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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 11.12.2008
Aktenzeichen: 8 A 611/08.A
Rechtsgebiete: AufenthG, QRL


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
QRL Art. 15 c
1. Ein Abschiebungsschutzbegehren ist in Anpassung an die neue Rechtslage nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 grundsätzlich dahin auszulegen, dass in einem Stufenverhältnis in erster Linie im Hauptantrag die Verpflichtung zur Feststellung eines europarechtlich determinierten Abschiebungsschutzes und nur hilfsweise die Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsschutzes begehrt wird (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43/07 -).

2. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (Art. 15 c QRL) erfordert keine landesweite, sondern nur eine auf einen Teil des Staatsgebietes beschränkte Konfliktsituation (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2007 - 10 C 43/07 - unter Aufgabe der Auffassung im Senatsurteil vom 7. Februar 2008 - 8 UE 1913/06.A -).

3. In der Provinz Paktia im Südosten Afghanistans findet derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen statt.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

8 A 611/08.A

Verkündet am 11. Dezember 2008

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Asylrechts/Afghanistan/Abschiebungsschutz

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 8. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Höllein, Richter am Hess. VGH Jeuthe, Richterin am Hess. VGH Dr. Lambrecht, ehrenamtlichen Richter Dillenberger, ehrenamtlichen Richter Döring

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Dezember 2008 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. September 2007 - 5 E 2199/06.A(5) - abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 29. Mai 2006 aufgehoben, soweit die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG widerrufen worden ist.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird verpflichtet, in Bezug auf Afghanistan für den Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte hat die Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand :

Der am ... 1972 in dem Dorf K. K. in der Gemeinde Z./Provinz P./Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit und begehrt vorliegend Abschiebungsschutz.

Im Februar 2001 war er seinen Angaben nach aus Afghanistan aus- und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte seine Anerkennung als Asylberechtigter beantragt.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; im Folgenden: Bundesamt) hatte er am 26. Februar 2001 u.a. folgende Angaben gemacht:

Er habe am 11. Februar 1991 in seinem Dorf seine am 20. Juni 1973 in Z. geborene Ehefrau geheiratet, die bei ihren Eltern und Verwandten in dem nicht weit von seinem Dorf entfernten Dorf A. lebe. Seine drei 1994, 1996 und 1999 geborenen Söhne lebten bei seinen Eltern im Dorf K. K.. Sein Bruder sei seit ca. sechs Jahren in Deutschland. Er habe noch mehrere Onkel und Tanten, die in seinem Heimatdorf lebten.

Er habe keine Schule besucht und sei Analphabet. Er habe auch keinen Beruf erlernt und auf eigenen Feldern als Landwirt gearbeitet.

Er habe Afghanistan vor etwa 19 Tagen verlassen, weil er Schwierigkeiten mit den Taliban gehabt habe. Das Leben in Afghanistan unter den Taliban sei unerträglich. Die Bevölkerung werde von ihnen ständig schikaniert. Man müsse Bestechungsgelder zahlen und werde bestraft und geschlagen, nur weil z. B. die Kleidung nicht in Ordnung oder der Bart nicht lang genug sei. Etwa einen Monat vor seiner Flucht sei er von den Taliban festgenommen, inhaftiert und geschlagen worden, weil sein Bart nicht lang genug gewesen sei; nach einem Tag sei er wieder frei gelassen worden.

Einen Tag bevor er das Land verlassen habe, sei ein Brief der Taliban an ihren Dorfältesten gelangt, nach dem er und vier weitere Dorfbewohner sich bei den Taliban melden sollten, um in den Krieg gegen ihre Landsleute zu ziehen. Der Dorfälteste habe sie darüber informiert. Die Taliban verlangten normalerweise mindestens zehn Männer eines Dorfes für den Krieg. Weil ihr Vorgehen mittlerweile überall in Afghanistan bekannt sei, flüchteten viele Männer und verließen Afghanistan. In ihrem kleinen Dorf seien deshalb nur noch diese fünf Männer erreichbar gewesen. Wenn man der Aufforderung der Taliban nicht freiwillig nachkomme, werde man gewaltsam eingesammelt und zur Front gebracht. Wenn man sich weigere, werde man bestraft und verhaftet. Er habe aber nicht gegen seine eigenen Leute, die auch Muslime seien, kämpfen wollen; außerdem habe er im Krieg nicht verwundet bzw. getötet werden wollen.

Mit seinem Onkel mütterlicherseits habe er sein Heimatdorf abends mit dem Pkw verlassen und sei am nächsten Tag vormittags in Pakistan angekommen. Mit einem Fluchthelfer sei er nach einem achttägigen Aufenthalt in Pakistan mit dem Flugzeug nach Deutschland geflogen.

Wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste, würde er entweder verhaftet und bestraft oder zwangsrekrutiert. Außerdem leide er an Asthma und wäre deshalb dankbar, wenn er zu seinem Bruder nach B-Stadt könnte. Er sei oft sehr traurig, weil er seine Familie und seine Kinder habe verlassen müssen. Wenn er an sie denke, bekomme er Probleme mit der Luft. Er habe die Beschwerden schon in Afghanistan gehabt, seit er in Deutschland sei, hätten sie sich aber verschlimmert. In Afghanistan habe er deswegen ein pulverförmiges Medikament bekommen, das ihm nicht geholfen habe. Nach der Asylantragstellung sei er hier in Deutschland beim Arzt gewesen, Medikamente habe er bislang aber nicht bekommen.

Das Bundesamt hatte mit Bescheid vom 18. Juli 2001 die Asyl- und die Flüchtlingsanerkennung des Klägers abgelehnt, aber festgestellt, dass das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliege; im Übrigen lägen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vor. Dem Kläger war die Abschiebung nach Afghanistan angedroht, aber für die Dauer von drei Monaten ausgesetzt worden.

Zur Begründung hatte das Bundesamt u. a. ausgeführt, die eintägige Festnahme des Klägers etwa einen Monat vor seiner Ausreise und die von ihm geschilderte Rekrutierung durch die Taliban seien nicht asylbegründend. Die Heranziehung zum Wehrdienst könne nur dann als politische Verfolgung angesehen werden, wenn sie zielgerichtet an asylerhebliche Merkmale anknüpfe. Er habe jedoch in Übereinstimmung mit den vorliegenden Erkenntnissen vorgetragen, dass alle Männer aus seinem Dorf rekrutiert werden sollten. Im Übrigen stehe der Asylanerkennung des Klägers seine Einreise aus einem sicheren Drittstaat entgegen.

Es liege jedoch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezüglich Afghanistan vor. Im Falle einer Rückkehr bestehe für den Kläger die Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Zwangsrekrutierungen junger Männer seien im ganzen Lande üblich. Als alleinreisender junger Mann schwebe der Kläger überall in Afghanistan in großer Gefahr, zwangsrekrutiert zu werden. Wenn er in die Armee gepresst und praktisch unvorbereitet in den heftig geführten Kämpfen eingesetzt werde, bestehe tatsächlich akute Gefahr für Leib und Leben. Nicht nur die Taliban bedienten sich dieser Methoden, auch die Nordallianz führe Zwangsrekrutierungen durch. Die Vorgehensweise sei die gleiche wie bei den Taliban. Für die Zwangsrekrutierten sei es praktisch unmöglich, dem Armeedienst wieder zu entkommen. Sie würden wie Leibeigene behandelt und erhielten keinen Sold.

Vor diesem Hintergrund könne derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohe.

Die gegen den Bescheid im Übrigen am 7. August 2001 beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main erhobene Asylklage hatte der Kläger u.a. damit begründet, dass die geplante Rekrutierung durch die Taliban asylrechtlich erheblich sei, weil er es aus Gewissensgründen ablehne, sich an Kampfhandlungen diktatorischer Regime zu beteiligen. Zwar habe er früher auch gegen die Russen gekämpft, aufgrund der Bürgerkriegserfahrung in Afghanistan lehne er es mittlerweile jedoch ab, eine Waffe zu tragen und sich an Kampfhandlungen gegen wen auch immer zu beteiligen.

Mit Urteil vom 14. März 2002 - 5 E 3213/01.A (V) - war die Klage abgewiesen worden, weil jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt davon auszugehen gewesen sei, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylerhebliche Verfolgung durch die Taliban nicht mehr drohe.

