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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 07.11.2002
Aktenzeichen: 5 TG 2552/02
Rechtsgebiete: BAföG, GG


Vorschriften:

BAföG § 7 Abs. 3
GG Art. 3 Abs. 1
Bei der Beurteilung, ob ein Fachrichtungswechsel aufgrund eines Eignungsmangels von einem Studierenden unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, vorgenommen worden ist, ist im Rahmen des unbestimmten Rechtsbegriffs "aus wichtigem Grund" im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG im Lichte des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie des Gleichheitssatzes zu berücksichtigen, ob sich der Studierende noch in der Orientierungsphase des Studiums befunden hat.
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

5. Senat

5 TG 2552/02

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausbildungsförderung

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 5. Senat - durch

Vizepräsidenten des Hess. VGH Dr. Klein, Richter am Hess. VGH Dr. Apell, Richter am Hess. VGH Dr. Göbel-Zimmermann

am 7. November 2002 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 21. August 2002 - Az.: 10 G 2875/02(4) - abgeändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz im gesetzlichen Umfang zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die Kosten gesamten Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 21. August 2002 ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch begründet.

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, einer sogenannten Sicherheitsanordnung, glaubhaft gemacht. Der erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich bereits daraus, dass ihr Studium gefährdet wäre, wenn sie keine Ausbildungsförderung erhielte. Die Antragstellerin hat aber auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, nämlich einen Sachverhalt, nach dem für ihr Studium die hier allein streitigen Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG - vorliegen, so dass ihr Ausbildungsförderung für das Studium der Sozialarbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main nach ihrem Wechsel von dem Studium der Architektur an der Universität Kaiserslautern auf der Grundlage des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu leisten ist.

Nach § 7 Abs. 3 BAföG wird Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung geleistet, wenn der Auszubildende die Ausbildung bis zum Beginn des vierten Fachsemesters aus wichtigem Grund abbricht. Wichtig im Sinne dieser Vorschrift ist jeder Grund, der einen auch auf wirtschaftlichen Erfolg seiner Berufstätigkeit zielenden Auszubildenden bei verständiger Würdigung der Bedeutung des Berufs zu einem Ausbildungswechsel veranlasst. Davon ausgehend nimmt das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung einen wichtigen Grund dann an, wenn dem Auszubildenden unter Berücksichtigung aller im Rahmen der Ausbildungsförderung erheblichen Umstände, die sowohl durch die an Ziel und Zweck der Ausbildungsförderung orientierten öffentlichen Interessen als auch durch die Interessen des Auszubildenden bestimmt werden, die Fortsetzung der bisherigen Ausbildung nicht mehr zumutbar ist. Orientiert an dem Grundsatz des § 1 BAföG, dem Auszubildenden eine seiner Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung zu gewährleisten, sind hierbei im Bereich der Interessen des Auszubildenden Umstände zu berücksichtigen, die an seine Neigung, Eignung und Leistung anknüpfen. In Betracht kommt deshalb im Rahmen des zu prüfenden wichtigen Grundes etwa ein ernstzunehmender Neigungswandel oder aber auch die Erkenntnis eines Eignungsmangels (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 1995 - 11 C 18.94 -, Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 113 = NVwZ 1995, 1109 m.w.N.).

Hier hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass sie das Studium der Architektur an der Universität Kaiserslautern aufgegeben hat, weil sie erkannte, dass sie sich den Anforderungen - im wesentlichen den künstlerischen Anforderungen - nicht gewachsen fühlte. Darin ist ein Eignungsmangel ihrerseits für dieses Studium zu sehen, der Grundlage für einen "wichtigen Grund" im Sinne von § 7 Abs. 3 BAföG sein kann.

