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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 30.07.2007
Aktenzeichen: 9 TG 1360/07
Rechtsgebiete: AufenthG, AuslG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2
AufenthG § 84 Abs. 1
AufenthG § 84 Abs. 2
AuslG § 12 Abs. 2
VwGO § 80 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 3
VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 4
Auch bei der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bedarf es für die Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO eines besonderen, über das Interesse an der Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis selbst hinausgehenden öffentlichen Vollzugsinteresses (wie Beschluss des Senats vom 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 -, AuAS 1996, 62 zu § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG).

Dieses besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung kann nicht allein damit begründet werden, dass die Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis offensichtlich rechtmäßig ist und ohne deren sofortige Vollziehung die Gefahr besteht, dass die Verkürzung auf Grund der langen Dauer des Klageverfahrens ihre Erledigung findet und damit praktisch leerläuft.


HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS

9 TG 1360/07

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 9. Senat - durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Teufel, Richter am Hess. VGH Heuser, Richter am Hess. VGH Prof. Dr. Fischer am 30. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juni 2007 - 8 G 1498/07(1) - abgeändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 19. März 2007 wird wiederhergestellt, soweit die dem Antragsteller am 27. April 2006 befristet bis zum 26. August 2008 erteilte Aufenthaltserlaubnis nachträglich zum 30. März 2007 verkürzt wurde, und angeordnet, soweit dem Antragsteller die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht wurde.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main ist gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg, da das Vorbringen des Antragstellers, das gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Überprüfung des Senats in diesem Rechtsmittelverfahren bestimmt, eine Änderung der angegriffenen Entscheidung zugunsten des Antragstellers erfordert.

Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne von § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO gegeben ist, das die Anordnung des Sofortvollzugs der nachträglichen Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers durch die Antragsgegnerin in der Verfügung vom 19. März 2007 rechtfertigen könnte.

Die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im überwiegenden öffentlichen Interesse gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO darf grundsätzlich nur dann angeordnet werden, wenn für den Sofortvollzug des Verwaltungsaktes ein besonderes, gerade im Einzelfall bestehendes öffentliches Interesse besteht, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. An dieses - durch die Behörde gemäß § 80 Abs. 3 VwGO zu begründende - besondere öffentliche Interesse sind um so strengere Anforderungen zu stellen, je schwerwiegender die dem Bürger durch den Verwaltungsakt auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23 und 155/73 -, BVerfGE 35, 382 <402>; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 -, AuAS 1996, 62, 63; Beschluss des Senats vom 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 -, AuAS 1997, 134).

Das Vorliegen eines den vorgenannten Kriterien entsprechenden besonderen öffentlichen Interesses ist auch bei der hier in Frage stehenden nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer dem Ausländer erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erforderlich (so zu § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 -, a.a.O.; Hess. VGH, Beschlüsse vom 12. Dezember 1996 - 12 TG 3489/96 -, vom 19. Februar 1997 - 13 TG 257/97 - und vom 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 -, a.a.O., OVG Hamburg, Beschluss vom 1. März 1995 - OVG Bs V 327/94 -, InfAuslR 1995, 314).

Von dem Erfordernis eines den Sofortvollzug rechtfertigenden besonderen öffentlichen Interesses kann im Falle der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nicht etwa deshalb abgesehen werden, weil schon die nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu treffende ausländerbehördliche Entscheidung die Notwendigkeit indizieren würde, diese Beschränkung im überwiegenden öffentlichen Interesse umgehend durchzusetzen und es deshalb ausnahmsweise Feststellungen bezüglich eines besonderen öffentlichen Interesses nicht bedürfte (vgl. zu § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 28. März 1985 - 1 BvR 1245 und 1254/84 -, DVBl. 1985, 669, 670; Beschluss des Senats vom 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 -, a.a.O. ). Ein solches dem Verwaltungsakt immanentes Vollzugsinteresse kann im Falle der zeitlichen Beschränkung der Aufenthaltsgenehmigung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zunächst nicht daraus hergeleitet werden, dass mit dieser Entscheidung alsbald konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abgewehrt werden müssten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1985 - 1 BvR 1245 und 1254/84 -, a.a.O.). Die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer der einem Ausländer erteilten Aufenthaltserlaubnis dient nicht dazu, Gefahren, die mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbunden sein könnten, auszuräumen, sondern dazu, den durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis legitimierten Aufenthalt des Ausländers vorzeitig beenden zu können, weil eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis wesentliche Voraussetzung entfallen ist. Die Vollziehung einer von der Ausländerbehörde nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verfügten nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis ist auch nicht deshalb notwendig eilbedürftig, weil grundsätzlich ein besonderes öffentliches Interesse daran bestünde, Ausländer, die offensichtlich die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels (nicht) mehr erfüllen, alsbald zur Ausreise zu verpflichten.