Auf Anregung der Stadt B-Stadt leitete das Bundesamt im Februar 2006 hinsichtlich der Feststellung des Abschiebungsschutzes ein Widerrufsverfahren ein, weil durch den Sturz der Taliban die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den Kläger entfallen sei. Auf das Anhörungsschreiben vom 11. April 2006 nahm er durch seinen Verfahrensbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 21. Mai 2006 u.a. wie folgt Stellung:

Bei ihm lägen nach wie vor individuelle Gründe für die Gewährung von Abschiebungsschutz vor. Sein Heimatdorf liege in der Nähe zur pakistanischen Grenze und sei auch gegenwärtig eines der Hauptoperationsgebiete der Taliban. Ihm sei seinerzeit wegen der Gefahr der Zwangsrekrutierung oder der Bestrafung durch die Taliban und auch wegen der drohenden Zwangsrekrutierung durch die Nordallianz Abschiebungsschutz bewilligt worden. Er wisse von keinen in Afghanistan lebenden Verwandten mehr, die ihm Schutz oder Hilfe geben könnten. Sein Heimatdorf sei bombardiert und dadurch das Familienhaus zerstört worden. Seine dort lebende Verwandtschaft solle dabei ums Leben gekommen sein. Seine Ehefrau sei mit den Kindern nach P. geflohen und habe dort in einem Dorf gelebt, das am 8. Oktober 2005 durch ein Erdbeben zerstört worden sei. Seitdem habe er weder von seiner Ehefrau noch von seinen Kindern ein Lebenszeichen erhalten. Er habe auch im Übrigen keinerlei Geldmittel, Besitz oder Eigentum mehr in Afghanistan und sei zudem erheblich erkrankt und benötige sowohl ärztliche Behandlung als auch teure Medikamente. Er leide an epileptischen Anfällen, die drei- bis viermal monatlich aufträten und weswegen ihm Antiepileptika verordnet worden seien.

Dazu reichte er ein ärztliches Attest des Nervenarztes Dr. med. W. F. vom 7. März 2001 ein, in dem Folgendes ausgeführt war:

"Der o.g. leidet an epileptischen Anfällen seit dem 6. Lebensjahr. Die Anfälle treten 2 bis 3 x monatlich auf. Ich habe Antiepileptika verordnet. Außerdem leidet Herr G. an einem posttraumatischen Belastungssyndrom; er war in Afghanistan einen Monat in Haft gewesen, wo er von Talibanmilizen gefoltert wurde. Er muß daher auch sedierend und antidepressiv behandelt werden mit Doxepin 100 mg täglich. Sein Bruder Rahmat B. lebt seit 5 Jahren in Frankfurt und möchte ihn gerne beherbergen und sich um ihn kümmern. Er sollte daher, wenn möglich, beim Bruder in FFM bleiben."

Zudem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Dazu legte der Kläger ergänzend einen von Dr. med. W. F. unter dem 21. April 2006 ausgefüllten Fragebogen zur posttraumatischen Belastungsstörung und ein weiteres Attest dieses Arztes vom 10. Mai 2006 vor, wonach sich der Kläger nach wie vor in seiner nervenärztlicher Behandlung befinde und an epileptischen Anfällen leide, die drei- bis viermal monatlich aufträten.

Weiter machte der Kläger geltend, der vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Maßstab einer "extremen Gefahr" sei nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und nach Erlass der sog. Qualifikationsrichtlinie nicht mehr anwendbar. Nach der Rechtsprechung und angeführten Erkenntnismitteln bedeute die Verbringung einer mittellosen Person ohne intakten, bestehenden und aufnahmebereiten und -fähigen Familienverband nach Afghanistan und nach Kabul den Tod durch Unterernährung und Verhungern, zumindest drohe schwerwiegende chronische und akute Unterernährung mit lebensbedrohlichen Folgen und irreparablen schweren körperlichen Beeinträchtigungen. Die medizinische Versorgung insbesondere mit Medikamenten sei nicht ausreichend.

Schließlich wäre ein Widerruf auch verspätet, weil er weder unverzüglich i.S.d. § 73 Abs. 1 AsylVfG noch ohne schuldhaftes Zögern i.S.d. § 121 BGB erfolgen würde und auch die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG nicht gewahrt wäre.

Das Bundesamt widerrief mit Bescheid vom 29. Mai 2006 gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG die mit Bescheid vom 18. Juli 2001 getroffene Feststellung, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliege, und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 4, 5 und 6 AufenthG.

Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG lägen nicht mehr vor, weil zumindest im Raum Kabul die Sicherheits- und Versorgungslage nicht derart schlecht sei, dass der Kläger bei einer Rückkehr dorthin "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde", so dass eine verfassungskomforme Auslegung nicht geboten sei. Im Hinblick auf die persönliche Lebenssituation des Klägers als alleinstehender männlicher Erwachsener sei davon auszugehen, dass er im Kabuler Raum eine vergleichsweise stabile Existenzgrundlage finden werde. Er gehöre nicht zu den Personen, die aufgrund ihrer individuellen Situation besonders schutzbedürftig seien. Seine epileptischen Anfälle könnten in Kabul durch einen dort ansässigen Neurologen behandelt werden und das von ihm benötigte Medikament Carbamezepin sei in Kabul erhältlich. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass er seit seinem 6. Lebensjahr, also seit etwa 1978 an dieser Krankheit leide und bis zu seiner Flucht Anfang 2001 in Afghanistan erfolgreich habe behandelt werden können, denn seinen Angaben nach sei erst nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eine Verschlimmerung eingetreten. Zu der von ihm weiter geltend gemachten posttraumatischen Belastungsreaktion habe Herr Dr. F. ausgeführt, dass eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung bei einer Rückkehr in sein Heimatland nur "eventuell" zu erwarten sei. Zudem seien auch nervenärztliche Behandlungen von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen in Kabul möglich.

Der Kläger hat am 8. Juni 2006 beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Klage auf Aufhebung des Widerrufsbescheides erhoben. Er hat seine Klage im Wesentlichen wie folgt begründet:

Es gebe keinerlei Änderung der Gefährdungssituation, weil sich die Provinz P. nach wie vor in der Hand der Taliban befinde, die inzwischen so mächtig seien, dass sie jederzeit und an jedem Ort Afghanistans und selbst in der Sicherheitszone der Hauptstadt Kabul zuschlagen und töten könnten, so dass er überall in Afghanistan mit Verfolgung, Verhaftung und Tötung durch die Taliban rechnen müsse. Er könne auch nicht an einen anderen Ort oder nach Kabul ausweichen, weil er in diesen Orten niemals gelebt habe und auch keine Verwandtschaft habe, die bereit oder in der Lage sei, ihn aufzunehmen. Die Situation in seiner Heimatregion erfülle die Voraussetzungen eines "innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" gemäß Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie. Der extreme Maßstab des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht mehr anwendbar. Bei erlittener Vorverfolgung gelte zudem ein herabgestufter Maßstab. Auch die verfahrensrechtliche Sperrwirkung für eine politische Leitentscheidung finde insoweit keine Anwendung. Ein Ausweichen nach Kabul sei ihm wegen seiner posttraumatischen Belastungsstörung und wegen seiner epileptischen Anfälle nicht möglich. Auch durch Mitgabe von Medikamenten oder Geld könne eine extreme Gefahr nicht ausgeschlossen werden, weil dadurch der Eintritt eines Gesundheitsschadens lediglich hinausgeschoben werde.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 20. September 2007 hat der Kläger auf Befragen im Wesentlichen angegeben:

Dorfbewohner, die von Kabul oder aus dem Ausland nach P. zurück gekehrt seien, seien von den Taliban getötet worden, weil sie in Kabul mit den Amerikanern und den Europäern zusammen gearbeitet bzw. in einem nicht islamischen Land gelebt hätten. Da bei den Taliban eine Akte über ihn existiere, würden sie ihn sowohl in Kabul als auch in P. verfolgen. Sie hätten ihn damals einen Monat lang inhaftiert. Auf Vorhalt: dies sei beschlossen worden, weil aber Freunde für ihn interveniert hätten, sei er bereits nach einem Tag freigelassen worden. Er leide seit seiner Kindheit an einer epileptischen Krankheit und habe manchmal Anfälle von ein bis drei Stunden Länge, dann werde er bewusstlos. Bei seiner Bundesamtsanhörung sei offensichtlich in Folge eines Dolmetscherfehlers von Asthma die Rede gewesen. Er habe damals volkstümlich gesagt, er leide unter einer Krankheit, bei der die Engel kämen, das habe der Dolmetscher offensichtlich nicht richtig verstanden. Wenn diese Engel ihn beherrschten, werde er bewusstlos und habe danach Herzschwierigkeiten. Er leide unter Depressionen. Sein Gehirn arbeite während eines Anfalls nicht, es werde alles schlecht. Die Situation beruhige sich, wenn er eine Tablette nehme; dann gehe es ihm relativ besser. Die Anfälle würden durch die Tabletten gemindert. Die Tabletten, die er vor seiner Ausreise von Ärzten in Afghanistan erhalten habe, hätten allerdings keine Wirkung gezeigt. Wenn er nach Kabul zurück gehen müsste, hätte er dort niemanden, der ihn unterstützen und ihm bei Anfällen Tabletten geben könnte. Seine drei Söhne hätten in P. in dem Ort B. K. gelebt, seitdem dort ein starkes Erdbeben stattgefunden habe, habe er über ihren Verbleib keine Information. Er wisse nicht, ob sie bei diesem Erdbeben ums Leben gekommen seien oder nicht. Er habe auch keine Informationen über den Aufenthalt seiner Eltern und seiner Onkeln und Tanten aus seinem Heimatdorf seitdem es dort starke Bombardierungen gegeben habe, die während der Taliban-Zeit im Dezember 2001 durch die Amerikaner erfolgt und bei denen sehr viele Häuser des Dorfes zerstört worden seien. Er habe zur Zeit keinerlei Kontakt zu Personen in seiner Heimat.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai 2006 aufzuheben,

hilfsweise,

das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. a, b und c der Richtlinie 2004/83/EG festzustellen.

Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat die Klage mit Urteil vom 20. September 2007 - 5 E 2199/06.A (V) - abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses sei vom Bundesamt zu Recht widerrufen worden, weil im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen der Folgeregelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder der neu eingeführten Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan nicht entgegenstünden. Es lägen auch keine Abschiebungsverbote nach Abs. 2, 3 und 5 dieser Vorschrift vor.

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes müsse der Kläger nicht mehr eine Zwangsrekrutierung durch sie befürchten. Dass etwa auch in der Provinz P. die Taliban wieder erstarkt und aktiv seien, sei unerheblich, weil der Kläger sich im Raum Kabul niederlassen könne. Dem stehe auch sein gesundheitlicher Befund insbesondere wegen Epilepsie nicht entgegen, weil sich aus dem nervenfachärztlichen Zeugnis des Dr. med. F. vom 21. April 2006 eine qualifizierte Gefährdung für Leib und Leben des Klägers nicht entnehmen lasse. Für die Aufbringung der Kosten von Arzneimitteln müsse er sich auf die Möglichkeit der Unterstützung durch im Ausland lebende Angehörige verweisen lassen. Nach Berichten der Deutschen Botschaft in Kabul sei eine Behandlung von Epilepsie in Afghanistan jedenfalls möglich. Auch sein Vorbringen zu einer posttraumatischen Belastungsstörung sei unerheblich, weil die dem Attest zugrundeliegende Behauptung, er sei "einen Monat in Haft gewesen, wo er von Taliban-Milizen gefoltert wurde", sich als Steigerung gegenüber seinem Anhörungsvorbringen darstelle und seine Erklärung dazu nicht plausibel sei. Aus dem ärztlichen Zeugnis des nunmehr behandelnden Dr. med. K. vom 20. Juli 2007 lasse sich nichts über den aktuellen Befund oder gar eine Therapie entnehmen.

Auch aus der allgemeinen Entwicklung in Afghanistan folge kein Abschiebungsverbot. Für den Großraum Kabul könne nicht ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt angenommen werden, der zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt führe. Die Möglichkeit, dass der Kläger etwa einem terroristischen Anschlag von Taliban zum Opfer fallen könnte, sei nur theoretisch. Für den Kläger, der vor seiner Ausreise im landwirtschaftlichen Bereich tätig gewesen und zudem Analphabet sei, sei es sicher sehr schwierig, sich anderweitig zu verdingen, doch folge daraus allein kein Bleiberecht im Bundesgebiet. Ob und gegebenenfalls welche individuellen Anknüpfungen der Kläger in Afghanistan derzeit noch habe, verbleibe dunkel, das Gericht sei jedoch nicht davon überzeugt, dass er keine Informationen über den Verbleib seiner Eltern, Onkel und Tanten sowie seiner eigenen Söhne habe.

Die hilfsweise begehrte Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von Art. 15 a, b und c der Richtlinie 2004/83/EG sei unzulässig, weil diese durch Gesetz vom 19. August 2007 umgesetzt worden sei.

Der Senat hat mit Beschluss vom 6. März 2008 - 8 UZ 2554/07.A - die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil zugelassen.

Nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses am 11. März 2008 hat der Kläger die Berufung am 26. März 2008 eingehend begründet.

Er macht nunmehr unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens im Wesentlichen geltend, bei einer Rückkehr nach Afghanistan bestehe für ihn eine extreme und konkrete individuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bzw. die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 a, b und c i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung in Afghanistan von 44 Jahren für Männer sei er mit seinen bald 38 Jahren ein alter Mann. Er sei auch deshalb kräftemäßig zu dem dort erforderlichen Überlebenskampf nicht mehr in der Lage, weil er an mehreren schweren Erkrankungen leide. Er befinde sich weiterhin in notwendiger ärztlicher Behandlung bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. K. wegen Epilepsie und einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie dessen beigefügtes Attest vom 2. Dezember 2008 belege. Im Falle der Nichtbehandlung seiner Epilepsie mit den notwendigen Medikamenten bestehe die Gefahr einer Schädigung des Gehirns und schwerer sowie längerer epileptischer Anfälle. Bei länger als fünf Minuten andauernden Anfällen mit Bewusstlosigkeit sei sofortige notärztliche Behandlung erforderlich, andernfalls bestehe die Gefahr einer irreversiblen Schädigung des Gehirns oder des tödlichen Verlaufs. Im Falle der mehrfach monatlich auftretenden schweren epileptischen Anfälle werde er hier von einem Mitbewohner betreut, der ihm dann seine Medikamente rechtzeitig gebe und ihn bei einem starken Schock zum Arzt bringe. Selbst wenn er nach einer Rückkehr nach Afghanistan dort eine Arbeit finden sollte, würde er sie nach einem solchen, für andere Personen erkennbaren epileptischen Anfall wahrscheinlich verlieren. Zudem leide er unter posttraumatischen Belastungsstörungen, die dort zu einer Retraumatisierung führen würden.

Im Übrigen sei für einen Widerruf seines subsidiären Schutzes eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine dauerhafte und grundlegende positive Veränderung der Umstände in seinem Heimatland erforderlich, zumal der erleichterte Gefahrenmaßstab des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten sei. Die gegenwärtige Lage in Afghanistan und insbesondere in seiner Heimatprovinz P. sei aber äußerst unbeständig und instabil. Die Gewalt in Afghanistan habe in den vergangenen zwei Jahren stetig zugenommen und mittlerweile das höchste Niveau seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 erreicht, dies gelte insbesondere für alle Distrikte der Provinz P. und für die in diese Provinz führenden Straßen. Hier bestehe derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie, ihm sei auch ein Ausweichen nach Kabul nicht zumutbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des klägerischen Vorbringens wird insbesondere auf den letzten Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 9. Dezember 2008 verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai 2006 und des Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. September 2007 aufzuheben und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit den Voraussetzungen von Art. 15 a, b und c der Richtlinie 2004/83/EG hinsichtlich Afghanistan vorliegen,

hilfsweise, das Verfahren dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen und bis zu dessen Entscheidung das Verfahren auszusetzen.

Die Beklagte hat keinen Antrag angekündigt oder gestellt.

Sie trägt bezüglich der vom Kläger geltend gemachten Erkrankung vor, die eingereichten ärztlichen Atteste stellten lediglich fest, dass er an epileptischen Anfällen leide, die drei- bis viermal monatlich aufträten, sowie an Gastritis und Depressionen. Es fehle jedoch an einem Nachweis, dass es für ihn durch die epileptischen Anfälle zu einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit käme, insbesondere für einen SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy) mit den entsprechenden Risikofaktoren. Allein aufgrund der drei- bis viermaligen monatlichen Anfälle könne nicht davon ausgegangen werden, dass er sich nicht - insbesondere in Kabul - seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Zwar sei die allgemeine Versorgungslage nach wie vor schlecht, er befinde sich jedoch insoweit in der gleichen Lage wie seine Mitbürger.

Den Beteiligten sind nach der Terminsladung mit gerichtlicher Verfügung vom 28. November 2008 jeweils eine "Liste der Erkenntnismittel-Afghanistan (Stand: 5. September 2008)" mit dem Hinweis, dass die aufgeführten Dokumente bei der Entscheidung möglicherweise berücksichtigt werden können, und mit gerichtlicher Verfügung vom 8. Dezember 2008 zwei weitere Dokumente zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung übersandt worden.

Dem Senat liegen die das Ursprungs- und das Widerrufsverfahren betreffenden Akten des Bundesamtes und die jeweiligen Streitakten vor, die zum Gegenstand der Verhandlung und der Beratung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe:

Die vom Senat zugelassene Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere gemäß § 124 a Abs. 6 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO form- und fristgerecht begründet worden.

Sie hat auch in der Sache Erfolg, weil das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit dem angefochtenen Urteil vom 20. September 2007 die auf Aufhebung des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom 29. Mai 2006 und (hilfsweise) auf Feststellung des Vorliegens "der Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. a, b und c der Richtlinie 2004/83/EG" gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen hat.