Allerdings kann ein wichtiger Grund nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats nur anerkannt werden, wenn der Auszubildende, sobald er Gewissheit über den Grund für den Fachrichtungswechsel erlangt hat, unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, die erforderlichen Konsequenzen zieht. Es wird dem Auszubildenden entsprechend seinem Ausbildungsstand und Erkenntnisvermögen zugemutet, den Gründen, die einer Fortsetzung der bisherigen Ausbildung entgegenstehen, rechtzeitig zu begegnen. Sobald der Auszubildende sich demnach Gewissheit über seine fehlende Neigung oder Eignung für das bisher gewählte Fach verschafft hat - oder verschaffen konnte -, muss er deshalb ohne schuldhaftes Zögern die erforderlichen Konsequenzen ziehen und die bisherige Ausbildung beenden. Ob der Auszubildende seiner Verpflichtung zu unverzüglichem Handeln entsprochen hat, beurteilt sich dabei nicht allein nach objektiven Umständen. Es ist vielmehr auch in subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob ein etwaiges Unterlassen notwendiger Maßnahmen dem Auszubildenden vorwerfbar ist und ihn damit ein Verschulden trifft oder ob ein solches Unterlassen durch ausbildungsbezogene Umstände gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1990 - 5 C 45.87 -, BVerwGE 85, 194 m.w.N.). Daraus, dass der Bundesgesetzgeber in § 7 Abs. 3 BAföG die Entscheidung darüber, ob der Auszubildende nach einem Studienabbruch oder einem Fachrichtungswechsel Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung erhält, ohne gesetzliche Zwischenlösungen nach dem "Alles-oder-Nichts"-Prinzip ausgestaltet hat, hat das Bundesverfassungsgericht die Folgerung gezogen, dass in die Abwägungsprüfung im Rahmen des unbestimmten Rechtsbegriffs des "wichtigen Grundes" weitergehende Differenzierungen aufgenommen werden müssen, um den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Gleichheitssatzes zu genügen. Als unverhältnismäßig und daher mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar hat das Bundesverfassungsgericht die Verneinung eines wichtigen Grundes und damit den Ausschluss des Auszubildenden von jeglicher weiteren Förderung angesehen, wenn der Auszubildende bei einem Neigungswandel seine Ausbildung nach dem ersten Semester nicht sofort abbricht, sondern den Abbruch um einige Monate (im entschiedenen Fall um ein volles Studiensemester) verzögert, um abzuwarten, ob er eine Zulassung zu der in von ihm gewünschten anderen Ausbildung erhält. Der Unterschied zwischen Fällen dieser Art und Fällen, in denen der Auszubildende nach Erkenntnis des Neigungswandels die Ausbildung bereits nach dem ersten Semester sofort abbreche, sei nicht von solcher Art und solchem Gewicht, dass er eine Ungleichbehandlung mit derart schweren Auswirkungen - d. h. Förderungsanspruch für die Zukunft in dem einen Fall, vollständiger Verlust der Förderung im anderen Fall - zu rechtfertigen vermöge. Ausdrücklich offengelassen hat dagegen das Bundesverfassungsgericht, ob ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht ein wichtiger Grund in Fällen verneint werden könne, in denen der Auszubildende erst in höheren Semestern einen entsprechenden Neigungswandel erkenne und erst nach einer längeren Überlegungsfrist einen Fachrichtungswechsel vornehme (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1985 - 1 BvR 1428/82 -, BVerfGE 70, 230). Bei der Abwägung zwischen der Schwere der Sanktion und dem Gewicht des sanktionsauslösenden Pflichtenverstoßes ist ausschlaggebend zu berücksichtigen, dass in der Eingangsphase eines Studiums bei Anwendung des § 7 Abs. 3 BAföG geringere Anforderungen an das Gewicht der im Bereich der Interessen des Auszubildenden liegenden Umstände zu stellen sind als etwa in späteren Phasen der Ausbildung (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1990, a.a.O., m.w.N.).

Die Antragstellerin hat im Rahmen des Verwaltungsverfahrens sowie des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens glaubhaft dargelegt, dass sie im Laufe des ersten Fachsemesters im Studienfach Architektur an der Universität Kaiserslautern bereits Probleme mit den dort angebotenen und von ihr besuchten Lehrveranstaltungen mit überwiegend künstlerischem Inhalt gehabt hat. Trotz dieser Probleme hat sie sich allerdings zum zweiten Fachsemester im Studium Architektur zurückgemeldet und sich erst im Laufe dieses zweiten Fachsemesters exmatrikuliert. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners sowie des Verwaltungsgerichts ist ein wichtiger Grund für ihren aufgrund der erkannten fehlenden Eignung für das Studium der Architektur sodann vorgenommenen Wechsel zum Fach Sozialarbeit anzunehmen. Die Antragstellerin hat dazu im Widerspruchsverfahren vorgetragen, dass sie ihre Probleme im ersten Fachsemester zunächst für Anfängerschwierigkeiten gehalten habe und dies dem Wechsel von der Schule zum Studium an die Universität zugerechnet habe. Sie sei deshalb zu diesem Zeitpunkt auch noch entschlossen gewesen, das Studium fortzuführen. Im zweiten Semester hätten sich allerdings die Probleme mit dem Architekturstudium zugespitzt und sie habe feststellen müssen, dass dies nun keine Anfängerschwierigkeiten mehr sein konnten. Nach einer Berufsberatung beim Arbeitsamt Kaiserslautern habe sie sich daraufhin exmatrikuliert. Dieser Vortrag erscheint dem Senat glaubhaft. Betrachtet man den Wechsel eines Abiturienten direkt nach dem Abitur von der Schule in ein Hochschulstudium, so sind Anfangsschwierigkeiten bei der Gestaltung des Studiums nichts Ungewöhnliches. Es ist deshalb für den Studierenden gerade in der Anfangs- und Orientierungsphase des Studiums nicht einfach, zwischen derartigen Anfangsschwierigkeiten und ersten Anzeichen für einen Eignungsmangel zu unterscheiden. Gerade deshalb ist es angemessen und erforderlich, im Rahmen der Orientierungsphase des Studiums die Anforderungen an die Unverzüglichkeit des Fachrichtungswechsels sowie an das Erkennenmüssen des Eignungsmangels geringer anzusetzen, als in höheren Studiensemestern. Damit wird auch den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner oben genannten Entscheidung Rechnung getragen und vermieden, dass es zu Versagungen von Ausbildungsförderung kommt, die mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren sind. Der vollständige Ausschluss der Antragstellerin von weiterer Ausbildungsförderung für ihr Studium der Sozialarbeit allein deshalb, weil sie noch im zweiten Fachsemester ihr Studium der Architektur für einige Monate fortgesetzt hat, wäre unter diesem Gesichtspunkt unverhältnismäßig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO sowie auf § 188 Satz 2 VwGO. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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