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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.02.2006
Aktenzeichen: 7 TG 279/06
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 53
AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3
AufenthG § 56 Abs. 1 S. 4
1. Eine Ausnahme von der - tatbestandlich relevanten - Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Fällen des § 53 AufenthG ist nur dann anzuerkennen, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles sowohl die spezial- als auch die generalpräventiven Zwecke, die der Gesetzgeber mit §53 AufenthG verfolgt, nicht zum Tragen kommen.

2. Auf der Rechtsfolgeseite ist eine Ausnahme von der gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorgesehenen Regelausweisung insbesondere gegeben, wenn - trotz der Bejahung eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes auf der Tatbestandsseite - die Ausweisung im Einzelfall Verfassungsrecht, namentlich Grundrechte, verletzt oder sie sich - etwa im Hinblick auf Art. 8 EMRK - als unverhältnismäßig erweist.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

7 TG 279/06

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts - Ausweisung nach §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG -

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 7. Senat - durch

Vizepräsidenten des Hess. VGH Dr. Rothaug, Richter am Hess. VGH Schönstädt, Richterin am Hess. VGH Schäfer

am 21. Februar 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 19. Dezember 2005 - 7 G 2169/05 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen bleibt ohne Erfolg.

Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Prüfung des Senats bestimmen, lassen nicht die Feststellung zu, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt, der sich gegen die unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verfügte Ausweisung, die Abschiebungsandrohung sowie die Versagung eines Aufenthaltstitels im Bescheid des Antragsgegners vom 7. September 2005 richtet.

Das Verwaltungsgericht Gießen hat im angegriffenen Beschluss die - nach § 53 Nr. 1 i. V. m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Sätze 2 bis 4 AufenthG wegen besonderen Ausweisungsschutzes des Antragstellers vom Antragsgegner als Regelentscheidung verfügte - Ausweisung für rechtmäßig erachtet und auch die Anordnung deren sofortiger Vollziehbarkeit sowie die Abschiebungsandrohung und die Versagung eines Aufenthaltstitels nicht beanstandet. Wegen der Begründungen im Einzelnen wird auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung sowie den Bescheid des Landrats des Wetteraukreises vom 7. September 2005 Bezug genommen.

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers rechtfertigt eine Abänderung oder Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gießen nicht.

Rechtsgrundlage der Ausweisung des Antragstellers ist § 53 Nr. 1 AufenthG i. V. m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Sätze 2 bis 4 AufenthG.

Tatbestandlich setzt die Ausweisung eines Ausländers, der erhöhten Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genießt, hiernach einen Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG voraus, der die Qualität eines schwerwiegenden Grundes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung haben muss (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und in der Regel auch hat (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).

Auf der Rechtsfolgeseite bewirkt der erhöhte Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass die zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG zur Ausweisung im Regelfall herabgestuft wird (§ 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Der Beschwerdevortrag des Antragstellers begründet keine Ausnahme von der - tatbestandlich relevanten - Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Durch § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass in den Fällen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung eine Ausweisung des Ausländers erfordert und dieses öffentliche Interesse - gleichgültig, ob es die spezial- oder generalpräventive Richtung der Ausweisung anbelangt - ein deutliches Übergewicht im Verhältnis zu dem von § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezweckten Schutz des Ausländers besitzt (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 7. Februar 2005 - 9 TG 398/05 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. März 2005 - 11 S 2885/04 - Juris; Thüringer OVG, Beschluss vom 25. Mai 2005 - 3 EO 114/05 - Juris). Eine Ausnahme von dieser Regel ist demgemäß nur dann anzuerkennen, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles sowohl die spezial- als auch die generalpräventiven Zwecke, die der Gesetzgeber mit § 53 AufenthG verfolgt, nicht zum Tragen kommen. In spezialpräventiver Hinsicht geht § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG dabei davon aus, dass bei Straftaten nach § 53 AufenthG ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht besteht und vom ausländischen Täter weiterhin eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. In generalpräventiver Hinsicht wertet der Normgeber des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Straftat nach § 53 AufenthG als so schwerwiegend, dass grundsätzlich ein dringendes Bedürfnis dafür besteht, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers ist nicht geeignet, das nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vermutete Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes zu widerlegen. Insbesondere lässt sich nach dem Vortrag des Antragstellers ein atypischer Fall, in dem der vom Gesetzgeber mit §§ 53, 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG verfolgte generalpräventive Ausweisungszweck nicht zum Tragen kommt, nicht feststellen. Das strafrechtlich relevante Verhalten des Antragstellers - räuberischer Diebstahl und schwerer Raub - weist keine Besonderheiten auf, die die Annahme rechtfertigen könnten, eine hieran anknüpfende Ausweisung sei entgegen der in den genannten Vorschriften zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung weniger geeignet, andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird ein Ausländer, der nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsschutz genießt, in den Fällen des § 53 AufenthG in der Regel ausgewiesen. Die Beschwerdebegründung des Antragstellers rechtfertigt es nicht, für ihn einen Ausnahmefall anzunehmen und von der Regel abzuweichen.