Der Widerrufsbescheid, für dessen Rechtmäßigkeit abweichend von den allgemeinen Grundsätzen bei Anfechtungsklagen in der vorliegenden asylverfahrensrechtlichen Streitigkeit gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung abzustellen ist, ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, soweit die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG widerrufen worden ist, weil für den Kläger in Bezug auf Afghanistan die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes in der durch Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970 [1982 f.]) - Richtlinienumsetzungsgesetz - geänderten Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. März 2008 (BGBl. I S. 313) - AufenthG - vorliegen.

Entgegen dem vom Kläger im Widerrufsverfahren unter dem 21. Mai 2006 erhobenen Einwand, der Widerruf sei verspätet, leidet der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 29. Mai 2006 allerdings nicht schon an derartigen formellen Mängeln.

Unabhängig von der Frage, ob es auf einen Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 73 Abs. 3 AsylVfG überhaupt anwendbar ist, dient das vom Kläger geltend gemachte Gebot des unverzüglichen Widerrufs gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG jedenfalls ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteil vom 20. März 2007 - 1 C 21/06 - BVerwGE 128 S. 199 ff. = NVwZ 2007 S. 1089 ff. = juris Rdnr. 18; vgl. auch Hess. VGH, Urteil vom 10. Februar 2005 - 8 UE 280/02.A - AuAS 2005 S. 143 f. = juris Rdnr. 75).

Die vom Kläger weiter herangezogene Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG ist nach wohl überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - und damit ebenso auf Abs. 3 dieser Vorschrift - nicht anwendbar (vgl. u. a. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12. August 2003 - A 6 S 820/03 - InfAuslR 2003 S. 455 f. = juris Rdnr. 3; Hess. VGH, Urteil vom 10. Februar 2005 a.a.O. juris Rdnr. 76) und wird inzwischen auch vom Bundesverwaltungsgericht jedenfalls in den Fällen für nicht anwendbar gehalten, in denen der Widerruf - wie hier - innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG erfolgt (vgl. Urteil vom 12. Juni 2007 - 10 C 24/07 - NVwZ 2007 S. 1330 ff. = InfAuslR 2007 S. 401 ff. = juris Rdnr. 14). Jedenfalls beginnt diese Jahresfrist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch frühestens nach einer Anhörung mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. Urteil vom 20. März 2007 a.a.O. juris Rdnr. 18), also hier frühestens ab 11. April 2006, so dass sie mit dem hier am 1. Juni 2006 per Einschreiben zugestellten Bescheid vom 29. Mai 2006 ohnehin eingehalten wäre.

Das gilt auch für die Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG. Diese ist auch auf Widerrufsbescheide anwendbar, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschrift am 1. Januar 2005 ergangen sind, sich aber auf vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar gewordene Alt-Anerkennungen beziehen, sie ist aber in diesen Fällen erst mit dem 1. Januar 2005 angelaufen, also hier ebenfalls eingehalten; ganz abgesehen von der Frage, ob die dort geregelte Prüfungspflicht auch im Interesse des anerkannten Flüchtlings oder allein im öffentlichen Interesse besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2007 a.a.O. juris Rdnrn. 12 und 17).

Der Widerruf war des weiteren nicht bereits in entsprechender Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen, wonach der Beendigungstatbestand des Satzes 2 dieser Vorschrift keine Anwendung findet, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Zwar beruft sich der Kläger auf eine posttraumatische Belastungsstörung wegen einer vor seiner Ausreise erlittenen einmonatigen Haft mit Folter durch die Talibanmilizen und auf die Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Rückkehr in sein Heimatland. Der Berücksichtigung dieses Vorbringens steht aber entgegen, dass das Bundesamt eine politische Verfolgung wegen dieser vom Kläger in seiner Anhörung vom 26. Februar 2001 noch auf einen Tag begrenzten Festnahme durch die Taliban mit Bescheid vom 18. Juli 2001 mangels Erheblichkeit bestandskräftig abgelehnt hat. Zudem ist der Feststellung des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main in seinem hier angefochtenen Urteil vom 20. September 2007 zuzustimmen, dass die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung diese Steigerung seines Vorbringens nicht plausibel erklären können. Auch im Übrigen erfüllt das unter dem 21. Mai 2006 von ihm eingereichte ärztliche Attest des Dr. med. W. F. vom 7. März 2001 auch unter Berücksichtigung seiner ärztlichen Eintragungen in den anwaltlichen Fragebogen die in der Rechtsprechung für die Geltendmachung einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgestellten Mindestanforderungen nicht. Danach muss sich aus dem fachärztlichen Attest nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa auch Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129 S. 251 ff. = NVwZ 2008 S. 330 ff. = juris Rdnr. 15; vgl. auch zu den weiteren Anforderungen hinsichtlich Exploration sowie Darstellung und Überprüfung der geltend gemachten Anknüpfungstatsachen: Hess. VGH, Beschluss vom 12. Dezember 2007 - 7 TG 2410/07 - juris Rdnr. 20).

Der Widerrufsbescheid ist aber aufzuheben, soweit in ihm die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG widerrufen worden ist, weil für den Kläger in Bezug auf Afghanistan die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.

Dabei ist nach der zwischenzeitlichen Rechtsänderung durch Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 aus Gründen effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG vorrangig auf das neu eingefügte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG abzustellen und die Beklagte über die Aufhebung des Widerrufsbescheides hinaus zu der positiven Feststellung dieses Abschiebungsverbots zu verpflichten, weil es von dem Widerrufsbescheid noch nicht erfasst war, der nur das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als Nachfolgeregelung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG betraf.

Der nationale Gesetzgeber hat mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG Vorgaben für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - aufgenommen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu § 60 AufenthG, BT/Ds. 16/5065 S. 186) und diese als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet, über deren Vorliegen bei Asylbewerbern allein das Bundesamt zu entscheiden hat. Dieser europarechtlich determinierte Abschiebungsschutz bildet einen eigenständigen Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegen-standsteil, der entsprechend der typischen Interessenlage eines in Bezug auf sein Heimatland ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz begehrenden Klägers vorrangig vor dem sonstigen herkunftslandbezogenen (nationalen) ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz zu prüfen ist. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots durch das Bundesamt, mit der zugleich verbindlich die positiven Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus nach der Qualifikationsrichtlinie festgestellt werden, vermittelt dem Schutzsuchenden regelmäßig weitergehende Rechte als die Feststellung eines sonstigen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots, so dass für die Ausländerbehörde auch erkennbar sein muss, ob ein vom Bundesamt festgestelltes ausländerrechtliches Abschiebungsverbot auf den Voraussetzungen des Art. 15 QRL oder nur auf nationalem Recht beruht.

Die Annahme getrennter Streitgegenstände oder Streitgegenstandsteile entspricht zudem tendenziell eher der in Art. 18 QRL vorgesehenen Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.

Da die in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG normierten Abschiebungsverbote an Umstände anknüpfen, die nach Art. 15 QRL als ernsthafter Schaden gelten, und damit inhaltlich dem Regelungsbereich des subsidiären Schutzes nach dieser Richtlinie zuzuordnen sind, hat der deutsche Gesetzgeber auch nur für diese Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 11 AufenthG die unmittelbare Geltung einzelner Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie angeordnet.

Seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes ist bei dem nationalen ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz das Bundesamt bei Asylbewerbern auch für die ausländerrechtliche Ermessensentscheidung zuständig, ob nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von der Abschiebung abgesehen werden soll, so dass es sich nunmehr bei den nationalen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf den jeweiligen Abschiebezielstaat um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt.

In Anpassung an diese neue Rechtslage ist deshalb ein Abschiebungsschutzbegehren grundsätzlich dahin auszulegen, dass in einem Stufenverhältnis in erster Linie im Hauptantrag die Verpflichtung zur Feststellung eines europarechtlich determinierten Abschiebungsschutzes und nur hilfsweise die Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsschutzes begehrt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43/07 - AuAS 2008 S. 245 ff. = NVwZ 2008 S. 1241 ff. = juris Rdnrn. 10 bis 15).

Der vom Kläger angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 29. Mai 2006 bezog sich auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) und damit lediglich auf ein nationales ausländerrechtliches Abschiebungsverbot, so dass der Kläger mit Aufhebung dieses Bescheides nur diesen nachrangigen Abschiebungsschutz erhielte. Im Interesse effektiven Rechtsschutzes und unter Berücksichtigung der typischen Interessenlage eines um Abschiebungsschutz nachsuchenden Ausländers hat der Senat unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage deshalb vorrangig die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des subsidiären Schutzstatus nach der Qualifikationsrichtlinie geprüft und das Bundesamt zu einer entsprechenden Feststellung verpflichtet.

Die Voraussetzungen für ein solches absolutes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wonach - in Umsetzung des subsidiären Schutzes nach Art. 15 c QRL - von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist, sind im Falle des Klägers in Bezug auf Afghanistan gegeben.