Ein derartiges Verständnis würde den detaillierten Regelungen des Gesetzgebers im Aufenthaltsgesetz nicht gerecht. Der Gesetzgeber hat in § 84 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ausdrücklich geregelt, dass die nach § 80 Abs. 1 VwGO im Regelfall bestehende aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage dann nicht eintritt, wenn sich die Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung richten. Demgegenüber wird in § 84 Abs. 2 AufenthG ausdrücklich betont, dass es im Falle der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes beendet - beispielsweise der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bei der gesetzlichen Regelung des § 80 Abs. 1 VwGO verbleiben soll, wonach Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung haben. Damit bringt der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck, dass die sofortige Beendigung des Aufenthaltes von Personen, die sich nicht oder nicht mehr im Besitz eines Aufenthaltstitels befinden, stets und ausnahmslos im besonderen öffentlichen Interesse liegt, dass dies jedoch dann nicht gilt, wenn ein Ausländer im Besitz eines Aufenthaltstitels ist und dieser Aufenthaltstitel durch Verwaltungsakt frühzeitig zum Erlöschen gebracht wird (§ 51 Abs. 1 AufenthG). Diese Wertung unterstreicht der Gesetzgeber für die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis dadurch, dass er bei Entfallen einer wesentlichen Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Handlungspflicht der Ausländerbehörde in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht zwingend vorschreibt, sondern die Entscheidung in das Ermessen der Behörde stellt (vgl. insoweit auch Beschlüsse des Senats vom 19. Februar 1997 - 13 TG 257/97 - und 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 - a.a.O., OVG Hamburg, Beschluss vom 1. März 1995 - OVG Bs V 327/94 -, InfAuslR 1995, 314, jeweils zu der früheren Bestimmung des § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG).

Gründe, aus denen sich das mithin erforderliche besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der von der Antragsgegnerin verfügten zeitlichen Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers entnehmen ließen, enthält weder die Begründung des angefochtenen Bescheides vom 19. März 2007 noch die angegriffene erstinstanzliche Entscheidung. Auch sind derartige Gesichtspunkte nicht aus dem Vorbringen der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren oder aus den sonstigen Umständen zu erkennen.

Die von der Ausländerbehörde in der Verfügung vom 19. März 2007 aufgeführte Erwägung, die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei geboten, da dem Antragsteller nach Auflösung der Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau kein Rechtsanspruch auf einen weiteren Aufenthalt zustehe, vermag nach dem oben Gesagten die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht zu rechtfertigen. Es handelt sich dabei um ein Interesse, das nicht über dasjenige hinausgeht, welches an dem Erlass des Verwaltungsaktes als solchem besteht.

Soweit das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit der Überprüfung der Anordnung des Sofortvollzugs ausführt, die angegriffene Verfügung sei offensichtlich rechtmäßig, rechtfertigt dies ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung nicht. Die Annahme einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis bzw. der voraussichtlichen Erfolglosigkeit der dagegen erhobenen Klage ist zwar ein wesentliches Element der im Rahmen der Anordnung der sofortigen Vollziehung vorzunehmenden Interessensabwägung, kann aber die Prüfung, ob überhaupt ein besonderes öffentliches Interesse an dem angeordneten Sofortvollzug besteht, nicht ersetzen (BVerfG, Beschlüsse vom 12. September 1995 - 2 BvR 1179/95 -, NVwZ 1996, 58 und vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 -, a.a.O.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 5. Mai 2000 - 10 B 10645/00 -, juris; Bay. VGH, Beschluss vom 19. Januar 2005 - 10 CS 04.2335 -, juris)

Der vom Verwaltungsgericht zutreffend erwähnte Befund, die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis könne ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung oftmals nicht zeitnah durchgesetzt werden und deren Wirkung werde durch bloße Rechtmitteleinlegung auf ungewisse Zeit, oftmals bis zum Ablauf der "regulären" Aufenthaltsdauer, aufgeschoben, vermag ein besonderes öffentliches Interesse im Sinne von § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ebenfalls nicht zu begründen. Zum einen trifft dieses Argument auf nahezu jede nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis zu. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Einzelfall kann damit also gerade nicht gerechtfertigt werden. Zum anderen verfehlt eine Maßnahme nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ihren Zweck bzw. läuft nicht ins Leere, da nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG die rechtsgestaltenden Wirkungen der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis unbeschadet der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs eintreten (vgl. auch Bay. VGH, Beschluss vom 19. Januar 2005 - 10 CS 04.2335 -, a.a.O.).

Dass die umgehende Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens aus sonstigen Gründen (etwa wegen der Verübung von Straftaten oder des Vorliegens sonstiger Ausweisungsgründe) notwendig wäre, hat die Antragsgegnerin weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren vorgetragen. Auch aus den sonstigen Umständen sind für den Senat derartige Gründe nicht zu entnehmen (vgl. zur Heranziehung von Gründen, die in der Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Behörde nicht genannt sind: Hess. VGH, Beschlüsse vom 12. Dezember 1996 - 12 TG 3489/96 -, vom 13. Oktober 2005 - 9 TG 2552/05 - und vom 4. Januar 2006 - 9 TG 3144/05 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Juli 1994 - 18 B 1171/94 -, NWVBl 1994, 424).

Infolge der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer der dem Antragsteller erteilten Aufenthaltserlaubnis entfällt deren Vollziehbarkeit (§ 58 Abs. 2 AufenthG). Dies hat zur Folge, dass die Voraussetzungen für eine Abschiebung nach § 58 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist, soweit sie sich gegen die in der Verfügung vom 19. März 2007 enthaltene Abschiebungsandrohung richtet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 VwGO und folgt der Streitwertfestsetzung erster Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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