Regelfälle zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Merkmale gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Ein Ausnahmefall zur Regel des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist insbesondere gegeben, wenn - trotz der Bejahung eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes auf der Tatbestandsseite - die Ausweisung im Einzelfall Verfassungsrecht, namentlich Grundrechte, verletzt oder sie sich - etwa im Hinblick auf Art. 8 EMRK - als unverhältnismäßig erweist (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 7. Februar 2005 - 9 TG 398/05 -; Thüringer OVG, a. a. O.; zur inhaltsgleichen Regelung des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2. Juli 2001 - 13 S 2326/99 - ESVGH 52, 25, Urteil vom 26. Juli 2001 - 13 S 2401/99 - InfAuslR 2002, 2). Ob eine Ausnahme gegeben ist, unterliegt dabei voller gerichtlicher Nachprüfung, bei der die Umstände der strafrechtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen, namentlich auch die in § 55 Abs. 3 AufenthG originär für Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörde genannten, zu berücksichtigen sind. Eine atypische Konstellation in diesem Sinne ergibt sich im Fall des Antragstellers weder aus spezifischen Umständen der von ihm begangenen Taten noch aus seinen besonderen persönlichen Verhältnissen.

Die Sachverhalte, die den strafrechtlichen Verurteilungen des Antragstellers zu Grunde liegen, weisen keine relevante Atypik auf. Eine ungewöhnlich günstige Sozialprognose, die mit einer auffällig geringen Wiederholungsgefahr einhergeht, und so im Rahmen des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG einen Ausnahmefall zu begründen vermag (vgl. zu einer derartigen Konstellation: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2. Juli 2001, a. a. O.), kann der Senat mit dem im Aussetzungsverfahren geltenden Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu Gunsten des Antragstellers nicht treffen. Die objektiven Lebensumstände des Antragstellers unterscheiden sich - worauf der Antragsgegner (Bl. 5 - 7 des Bescheides vom 7. September 2005) und das Verwaltungsgericht (Bl. 7 - 9 des angegriffenen Beschlusses) zu Recht hingewiesen haben - auch nach dem Erkenntnisstand des Senats im Zeitpunkt seiner Beschwerdeentscheidung nicht in erheblicher Weise von denjenigen, die vorlagen, als der Antragsteller Taten beging, die den Tatbestand der zwingenden Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllen. Eine stabile berufliche Situation des Antragstellers zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Sein familiäres Umfeld - namentlich die Bindung an Frau und Kind - haben den Antragsteller jedenfalls in der Vergangenheit nicht von der Begehung schwerer Delikte abgehalten.

Auch der von der Beschwerde in den Vordergrund gestellte verfassungsrechtliche Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) fordern im Fall des Antragstellers nicht, im Rahmen der Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG einen atypischen Fall anzunehmen.

Das Aufenthaltsgesetz hält es - in verfassungskonformer, namentlich mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vereinbarer Weise - für grundsätzlich zumutbar, dass ein Ausländer, der so schwerwiegende Straftaten begangen hat, wie sie in § 53 AufenthG umschrieben sind, von Familienangehörigen getrennt wird. Die damit üblicherweise verbundene Belastung des Ausländers entspricht dem Willen des Gesetzgebers und ist dementsprechend prinzipiell keine vom Gesetz nicht bedachte, außergewöhnliche Folge, die durch eine Einzelfallentscheidung korrigiert werden müsste. Dies gilt auch für Ausländer, die aufgrund familiärer Lebensgemeinschaft mit deutschen Familienangehörigen besonderen Ausweisungsschutz genießen und für die § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG zur Ausweisung im Regelfall herabstuft (vgl. Thüringer OVG, a. a. O.). Umstände, die eine durch die Ausweisung bewirkte Trennung des Antragstellers von seiner serbisch-montenegrinischen Ehefrau und seiner am 30. Dezember 2002 geborenen Tochter, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zu einem ungewöhnlichen Härtefall qualifizieren, in dem allein das Unterbleiben der einfachgesetzlich als Regelfall vorgesehenen Ausweisung verhältnismäßig ist und die Garantien des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht verletzt, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Die dort vorgetragenen familiären Bindungen des Antragstellers zu seiner Ehefrau und seinem Kind gehen nicht über die typischerweise zwischen engsten Familienangehörigen bestehende Verbundenheit hinaus. Die mit einer familiären Lebensgemeinschaft regelmäßig verbundenen Bindungen zwischen den Familienangehörigen aber hat der Gesetzgeber in den Fällen des § 53 AufenthG gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des straffällig gewordenen Ausländers, der besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genießt, für den Regelfall als nachrangig eingestuft. Das Elternrecht des Antragstellers und seine familiäre Lebensgemeinschaft mit Ehefrau und deutscher Tochter rechtfertigen daher für sich genommen nicht die Annahme eines atypischen Sachverhalts.

Soweit die Beschwerde die verwaltungsgerichtliche Ablehnung von Eilrechtsschutz gegen die Abschiebungsandrohung und die Versagung eines Aufenthaltstitels betrifft, bleibt sie ohne Erfolg, da ihre Begründung sich über die für die Rechtswidrigkeit der Ausweisung angeführten Gründe hinaus nicht zu den im Bescheid vom 7. September 2005 verfügten Maßnahmen und deren rechtlicher Würdigung durch das Verwaltungsgericht verhält.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG und folgt der Streitwertfestsetzung für das erstinstanzliche Verfahren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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