In seiner Heimatregion, der Provinz P., herrscht derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen der afghanischen Regierungsarmee/ISAF/NATO einerseits und den Taliban und anderen oppositionellen Kräften andererseits.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem bereits zitierten Urteil vom 24. Juni 2008 (a.a.O. juris Rdnrn. 18 ff.) Merkmale dieses "europarechtlichen" Abschiebungsverbotes unter Heranziehung der Qualifikationsrichtlinie näher präzisiert; dem folgt der Senat.

Danach ist der Begriff eines "internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts anhand der vier Genfer Konventionen von 1949 auszulegen, die durch Zusatzprotokolle ergänzt worden sind. Darunter fallen alle bewaffneten Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des staatlichen Hoheitsgebiets ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen, während innere Unruhen und Spannungen, wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, nicht als ein derartiger bewaffneter Konflikt gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Von dem völkerrechtlichen Begriff des "bewaffneten Konflikts" sind nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an erfasst. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreichen müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des Internationen Roten Kreuzes erforderlich ist, hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen und kann auch hier unentschieden bleiben. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zufluchtsuchende nach Art. 15 c QRL widerspricht. Kriminelle Gewalt wird bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann nicht berücksichtigt, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird.

Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt erfordert insbesondere auch keine landesweite Konfliktsituation, sondern liegt auch schon dann vor, wenn die oben genannten Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind; soweit der Senat in seinem Urteil vom 7. Februar 2008 (- 8 UE 1913/06.A - juris Rdnrn. 42 und 44) noch eine andere Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht mehr fest. Dass der subsidiäre Abschiebungsschutz keinen landesweiten Konflikt voraussetzt, ergibt sich daraus, dass gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG auch für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Regeln über den internen Schutz nach Art. 8 QRL gelten und ein aus seinem Herkunftsstaat Geflohener nur auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden kann, wenn diese außerhalb des Gebietes eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt. Damit wird anerkannt, dass sich ein innerstaatlicher Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss. Auch nach den völkerrechtlichen Bestimmungen genügt, dass die bewaffneten Gruppen Kampfhandlungen in einem "Teil des Hoheitsgebiets" durchführen.

Nach diesen Kriterien und den vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass in der Heimatregion des Klägers ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattfindet.

Die Provinz P. liegt im südöstlichen Afghanistan im sog. Paschtunengürtel. Eine durchlässige Grenze trennt sie von Pakistan. Der Senat hat die Machtverhältnisse in diesem Bereich Anfang 2005 als undurchsichtig und instabil bezeichnet und dazu ausgeführt (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 10. Februar 2005 a.a.O. juris Rdnr. 68)

"Neben den für diese paschtunisch geprägten Gebiete typischen Stammesfehden und den verstärkten Aktivitäten der mit den Taliban kooperierenden Hezb-e-Islami des radikalen paschtunischen Milizenführers Hekmatyar kommt es hier zu einer Destabilisierung durch die Reinfiltration von Taliban und Al-Qaida, die zwar von den etwa 18.000 Mann starken US- bzw. Anti-Terror-Streitkräften bekämpft werden (vgl. AA, Lagebericht Oktober 2004 S. 12), aber auf Grund des zur Stammesloyalität verpflichtenden Ehrenkodex "Paschtunwali" großen Rückhalt bei den paschtunischen Stammesführern finden. So ist schon davon die Rede, dass die Taliban im Osten und Süden Afghanistans wieder etwa 35 % des Landes kontrollieren, und zwar mit stillschweigender Billigung Karsais (vgl. Dr. Danesch an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004 S. 10; A., "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zu "Das Parlament" vom 22. November 2004 S. 24 ff.). Angesichts des teilweise trotzdem bestehenden Einflusses regierungstreuer Kräfte und sonstiger Lokalherrscher und der Bekämpfung durch die Anti-Terror-Streitkräfte kann aber nicht von stabilen und gesicherten regionalen Herrschaftsstrukturen der Taliban/Al Qaida ausgegangen werden."

Viele Vertreter von Hilfsorganisationen oder ausländische Militärs beschreiben P. inzwischen als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt; so ist der Gouverneur H. T. am 10. September 2006 von den Taliban ermordet worden, die während der Beerdigung noch ein Selbstmordattentat verübten. Sie gewinnen im gesamten Südosten Afghanistans wieder an Stärke und betrachten P. als Rückzugs- und Transitraum (vgl. Wegweiser zur Geschichte-Afghanistan, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 2. Aufl. 2007, S. 149 f.). Auch in anderen Quellen wird von diesem Bombenattentat und darüber berichtet, dass die Infiltration der Guerilla über die nahe pakistanische Grenze rapide zugenommen hat und in diesem paschtunisch geprägten Gebiet vermehrt Überfälle und Selbstmordattentate der "Fundis der Neo-Taliban" stattfinden (vgl. Koelbl/Ihlau, Geliebtes, dunkles Land, 1. Aufl. 2007, S. 45 ff. "Im Herzen von Paschtunistan").

Wie der gesamte Süden und Südosten Afghanistans wird auch diese Region von den zunehmenden Kämpfen gegen die Taliban erfasst.

So schreibt der Gutachter Dr. D. in seinem Gutachten vom 4. Dezember 2006 an den Senat (vgl. S. 20), seit mehreren Monaten tobe im Osten und Süden ein regelrechter Krieg zwischen amerikanischen und afghanischen Truppen auf der einen und den Taliban auf der anderen Seite. Die afghanische Armee solle von gegenwärtig 28.000 Mann (ursprünglich sollte sie bis 70.000 Soldaten umfassen) auf 200.000 Mann aufgestockt werden. In den letzten Wochen (seit September 2006) habe der Krieg zwischen NATO-Truppen und afghanischer Armee auf der einen Seite und den Taliban auf der anderen Seite an Heftigkeit zugenommen. Die 31.000 Soldaten der US-Truppen und anderer NATO-Länder, die insgesamt am Hindukusch stünden, sähen sich im Süden und Osten Afghanistans zusammen mit den Truppen der afghanischen Armee in einen heftigen Krieg verwickelt und seien nicht in der Lage, die Taliban zu besiegen. Die Angriffe der Taliban nähmen kriegsähnliche Dimensionen an. In dieser Situation habe sich die afghanische Regierung laut den Aussagen von Verteidigungsminister R. W. Mitte Juni 2006 zum Aufbau einer Wehrpflichtigenarmee entschlossen (bis heute eine Berufsarmee), weil sie mehr Soldaten für den sich abzeichnenden Krieg brauche. Bis auf den heutigen Tag fänden regelrechte Schlachten statt. Die Taliban genössen im Süden und Osten des Landes große Unterstützung durch die paschtunische Bevölkerung, die ihre islamistische Ideologie teile.

Diese Einschätzung wird von amnesty international geteilt (vgl. Verena Harpe, "Ab in den Hindukusch", vom 1. Januar 2007); im Süden und Osten Afghanistans herrsche offener Krieg, häuften sich Selbstmordattentate und seien allein im vergangenen Jahr über 2.000 Menschen bei Anschlägen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen Zivilisten.

Auch der Senat hat schon im Juni 2007 festgestellt, dass bürgerkriegsähnliche bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Taliban und anderen extremistischen Gruppen (allenfalls) im Süden und Süd-Osten des Landes stattfinden (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 - 8 UZ 452/06.A - AuAS 2007 S. 202 ff. = NVwZ-RR 2008 S. 58 f. = juris Rdnr. 48).

Dies entspricht auch dem letzten Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 7. März 2008 (Stand: Februar 2008). Danach sei seit Frühjahr 2007 vor allem im Süden und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen von regierungsfeindlichen Kräften habe 2007 erheblich zugenommen. Die Anti-Terror-Koalition bekämpfe die radikal-islamistischen Kräfte vor allem im Süden, Südosten und Osten des Landes. Die Infiltration islamistischer Kräfte (u. a. Taliban) aus dem pakistanischen Paschtunengürtel nach Afghanistan sei ungebrochen. Vor allem im Süden, aber auch im Südosten sei 2007 ein deutlicher Anstieg von Anschlägen auf Einrichtungen der Provinzregierung und Hilfsorganisationen zu verzeichnen (vgl. S. 5 und S. 11 unter Nr. 4.2).

Von diesem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Provinz P. gehen für eine Vielzahl von Zivilpersonen Gefahren aus, die sich in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr so verdichten würden, dass sie für ihn als Angehörigen der Zivilbevölkerung eine "erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben" gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. "eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" gemäß Art. 15 c QRL in Form von Bestrafung und/oder Zwangsrekrutierung durch die Taliban begründen würden.

