte Bauvorbescheid von dem Antragsgegner gemäß § 48 Abs. 1 HVwVfG zurückgenommen werden konnte. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 HVwVfG, der auch für fiktive Verwaltungsakte gilt (vgl. Kopp/Ramsauer, HVwVfG, 10. Aufl., § 48 Rdnr. 15a, 50; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 06.02.2008 - 3 M 200/07 - zitiert nach Juris; OVG Bautzen, Urteil vom 18.01.2006 - 1 B 444/05 - BRS 70 Nr. 198), sind erfüllt. Der fingierte Bauvorbescheid war rechtswidrig.

Wie die Veränderungssperre hat auch die Zurückstellung von Baugesuchen gemäß § 15 Abs. 1 BauGB den Zweck, der Sicherung der gemeindlichen Bauleitplanung zu dienen. Beantragt eine Gemeinde die Zurückstellung eines Baugesuchs, ist die Genehmigungsbehörde verpflichtet, die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens auszusetzen, wenn die formellen und materiellen Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB erfüllt sind. Ein Ermessensspielraum ist der Genehmigungsbehörde nicht eingeräumt (Bielenberg/Stock, in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, Baugesetzbuch, Stand: Januar 2009, § 15 Rdnr. 41). Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss aus zutreffenden Gründen, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, bejaht. Das Verwaltungsgericht hat ferner zu Recht angenommen, dass der, entgegen dem Zurückstellungsantrag fiktiv erteilte, Bauvorbescheid rechtswidrig ist. Die Gemeinde hat ein subjektives öffentliches Recht auf Zurückstellung, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 BauGB vorliegen. Die trotz des Zurückstellungsantrags der Gemeinde erteilte Baugenehmigung ist in diesem Fall rechtswidrig und kann von der Gemeinde wegen einer Verletzung ihrer Planungshoheit angefochten werden (Grauvogel, a. a. O., § 15 Rdnr. 39; Bielenberg/Stock, a. a. O., § 15 Rdnr. 44; Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl., Rdnr. 2416; Rieger, in: Schrödter, a. a. O., § 15 Rdnr. 25; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.06.1985 - 3 S 937/85 - BRS 44 Nr. 95). Die gleichen Grundsätze gelten auch für den Fall eines nach § 66 Abs. 2 i. V. m. § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO ergehenden fiktiven Bauvorbescheids (vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04.09.2007 - 1 LA 21/07 - NordÖR 2007, 417). Wenn auch § 15 BauGB zur materiell-rechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens keine Regelung trifft, sondern nur in formeller Hinsicht die Grundlage dafür schafft, ein anhängiges bauaufsichtliches Verfahren auszusetzen, hat diese Vorschrift des formellen Rechts doch die Funktion, eine materielle Rechtsposition der Gemeinde zu sichern, nämlich deren durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützte Planungshoheit.

Die Rechtswidrigkeit des Handelns gegenüber der Gemeinde im Falle der Erteilung einer Baugenehmigung bzw. eines Bauvorbescheids entgegen dem Zurückstellungsantrag führt zur objektiven Rechtswidrigkeit der erteilten Baugenehmigung bzw. des Bauvorbescheids, wie sie § 48 Abs. 1 HVwVfG voraussetzt. Entsprechendes gilt auch, wenn die Baugenehmigungsbehörde - wie im vorliegenden Fall- eine Bauvoranfrage zwar zurückstellt, es aber unterlässt, die sofortige Vollziehung der Zurückstellung anzuordnen, so dass aufgrund der aufschiebenden Wirkung des von dem Bauherrn eingelegten Widerspruchs die Erteilung eines Bauvorbescheids fingiert wird. Würde man dies verneinen, wäre die grundgesetzlich unter Schutz gestellte Planungshoheit der Gemeinde in diesen Fällen ungeschützt.

Der Umstand, dass der Zeitraum, für den die Zurückstellung verfügt wurde, abgelaufen ist, führt - entgegen der Auffassung des Antragstellers - nicht dazu, dass nachträglich die Rechtswidrigkeit des fiktiv erteilten Bauvorbescheids entfällt, da im Zeitpunkt der Bauvorbescheidserteilung die Zurückstellung wirksam war. Die Rücknahme nach § 48 Abs. 1 HVwVfG setzt voraus, dass der Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war. Daher beseitigt auch eine Rechtsänderung, die den Erlass eines Verwaltungsakts mit gleichem Inhalt ermöglichen würde, die Rechtswidrigkeit eines schon vorher ohne ausreichende Rechtsgrundlage erlassenen Verwaltungsaktes nicht, sofern sie nicht mit entsprechender Rückwirkung ausgestattet ist (Kopp/Ramsauer, a. a. O., § 48 Rdnr. 57 f.).

Darüber hinaus ist hier von Bedeutung, dass während der Dauer der Zurückstellung am 8. März 2009 eine Veränderungssperre in Kraft getreten ist. Hierdurch wird die Zurückstellung nicht automatisch hinfällig. Vielmehr behält sie als Verwaltungsakt ihre Wirksamkeit für die festgesetzte Zurückstellungsdauer (Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl., Rdnr. 2421 m. w. N.). Soweit der Antragsteller gegen die am 30. Juni 2009 erneut als Satzung beschlossene (und gemäß § 214 Abs. 4 BauGB mit rückwirkender Kraft versehene) Veränderungssperre einwendet, dass sie nach dem Satzungsinhalt eine zeitliche Geltung vom 8. März 2009 bis 2. Juli 2011 haben solle und damit gegen § 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB verstoße (, wonach die Veränderungssperre nach Ablauf von zwei Jahren außer Kraft tritt,) führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Veränderungssperre. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB tritt die Veränderungssperre qua Gesetz grundsätzlich nach Ablauf von zwei Jahren außer Kraft. Diese gesetzliche Höchstdauer setzt sich gegenüber Fristbestimmungen in der Satzung, die eine längere Höchstdauer vorsehen, durch. Die fehlerhafte Berechnung der Frist zieht daher nicht die Unwirksamkeit einer Satzung nach sich; vielmehr tritt an die Stelle der in der Satzung genannten Frist die gesetzliche Höchstfrist (Bielenberg/Stock, a. a. O., § 17 Rdnr. 10).

Der Antragsgegner hat auch sein Rücknahmeermessen fehlerfrei ausgeübt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner verpflichtet ist, die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens auszusetzen (, wenn die formellen und materiellen Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB erfüllt sind). Dieser Bindung an den Zurückstellungsantrag entspricht es, den dem Zweck der Zurückstellung zuwiderlaufenden fiktiven Bauvorbescheid zurückzunehmen. Durch die Rücknahme wird gewissermaßen die Bindung an den Zurückstellungsantrag wiederhergestellt.

Schließlich ist auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Rücknahmeentscheidung nicht zu beanstanden. Es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit dieser Entscheidung, weil angesichts der Bindungswirkung des Bauvorbescheids für das Baugenehmigungsverfahren (vgl. § 66 Abs. 1 Satz 4 HBO) nur so die Erteilung einer rechtswidrigen Baugenehmigung und damit die Schaffung vollendeter Tatsachen durch Verwirklichung des Vorhabens verhindert werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat (§§ 162 Abs. 2, 154 Abs. 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach der Bedeutung der Sache für den Antragsteller (§§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 Satz 1 GKG) und folgt der zutreffenden Begründung der Wertfestsetzung durch die erste Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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