Dabei bedarf es vorliegend nach Auffassung des Senats keiner abschließenden Entscheidung darüber, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 15 c QRL zusätzlich aufgeführten und in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht übernommenen Merkmal der "willkürlichen Gewalt" einerseits und der in beiden Vorschriften geforderten "individuellen Bedrohung" auch unter Einbeziehung des von Deutschland vorgeschlagenen und durch den Zusatz "normalerweise" abgemilderten 26. Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie aufzulösen ist, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Abgesehen von dem unstreitigen Ausschluss bloß mittelbarer nachträglicher Auswirkungen eines bewaffneten Konflikts, wie etwa einer schlechten Sicherheits- und Versorgungslage (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 a.a.O. juris Rdnr. 48; BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. juris Rdnr. 35), wird insoweit erörtert, ob eine Individualisierung der allgemeinen Gefahren, die normalerweise nicht alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betreffen, durch eine besondere Gefahrendichte, wie sie etwa flüchtlingsrechtlich für die Annahme einer Gruppenverfolgung verlangt würde, oder schon durch einen hinreichend engen räumlichen und zeitlichen Bezug zu einem bewaffneten Konflikt mit erheblicher Opferzahl in der Zivilbevölkerung und/oder durch besondere individuelle gefahrerhöhende Umstände oder persönliche Merkmale, wie etwa eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit, erforderlich ist. Umstritten ist außerdem, ob die nach der Gesetzesbegründung auch im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigende "willkürliche Gewalt" völkerrechtswidrige Gewaltakte voraussetzt, die nicht zwischen militärischen und zivilen Objekten unterscheiden und die Zivilbevölkerung unverhältnismäßig treffen, oder ob dadurch lediglich die Individualisierungsanforderungen als Teil der Prognoseentscheidung eingeschränkt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rdnrn. 34 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 21. Mai 2007 - 4 K 2563/07 - juris Rdnr. 18; Hruschka/Lindner, NVwZ 2007 S. 645 [649 f.]; Funke-Kaiser, InfAuslR 2008 S. 90 ff.; Markard, NVwZ 2008 S. 1206 ff.).

Diese möglicherweise europarechtlich zu klärenden Fragen können hier unentschieden bleiben, weil sich die aus der völkerrechtswidrigen "willkürlichen Gewalt" der Taliban und anderer extremistischer Gruppen für die Zivilbevölkerung seiner Heimatprovinz P. ergebenden Gefahren in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr so zuspitzen würden, dass die Individualisierungsanforderungen ohne weiteres erfüllt wären, zumal zu seinen Gunsten im Sinne einer Beweislastumkehr der herabgemilderte Prognosemaßstab gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL heranzuziehen ist, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Es ist nämlich davon auszugehen, dass der Kläger Anfang Februar 2001 vor einer ihm drohenden Zwangsrekrutierung oder/und Bestrafung durch die Taliban aus seinem Heimatdorf in der Provinz P. geflüchtet ist.

Das Bundesamt hat ihm mit bestandskräftigem Bescheid vom 18. Juli 2001 wegen einer ihm im Falle der Rückkehr drohenden Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban ein Abschiebungshindernis in unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuflG zuerkannt, was eine konkrete, d.h. einzelfallbezogen und individuell auf seine Person zielende erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraussetzt (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 11. November 2004 - 8 UE 2759/01.A - juris Rdnr. 26). Nach dem vom Bundesamt dafür herangezogenen Maßstab, dass eine konkrete Gefahr für den Kläger "derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden" könne, und nach der Begründung seines bestandskräftigen Bescheides ist das Bundesamt insoweit von der Richtigkeit der klägerischen Darstellung seines "Vorverfolgungsschicksals" ausgegangen. Es hat eine politische Verfolgung wegen des von ihm geschilderten Rekrutierungsversuchs lediglich deshalb verneint, weil Anhaltspunkte dafür, dass eine eventuelle Rekrutierung in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale in seiner Person erfolgten, nicht vorlägen und von ihm auch nicht behauptet worden seien. Vielmehr habe er selbst vorgetragen, dass alle Männer aus seinem Dorf rekrutiert werden sollten. Diese Angaben deckten sich auch mit den dem Bundesamt vorliegenden Erkenntnissen, wonach die Zwangsrekrutierungen der Taliban willkürlich und nach Gutdünken und ohne Rechtsgrundlage erfolgten. Nach den vorliegenden Informationen vollzögen sich die Rekrutierungen der Taliban zumeist nach dem Muster, dass sie an die Dorfältesten einer Gemeinde heranträten und entsprechend der Größe der Gemeinde eine bestimmte Anzahl von männlichen Kämpfern forderten. Es werde dann den Dorfältesten überlassen zu entscheiden, wer den Taliban folgen müsse. Außerdem seien die Taliban-Krieger in den Städten überall präsent und besetzten bewaffnet alle Straßenkreuzungen. Träfen sie dort auf Männer im wehrfähigen Alter bis zu 50 Jahren, würden diese ohne Umstände in ihren Militärfahrzeugen abtransportiert.

Diese mit der auf sein Heimatdorf bezogenen Schilderung des Klägers deckungsgleiche Beschreibung der Zwangsrekrutierungspraktiken der Taliban in den Erkenntnismitteln des Bundesamtes spricht auch nach Auffassung des Senats dafür, dass ihm diese Angaben geglaubt werden können und keine stichhaltigen Gründe dagegen sprechen, dass er bei einer Rückkehr in die paschtunische Stammesgesellschaft seiner Heimatregion wegen seiner Vorgeschichte von einer Bestrafung oder jedenfalls wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe paschtunischer Männer im wehrfähigen Alter von einer Zwangsrekrutierung durch die mit großem Rückhalt der dortigen Bevölkerung agierenden Taliban bedroht würde.

Da die den Kläger infolge des bewaffneten Konflikts bedrohende Leib- oder Lebensgefahr danach nicht auf neuen, andersartigen verfolgungsbegründenden Umständen beruht, sondern dergestalt in einem inneren Zusammenhang zu den zu seiner Ausreise führenden Gründen steht, dass mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen oder dem erhöhten Risiko einer gleichartigen Bedrohung zu rechnen ist, ist selbst nach den bisher in der Rechtsprechung für die Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs allein im Rahmen der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung aufgestellten Kriterien die nunmehr auch für den subsidiären Schutz anwendbare Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL gerechtfertigt (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 7. Februar 2008 - 10 C 33/07 - AuAS 2008 S. 118 f. = DVBl. 2008 S. 1255 ff. = juris Rdnrn. 35 ff.). Wegen der an seine Vorgeschichte anknüpfenden konkret-individuellen Zielgerichtetheit einer drohenden Bestrafung und/oder die an seine Gruppenzugehörigkeit anknüpfende Gefahr einer Zwangsrekrutierung ist auch ein für die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 c QRL hinreichender Individualisierungsgrad gegeben, da damit persönliche Merkmale in Bezug genommen werden, die sogar geeignet sein könnten, eine Flüchtlingsanerkennung zu stützen (vgl. Markard, a.a.O. S. 1207 f.).

Der Kläger kann schließlich nicht gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL auf einen internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan verwiesen werden.

Das würde voraussetzen, dass für ihn dort keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, bestünde und von ihm nach den dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seinen persönlichen Umständen vernünftigerweise erwartet werden könnte, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dabei sind nicht nur verfolgungsbedingte Gefahren, sondern ist insbesondere auch zu berücksichtigen, ob für ihn am Zufluchtsort - unabhängig von den Lebensverhältnissen in seinem Herkunftsgebiet - eine ausreichende Lebensgrundlage besteht und jedenfalls sein Existenzminimum gewährleistet ist, wobei einiges dafür spricht, dass die gemäß Art. 8 Abs. 2 QRL zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftslandes - oberhalb der Schwelle des Existenzminimums - auch den Zumutbarkeitsmaßstab prägen (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rdnrn. 27 f. und vom 29. Mai 2008 - 10 C 11/07 - NVwZ 2008 S. 1246 ff. = DVBl 2008 S. 1251 ff. = juris Rdnrn. 32 ff.).

Diese Voraussetzungen sind in anderen Landesteilen Afghanistans, insbesondere in dem wohl allein für einen internen Schutz in Frage kommenden Bereich der Hauptstadt Kabul angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation, der schlechten Sicherheits- und unzureichenden Versorgungslage für den aus der ländlichen Provinz P. stammenden, ungelernten und kranken und seit knapp acht Jahren in Deutschland lebenden Kläger, der in anderen Gebieten und insbesondere in Kabul über keinerlei familiäres oder soziales Netzwerk oder über Ortskenntnisse verfügt, nicht gegeben.

Zu der allgemeinen Situation hat der Senat in seinem Urteil vom 7. Februar 2008 u.a. ausgeführt (a.a.O. juris Rdnrn. 25 ff., dort allerdings anonymisiert):

"Den vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen lässt sich hierzu folgendes entnehmen:

Die Wirtschaftslage Afghanistans, eines der ärmsten Länder der Welt, ist nach Darstellung des Auswärtigen Amts (Lageberichte vom 19. November 2005, 13. Juli 2006 und 17. März 2007) "desolat". Die humanitäre Situation biete im Hinblick auf etwa vier Millionen - vornehmlich aus Pakistan - zurückgekehrte Flüchtlinge große Herausforderungen. Die Wohnraumversorgung sei unzureichend, Wohnraum sei knapp und die Preise in Kabul seien hoch. Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich zwar grundsätzlich verbessert, in anderen Gebieten sei sie aber weiter "nicht zufrieden stellend". Humanitäre Hilfe, die weiterhin von erheblicher Bedeutung sei, werde im Norden durch Zugangsprobleme, im Süden und Osten durch Sicherheitsprobleme erschwert. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend, selbst in Kabul. Rückkehrer könnten "auf Schwierigkeiten stoßen", wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten, insbesondere wenn ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlten. Freiwillig zu ihren Angehörigen zurückkehrende Afghanen strapazierten die nur sehr knappen Ressourcen an Wohnraum und Versorgung weiter. Bemühungen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und anderer Einrichtungen um die Errichtung von Unterkünften hätten nur geringe Wirkung gehabt. Bis Ende 2003 seien knapp 70.000 Unterkünfte gebaut worden, 2004 wegen fehlender Finanzen nur noch 27.000. Die Fortsetzung dieser Hilfsmaßnahmen sei von neuen Unterstützungszusagen der Geberländer abhängig. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien in Afghanistan nicht vorhanden. Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gebe es nicht. Familien und Stämme übernähmen die soziale Absicherung.

Die Versorgungslage speziell in Kabul hat der Journalist und Autor Dr. Mostafa Danesch in seinem vom Senat eingeholten Sachverständigengutachten vom 4. Dezember 2006 wie folgt dargestellt (Seite 22 ff.): Die Lebensbedingungen der Kabuler hätten sich seit dem Jahre 2001 drastisch verschlechtert. Tag für Tag verhungerten in Kabul Menschen, nach denen in Afghanistan "kein Hahn kräht". Menschen, die Mangelernährung und Krankheiten erlägen, würden ohne viel Umstände verscharrt. Die durch das jahrelange Elend abgestumpfte Bevölkerung nehme solche Todesfälle oft fatalistisch hin. Die afghanische Hauptstadt sei in den letzten Jahren durch den Zustrom von Rückkehrern aus den Nachbarländern sowie Binnenflüchtlingen stark angewachsen. Nachdem Kabul im Gefolge der jahrelangen Bürgerkriege stark entvölkert worden sei - von ca. drei Millionen auf eine Million Einwohner zum Ende der Taliban-Herrschaft -, sei die Stadt in den darauf folgenden Jahren auf nach offiziellen Angaben geschätzte 4,5 Millionen Einwohner angewachsen. Grundsätzlich erhalte jede in Kabul eintreffende Familie - also auch abgeschobene Rückkehrer aus Europa - von den UN eine einmalige Hilfe von 12 $ pro Person. Dann seien die Menschen auf sich gestellt und müssten sich selbst eine Unterkunft suchen. Weitere Hilfe durch die UN oder Nicht-Regierungs-Organisationen gebe es in Kabul momentan nicht. Erschwinglicher Wohnraum außerhalb der Flüchtlingslager existiere für Rückkehrer nicht. Ein einfaches Zimmer koste bis zu 20 US-Dollar im Monat. Dafür erhalte man eine Unterkunft in weitab vom Zentrum gelegenen Außenbezirken, wo es oft nicht die geringste Infrastruktur gebe. Ein durchschnittlicher Tageslohn betrage in Kabul ca. zwei US-Dollar, wobei es für allein stehende Rückkehrer schwierig sei, Gelegenheitsarbeiten zu finden. Rund 60 bis 70% der Kabuler Bevölkerung bezögen ihr Wasser aus selbst gegrabenen Flachbrunnen oder öffentlichen Handpumpen, manche müssten eine bis eineinhalb Stunden zu Fuß gehen, um Wasser heranzuschaffen, und selbst wohlhabende Stadtgebiete würden nur tageweise mit Leitungswasser versorgt.

Diese Darstellung der Versorgungslage hat amnesty international in einem vom Senat eingeholten Gutachten vom 17. Januar 2007 (Bd. II Bl. 207 ff. GA, S. 4 ff.) im Wesentlichen bestätigt und die Situation als "hochproblematisch" bezeichnet. Der enorme Bevölkerungszuwachs habe in Kabul einen akuten Mangel an Wohnraum verursacht, so dass sich große Slumviertel gebildet hätten. Viele Menschen lebten in Ruinen. Nach Schätzungen der Caritas verfüge etwa eine Million Menschen in Kabul weder über ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser. Die hygienischen Verhältnisse in den Armenvierteln seien katastrophal. Das Rückkehrerprogramm "Return, Reception and Reintegration of Afghan Nationals to Afghanistan (RANA)" sei nach Auskunft der mit der Durchführung beauftragten Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis 30. April 2007 begrenzt gewesen, wobei unklar sei, ob von diesem Programm auch abgeschobene Afghanen hätten profitieren können. Das Auswärtige Amt hat auf Anfrage des Senats im vorliegenden Verfahren mit Auskunft vom 29. Mai 2007 (Bd. II Bl. 261 f. GA) bestätigt, dass das RANA-Programm der Europäischen Union Ende April 2007 ausgelaufen sei.

Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln in Afghanistan, insbesondere in Kabul, müssen nach Einschätzung von amnesty international (Stellungnahme vom 17. Januar 2007) für die nicht wohlhabende Bevölkerung als unzureichend bezeichnet werden. Viele Menschen litten unter Mangel- und Unterernährung. Als Folge dieser desolaten Verhältnisse seien Infektionskrankheiten, Tuberkulose etc. weit verbreitet. Eine Behandlung sei in der Regel nicht möglich, weil die Gesundheitsversorgung in Afghanistan unzulänglich sei. Während auf dem Land oft überhaupt keine Versorgung gegeben sei, sei es in Kabul, wo einige Krankenhäuser vorhanden seien, meist nur über Beziehungen oder gegen Bestechung möglich, auch tatsächlich behandelt zu werden. Diese Situation erkläre die geringe Lebenserwartung und eine der weltweit höchsten Kindersterblichkeitsraten. Ein erhebliches Problem sei die große Arbeitslosigkeit, vor allem in Kabul. Rückkehrer konkurrierten hier mit der übrigen Bevölkerung um die wenigen Arbeitsplätze. Oft bleibe nur eine gelegentliche Tätigkeit als Tagelöhner, doch auch hier sei der Markt hart umkämpft. Angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land könne die Versorgung der bedürftigen Bevölkerung nicht durch Angebote von internationalen Hilfsorganisationen aufgefangen werden. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Organisationen ihre Aktivitäten aufgrund von Sicherheitsbedenken immer stärker einschränken müssten und die Bereitschaft zu einem weiteren Engagement daher stetig abnehme. Diese Einschätzung werde vom UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) geteilt.

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Die Einschätzung der Versorgungslage und der Arbeitsmarktsituation in den vom Senat eingeholten Gutachten von Dr. Danesch und amnesty international werden im Wesentlichen bestätigt durch die in die mündliche Verhandlung eingeführten Dokumente. Peter Rieck hat in seinem Gutachten für das OVG Rheinland-Pfalz zwar hoch qualifizierten Rückkehrern aus dem Ausland gute Chancen bei der Arbeitsplatzsuche in Afghanistan eingeräumt, jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass an- und ungelernte männliche Arbeitskräfte dort eine den Lebensunterhalt sichernde Erwerbsmöglichkeit finden, als gering bezeichnet. Weiter hat er darauf hingewiesen, dass in Kabul und mehr noch in den ländlichen Regionen Afghanistans die Rekrutierung von Arbeitskräften sehr stark von persönlichen Beziehungen geprägt werde und diese Beziehungsgeflechte sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der öffentlichen Verwaltung zu finden und stark ausgeprägt seien. Die internationale Organisation für Migration hat in ihrer Stellungnahme vom 23 November 2007 die Beschreibung der Wohnungssituation, wie sie in den vom Senat eingeholten Gutachten dargestellt worden ist, bestätigt und mit entsprechenden Zahlenangaben untermauert. Da der Kläger weder über eine Berufsausbildung noch über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügt, gehört er zu der Personengruppe, deren Integrationschancen in Afghanistan eher gering sind. Daran ändern seine hier erworbenen Sprachkenntnisse nach Einschätzung des Senats nichts, da sie - wie der Kläger selbst gesagt hat - nicht ausreichen dürften, um in Afghanistan als Dolmetscher oder Übersetzer tätig zu werden.

Zur Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul, hat der Sachverständige Dr. Danesch in seinem Gutachten vom 4. Dezember 2006 (Seite 13 f.) ausgeführt, diese sei katastrophal. Im ganzen Land herrschten praktisch die Drogenmafia und die großen Kriegsfürsten. Weder die Regierung noch die ausländischen Truppen seien in der Lage, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Gefahr, durch Kriminalität, bei politisch motivierten Attentaten, als ziviles Opfer militärischer Auseinandersetzungen oder durch unterlassene Hilfeleistung und Machtmissbrauch seitens der Staatsorgane zu Schaden zu kommen, bestehe für jeden Afghanen, besonders jedoch für mittellose Rückkehrer. Staatliche Organe, beispielsweise Justiz oder Polizei, seien weder in der Lage noch bereit, jemanden zu schützen, der solchen Missständen zum Opfer falle. Polizei und Justiz seien vollständig korrupt und von den verschiedenen Mujahedin-Parteien unterwandert. Selbst Präsident Karsai wage sich ohne US-amerikanische Leibwächter nicht auf die Straße. Auf seine eigenen Polizeikräfte oder einheimische Leibwächter könne er sich nicht verlassen. Während seines Aufenthalts in Afghanistan im Dezember 2005 habe er, Dr. Danesch, festgestellt, dass in einem von mindestens 700.000 Menschen, zumeist Schiiten, bewohnten Stadtviertel weder Polizeikräfte noch ausländische Truppen oder Hilfsorganisationen präsent gewesen seien. Gerade hier oder in anderen Wohngebieten, die für die ausländischen Truppen "no-go"-Gebiete seien, müsse sich ein abgeschobener Asylbewerber zwangsläufig niederlassen. Es gebe dort keine neutrale Instanz, die ihn vor Gefahren schützen könne. Nacht für Nacht kämen in Kabul Menschen ums Leben, ohne dass diese Fälle je aufgeklärt würden.

Die in Afghanistan stationierte internationale Schutztruppe (International Security Assistance Force, ISAF) und die dort tätigen Hilfsorganisationen sind nach Darstellung von Dr. Danesch nicht in der Lage, ein gewisses Maß an Sicherheit und Schutz für die Bevölkerung zu gewährleisten. Bei seinem letzten Besuch in Afghanistan im Dezember 2005 habe er feststellen müssen, dass die ausländischen Schutztruppen und die Hilfsorganisationen sich hinter Betonabsperrungen verschanzt hätten, die oft die Gehwege und Teile der Straße einnähmen. Das Personal der europäischen Botschaften gehe aus Angst praktisch nie vor die Tür. Wenn man sich doch in der Stadt bewege, lasse man sich zum eigenen Schutz von Sicherheitskräften begleiten, jedoch nie von afghanischen, die allgemein als weniger zuverlässig betrachtet würden. Die ISAF-Präsenz sei relativ gering, selbst in der Kabuler Innenstadt. Er selbst habe während seines Aufenthalts im Dezember 2005 dort nur einmal zwei gepanzerte Bundeswehr-Fahrzeuge auf Patrouille gesehen; darin hätten Soldaten gesessen, die sich mit entsicherten Waffen geschützt hätten. Ein weiteres Mal habe er ein US-amerikanisches Fahrzeug gesehen. Diese Auftritte, die sich nicht auf die Randgebiete Kabuls erstreckten, hätten lediglich die Aufgabe, die Anwesenheit der ausländischen Truppen zu demonstrieren, aber sonst keinerlei praktische Auswirkungen.

Auch diese Darstellung von Dr. Danesch wird im Wesentlichen durch das Gutachten von amnesty international vom 17. Januar 2007 (S. 1 ff.) bestätigt. Dort wird die Sicherheitslage in Afghanistan, die sich in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert habe, als prekär bezeichnet. 2006 sei das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban gewesen und die zunehmende Gewalt beschränke sich nicht nur auf den Süden und Osten Afghanistans, die Berichte von Unruhen im Norden und Westen mehrten sich. Die kämpferischen Auseinandersetzungen spielten sich nicht nur in abgelegenen Regionen ab, sondern zum Beispiel im Distrikt Ghazni, ganze zwei Stunden von Kabul entfernt. Diese Gegend entwickle sich zur Zeit immer mehr zu einer "No-Go-Area", und internationale Hilfsorganisationen hätten sich selbst aus der Provinzhauptstadt Ghazni zurückgezogen. Amnesty international hat in seinem Gutachten (vgl. dort S. 2 f.) 26 Bombenanschläge und Selbstmordattentate mit Personenschaden aufgelistet, die sich in der Zeit von Mai bis Dezember 2006 in den Städten Kabul, Mazar-i Sharif, Herat und Kundus ereignet hätten. Bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle seien an der Tagesordnung und würden nicht selten von Angehörigen der Sicherheitskräfte und der Polizei begangen. Rückkehrer aus westlichen Ländern seien besonders gefährdet, Opfer von Diebstählen, Raubüberfällen und Entführungen zu werden, da man bei ihnen Geld vermute."

Aus dieser allgemeinen Situation ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung unter Heranziehung weiterer Erkenntnismittel etwa hergeleitet worden, dass ein 1981 geborener, nach wenigen Schuljahren nur in der väterlichen Landwirtschaft tätiger und im Februar 2003 nach Deutschland eingereister Afghane im Falle seiner Abschiebung das zum Leben Notwendige an Nahrungsmitteln, Unterkunft und medizinischer Versorgung in Kabul nicht aus eigener Kraft sichern könne, deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde, so dass er einer extremen allgemeinen Gefahr ausgesetzt wäre, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Abschiebung verfassungsrechtlich unzumutbar erscheinen lasse (vgl. OVG Rheinl.-Pfalz, Urteil vom 6. Mai 2008 - 6 A 10749/07 - AuAS 2008 S. 188 ff. = juris Rdnrn. 21 ff. m.w.N. auch auf gegenteilige Entscheidungen).

Demgegenüber ist der Senat zwar in seinem Urteil vom 7. Februar 2008 (a.a.O. juris Rdnr. 35) davon ausgegangen, dass ein junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne schwer wiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland dort zwar keine Eingliederungshilfe durch den afghanischen Staat, ausländische Hilfsorganisationen oder die eigene Familie zu erwarten hätte, aber auf Grund seines Lebensalters und des Fehlens familiärer Bindungen mit daraus resultierenden Unterhaltslasten wahrscheinlich in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren, obwohl manche von den Gutachtern mitgeteilte Details auch für die gegenteilige Schlussfolgerung sprächen; daraus lasse sich jedoch nicht die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit ableiten, dass ein solcher Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre. Der Senat sei vielmehr davon überzeugt, dass in Kabul trotz zahlreicher Todesfälle durch Mangelernährung und anderweitige Unterversorgung gerade für junge, arbeitsfähige Männer Überlebenschancen bestünden, auch wenn sie nicht durch eine bedarfsgerechte Ausbildung und familiäre oder sonstige Beziehungen begünstigt würden.

Abgesehen von der - wohl eher zu verneinenden - Frage, ob erst bei einer derartigen Extremgefahr interner Schutz gemäß Art. 8 QRL abgelehnt und damit subsidiärer Schutz nach Art. 15 c QRL gewährt werden kann, kommt vorliegend hinzu, dass der Kläger wegen seiner durch mehrere ärztliche Bescheinigungen nachgewiesenen und von der Beklagten nicht substantiiert bestrittenen Epilepsie-Erkrankung zusätzlich gesundheitlich gefährdet und deshalb auch nur als sehr eingeschränkt arbeitsfähig anzusehen ist, so dass in seinem Fall auch nach den strengen Maßstäben im Senatsurteil vom 7. Februar 2008 sogar die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen sind. Dazu bedarf es entgegen der Auffassung im angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Urteil keiner lebensbedrohlichen Erkrankungsform, es reicht vielmehr unter den allgemeinen Gegebenheiten der Lebenssituation in Kabul aus, dass der Kläger seine medikamentöse Versorgung kaum dauerhaft sicherstellen könnte und nach einem der zwei- bis dreimal monatlich auftretenden Anfälle eine möglicherweise gefundene Erwerbstätigkeit verlieren würde.

Auch wegen dieses Vorliegens der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG war der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 29. Mai 2006 aufzuheben.

Einer Entscheidung über die vom Kläger weiter geltend gemachten europarechtlich determinierten Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG und über das nationale Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG bedurfte es nicht, weil diese mit den hier festgestellten Abschiebungsverboten jeweils einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. Streitgegenstandsteil bilden und keine weitergehenden Rechte vermitteln (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. juris Rdnrn. 11, 13 und 15).

Da der Kläger mit dem Hauptantrag Erfolg hat, ist weder über die von ihm mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten angekündigten und nur hilfsweise gestellten Beweisanträge noch über seinen Hilfsantrag auf Vorlage des Verfahrens zum Europäischen Gerichtshof zu befinden.

Die in beiden Instanzen entstandenen Kosten hat die unterliegende Beklagte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten und über die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10 und § 711 ZPO.

Der Senat lässt die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der oben angesprochenen Fragen zur Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 c QRL zu.

Ende der Entscheidung

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